"Das längste Beteiligungsprojekt der deutschen Geschichte"

"Gorleben stoppen": Protest in Berlin, aufgenommen November 2011
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"Gorleben stoppen": Protest in Berlin, aufgenommen November 2011

Die Suche nach einem Endlagerstandort Im Jahr 2011 beschlossen Bund und Länder einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager-Standort in Deutschland. Die Rede war von der "weißen Landkarte". Vor gut zweieinhalb Jahren wurde die Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe von Bundestag und Bundesrat eingesetzt. Ein zentrales Thema der Endlager-Kommission ist die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der neuen Standortsuche. Dazu wurde eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet. Über deren Tätigkeiten und Erwartungen ein Interview mit Jan-Hendrik Kamlage.

Welche Argumente gibt es für Bürgerbeteiligung bei einem Expertenthema wie Atomendlager?

Die Suche nach einem Endlager muss höchsten Erwartungen an Qualität und Glaubwürdigkeit erfüllen, um überhaupt eine Chance auf ein toleriertes Auswahlergebnis zu haben. Warum sollten also überhaupt Bürger und Bürgerinnen beteiligt werden? Im direkten Vergleich zu Verbänden, Wirtschaftsunternehmen und politischen Repräsentanten verfügt eine gut begleitete, heterogene Gruppe aus Laienbürgern über ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Gemeinwohlorientierung. Eine wichtige Ressource für den Prozess, wenn wir davon ausgehen, dass keine der in Frage kommenden Regionen in Deutschland "HIER!" schreien und es wahrscheinlich zu Widerstand und Protest kommen wird. Für mich ist Bürgerbeteiligung daher ein Eckpfeiler des fragilen und von Protest und Widerstand geprägten Prozesses auf dem Weg zu einem Endlagerstandort.

Dann dient die Bürgerbeteiligung  der Legitimität des Prozesses, sie demokratisiert und popularisiert ihn gewissermaßen? Fachleute sind für die technischen, geologischen und finanziellen Fragen zuständig.

Ja, so kann man es sagen. Bürgerinnen und Bürger sind, um es kurz zu sagen, Garanten der Gemeinwohlorientierung und Hüterinnen und Hüter des Beteiligungsprozesses. Evaluationen von komplexen Beteiligungsverfahren wie Planungszellen und Konsensuskonferenzen zeigen uns, dass qualifizierte, heterogene Gruppen von Laien, mit Wissen von Expertinnen und Experten ausgestattet, Bewertungen auf hohem fachlichen Niveau ausarbeiten. Viel besser als andere Gruppen repräsentieren sie dabei allerdings das Gemeinwohl und die Glaubhaftigkeit. Ein Potenzial das nach dem derzeitigen Stand der Planungen wohl weitgehend ungenutzt bleibt.

Inwiefern würden Sie sagen, dass unorganisierte Bürgerinnen und Bürger eher Gemeinwohlinteressen repräsentieren als in z.B. Umweltverbänden organisierte Menschen?

Zufällig ausgewählte Bürgervertreterinnen repräsentieren Gemeinwohlinteressen, wenn die Gruppe in ihrer Zusammensetzung in möglichst vielen Merkmalen wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Einkommen, sozialer Lage der Gesamtbevölkerung entspricht. In aller Regel haben Bürgerinnen und Bürger weniger fixierte Interessen, die sie in einem Beratungsprozess strategisch durchsetzen wollen. In professionell gestalteten und moderierten Dialogverfahren hören sie sich die Erkenntnisse der Experten an und bilden sich im Dialog mit den anderen Bürgern eine fundierte Meinung. In diesem Prozess, der zumeist konsensorientiert abläuft, konstruiert sich eine konkrete Vorstellung des Gemeinwohls. Diese Annährung an ein Gemeinwohl gelingt nur, weil die Bürgervertreter/innen in ihren Interessen weniger fixiert sind als Profis. Die Kraft von verallgemeinerbaren Argumenten verändert die Meinung in der Gruppe und bei den einzelnen Mitgliedern. Reine Not-in-my-backyard-Argumente werden in moderierten Beratungen in heterogenen Gruppen nicht als verallgemeinerbare Argumente anerkannt und entsprechend sind sie nicht mehrheitsfähig.  

Nach welchem Kriterium wird entschieden, was ein guter Standort ist?

Es gibt zwei Arten von Kriterien: Ausschlusskriterien und Abwägungskriterien. Ausschlusskriterien sind naturwissenschaftlich-geologisch fundierte, notwendige Eignungsbedingungen. Diese müssen erfüllt sein. Dazu gehören beispielsweise Eigenschaften des unterirdischen Trägermaterials, Rückholbarkeit des Mülls und vieles mehr. Abwägungskriterien sind dagegen nur hinreichende Bedingungen. Ihre Erfüllung ist wichtig, aber nicht zwingend notwendig. Ein Abwägungskriterium ist zum Beispiel die Akzeptanz in der Region, in der das Lager gebaut wird. Daraus folgt, dass zunächst einmal die Ausschlusskriterien die Auswahl leiten und die grundsätzliche Eignung eines Standortes bestimmen. Erst in einem zweiten Schritt, nachdem die Eignung feststeht, werden die Abwägungskriterien genauer unter die Lupe genommen. 

Worüber können die Bürgerinnen und Bürger konkret entscheiden?

Grundsätzlich gilt: Die Bürger und Bürgerinnen entscheiden nach jetzigem Stand der Debatte über nichts. Die Bürgerschaft soll durch öffentliche Kampagnen und Dialogangebote informiert werden. In den stehenden Gremien des Berichtes, wie etwa den Regionalkonferenzen (Vertretung der regionalen Interessen) und auch dem Nationalen Begleitgremium (Wächter des Beteiligungsprozesses) sind Bürger und Bürgerinnen nicht als eigenständige Gruppe vorgesehen. Ein fundamentaler Fehler, wie ich finde.

Nach einer FORSA-Umfrage von 2014 glaubten insbesondere Grünen-Anhänger/innen, dass die Einsetzung der Kommission eine breite öffentliche Diskussion über die Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle in Gang bringen würden. Ist das passiert?

Nein, leider ist dieser Anspruch bis heute nicht eingelöst und viele Beobachter zweifeln wie ich daran, dass dies noch kommen mag. Zu Beginn der Kommissionsarbeit muss man sagen: Die Kommission musste erstmal lernen, was Beteiligung eigentlich ist. Während der Arbeit wurden dann einige punktuelle Versuche unternommen wie Jugendbeteiligungsworkshop, Expertenanhörungen und Veranstaltungen und andere Sachen mehr. Eine umfassendes und durchdachtes Informations- und Beteiligungsangebot, dass Impulse für eine gesellschaftliche Debatte geliefert hätte, ist dabei nicht entstanden.

 

Dr. Jan-Hendrik Kamlage ist Politikwissenschaftler, Postdoktorand am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, freier Mitarbeiter des European Institute for Public Participation und Erster Vorsitzender des Sozialen Friedensdienstes Bremen e. V. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. im Bereich der Konzeption und  Evaluation dialogorientierter Beteiligungsprozesse, Trassenausbau der Energiewende, Demokratietheorie sowie Bürgerbeteiligung und freiwilliges Engagement.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl.