Auf absehbare Zeit wird die politische Kultur in Bosnien-Herzegowina autoritär bleiben. Große Teile der Gesellschaft streben noch immer nach ethno-nationaler Zuordnung und Sicherheit.
Bosnien-Herzegowina ist nach dem Abkommen von Dayton 1995 mit viel Unterstützung der „internationalen Gemeinschaft“ gestartet: Sie schickte Stabilisierungstruppen, um den fragilen Frieden abzusichern, und richtete das Amt eines „Hohen Repräsentanten“ ein, der die zivilen Angelegenheiten überwachen soll und dafür weitgehende Vollmachten bekommen hat. Für den Wiederaufbau des Landes wurde viel Geld bereitgestellt, die UN und viele Länder engagierten sich mit Beratung und ihren Hilfs- und Entwicklungsorganisationen.
Zwanzig Jahre später ist das Interesse erlahmt. Der nur eingefrorene Konflikt ist lästig, die fehlende Reformbereitschaft der bosnischen Eliten verärgert, von Entwicklung kann keine Rede sein, statt Annäherung gibt es altes und neues Misstrauen. Die Bevölkerung leidet Not und verliert die Hoffnung, dass sich noch etwas zum Guten wendet. Immer öfter ist nicht nur von Krise die Rede, Bosnien gilt manchen schon als „gescheiterter Staat“.
Die Fehlentwicklung ist im Vertrag von Dayton schon angelegt: Mit der im Annex 4 festgelegten Verfassung wurde ein Konstrukt geschaffen, das nationalistische Blockaden ermöglicht und die Entstehung einer demokratischen und multiethnischen Gesellschaft verhindert. Das Land wurde in zwei „Entitäten“ geteilt: die Föderation Bosnien und Herzegowina, in der ganz überwiegend bosnische Kroaten und Bosniaken leben, und die Serbische Republik für die mehrheitlich bosnischen Serben.
Die Entitäten haben weitgehende Autonomie, jeweils einen Premierminister und 16 Ministerien. Die Föderation ist wiederum in zehn Kantone untergliedert, die ebenfalls nach ethnischem Proporz organisiert sind. Der alles überwölbende Zentralstaat Bosnien-Herzegowina hat zwar auch eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament, aber nur wenige Kompetenzen.
Eine nicht verabschiedete Verfassungsreform
Die drei „konstitutiven Völker“ haben nach einem ethnischen Quotensystem Zugang zu Posten und Positionen und eine bedeutende Veto-Macht bei jeder politischen Entscheidung, die zu einer Frage von vitalem nationalem Interesse der jeweiligen Gemeinschaft erklärt wird. Das provoziert Blockaden und erschwert Kompromisse. So bestimmen kurzzeitige parteipolitische oder ethnische Interessen die Politik, eine gemeinsame Vorstellung über die Entwicklung des Landes wurde bisher nicht entwickelt.
Die vorherrschende Identitätspolitik hat zur Folge, dass das System die verschiedenen sozioökonomischen Interessen nicht aufnimmt und repräsentiert. Es reagiert auch nicht auf sich entwickelnde gesellschaftliche Bedürfnisse, sondern erhält autoreferentiell die Dominanz der politischen Eliten, die sich auch wirtschaftlich gut eingerichtet haben: Ein solches System stabilisiert politische Patronage, lässt eine ausufernde, ineffektive Bürokratie entstehen, behindert selbsttragendes Wirtschaftswachstum, macht die Korruption endemisch und führt dazu, dass öffentliche Gelder verschleudert werden. Umgekehrt blockiert es Annäherungen über (ethnische) Grenzen hinweg und lässt moderate Politiker und Politikerinnen in schwachem Licht erscheinen.
Selbst da, wo Veränderungen im Interesse der angestrebten Mitgliedschaft in der EU zwingend notwendig sind, hat sich das System als resistent erwiesen. Bosnien und Herzegowina war bereits 2003 als potentielles Bewerberland für einen EU-Beitritt anerkannt worden. 2009 hatten zwei Bürger des Landes – Jakob Finci, ein bosnischer Jude, und Dervo Sejdic, ein bosnischer Rom – erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt, weil sie aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zu den „konstituierenden Völkern“ als „Andere“ weder für das dreiköpfige Staatspräsidium noch für die zweite Kammer des gemeinsamen Parlaments kandidieren können. Die von der Europäischen Union daraufhin angemahnte Verfassungsreform wurde bis heute nicht verabschiedet.
Dass die EU das bereits 2008 unterzeichnete Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) dennoch zum 1. Juni 2015 in Kraft gesetzt und sich mit einer vagen Absichtserklärung über „Reformen“ zufrieden gegeben hat, ist ein verhängnisvolles Signal. „Die Regierungselite widersetzt sich erfolgreich jeder größeren Veränderung“, beklagt Mirela Grünther-Đečević, ehemalige Direktorin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo. „Wenn die Internationale Gemeinschaft nicht bereit ist für ein stärkeres Engagement in Bosnien und Herzegowina und der bedeutendste Akteur – die EU – keine konsistente Strategie hat und inkonsequent in seinem Handeln ist, sind auch die Politiker/innen im Lande nicht zu Veränderungen gezwungen.“
Das Ziel: Die lokale Bevölkerung über Umweltschutz informieren
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Rolle der „Internationalen Gemeinschaft“ oft sehr konkret – mit soliden Informationen und politischen Analysen – thematisiert und ihre Schwächen und alternative Möglichkeiten aufgezeigt. Hauptziel war es, einen kritischen öffentlichen Dialog und eine direkte Beziehung der internationalen Akteure mit organisierten Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas zu schaffen. Für die Beurteilung der Lage im Land beraten sie sich zwar mit ausgesuchten Organisationen, aber wirklich wichtige Entscheidungen werden fernab von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit getroffen.
Im EU-Integrationsprozess wird die Zivilgesellschaft zwar von der EU unterstützt, diese sieht sie aber mehr als „Dienstleister“ und involviert sie zu wenig in die politischen Debatten und Verhandlungen. Um den lahmgelegten EU-Integrationsprozess „von unten“ anzuregen und dieses Verhältnis aufzubrechen hat die Heinrich-Böll-Stiftung die „Initiative für Monitoring des EU-Integrationsprozesses“ von Anfang an unterstützt. 31 Organisationen erarbeiten gemeinsam Alternativberichte zu den offiziellen EU-Fortschrittsbeurteilungen. Mitglieder der Initiative wurden damit zu wichtigen Ansprechpartnern – sowohl für die Abgeordneten des Europaparlaments und Politiker/innen der EU als auch für einheimische Medien.
Regiert wird – ungeachtet der politischen Orientierung – grundsätzlich intransparent: Die wichtigsten Entscheidungen werden jenseits von Prozeduren und formellen Institutionen, die zumindest teilweise für die Öffentlichkeit zugänglich sind, getroffen. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt deshalb seit Jahren verschiedene Formen des Engagements von Bürgern und Bürgerinnen, um sie in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Im Zentrum des Engagements stand die Beteiligung an Entscheidungsprozessen im Umweltbereich.
Ziel war, die lokale Bevölkerung und die zuständigen Behörden über Umweltschutz und Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung zu informieren und/oder ihre Kompetenzen zu stärken. In der letzten Zeit kam die Bedeutung der Gemeingüter und des öffentlichen Raums hinzu. So entstand je eine Initiative für nachhaltige Stadtentwicklung in Banja Luka und in Sarajevo, die ersten dieser Art im Land. Das Zentrum für Umweltschutz in Banja Luka fungiert auch über die Stadt hinaus als Kompetenzzentrum, wenn es um die Bürgerbeteiligung an der Verabschiedung der Raumplanungsdokumente geht.
Die politische Kultur bleibt autoritär
Die Heinrich-Böll-Stiftung will Einmischung als konstruktive Alternative fördern. Dazu ist Aufklärung der Bürger/innen über ihre Rechte und Wege zu ihrer Durchsetzung besonders wichtig. Nur so können sie Rechenschaft einfordern und Änderungen erwirken, nur so kann der allgemeine Groll gegenüber der Regierung, gegenüber Politikerinnen und Politikern in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Insbesondere werden junge Menschen angesprochen, die am meisten unter der allgemeinen Perspektivlosigkeit und der politischen Apathie leiden und deshalb Neigungen zu radikalen autoritären und gewalttägigen „Lösungen“ entwickeln.
Gleichzeitig werden zivile Akteur/innen in Medienkompetenz und Öffentlichkeitsarbeit geschult, damit sie sich in Konkurrenz zu wesentlich attraktiveren, aber anspruchslosen Inhalten Raum in den Medien und öffentliches Interesse erkämpfen können. Das geht nur über kreative Formen der Zusammenarbeit mit den Medien und Entwicklung eigener Angebote. Mit Projektpartner/innen werden deshalb Radio- und TV-Sendungen konzipiert, die marginalisierte Themen behandeln und mit Expertise punkten.
Neu entstandene Initiativen zeigen, dass die jahrelange intensive Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung keineswegs nur ein Kampf gegen Windmühlen ist, sondern am Ende Früchte tragen kann. Die Initiative for Free Declaration protestierte erfolgreich gegen Formulierungen der Volkszählung von 2013, die für staatsbürgerliche statt ethnische Selbstdefinition nicht genügend Raum ließ. Als Reaktion auf eine Korruptionsaffäre wurde in Banja Luka die Bürgerinitiative „Der Park ist unser!“ gebildet. Die Gruppe, die Gemeingüter vor korruptionsverdächtigen Investitionen schützen wollte, brachte über Monate Tausende „Šetači“ (Spaziergänger) auf die Straße. Auch hat es die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren vermehrt geschafft, ihre Watchdog-Rolle auszuüben.
Auf absehbare Zeit wird die politische Kultur in Bosnien-Herzegowina weiterhin autoritär und kollektivistisch bleiben. Große Teile der Gesellschaft streben – trotz ihres mangelnden Vertrauens in Politiker und Politikerinnen, Parteien und Institutionen – noch immer in ethno-nationaler Zuordnung nach Sicherheit. Das wird sich nur langsam ändern. Dass es geht, sich davon zu lösen und anders zu orientieren, zeigen die vielen Initiativen. Damit es geht, muss EU-Europa nicht die Standards der Beurteilung senken, sondern deren Einhaltung einfordern.
Nur wenige Frauen in der Politik
Ähnlich ist es beim Thema „Frauen in der Politik“. Der Anteil der aktiven Politikerinnen, ohnehin gering, sinkt sogar noch. Zunächst hatte die 1998 eingeführte Quote (30 Prozent) in allen gesetzgebenden Versammlungen für einen starken Anstieg von Frauen in den Parlamenten gesorgt. Das seit 2000 geltende Verhältniswahlrecht mit offenen Listen untergrub dann aber die Wirksamkeit der Frauen-Quote, da die Wählerinnen und Wähler nun Einfluss darauf haben, wer ins Parlament einzieht. Das Wahlvolk will dort vorrangig Männer sehen.
Mit Fortbildungen, Kampagnen und Workshops hat die Heinrich-Böll-Stiftung engagierte Frauen aus NGOs und politischen Parteien zu stärken versucht. Das geschah in Zusammenarbeit mit INFOHOUSE, der CURE-Stiftung und weiteren Partnern. Seit 2011 haben sich 470 Frauen aus 16 Parteien, 20 NGOs und 15 Städten an den Aktivitäten beteiligt. Zur Zielgruppe gehörten insbesondere Frauen und NGOs außerhalb der Hauptstadt, da diese seltener die Möglichkeit haben, an derartigen Projekten teilzunehmen.
Obwohl sich bei den Frauen viel getan hat, kam es geschlechterpolitisch kaum zu Veränderungen. Bei den Lokalwahlen 2012 traten 29 Frauen als Kandidatinnen an, aber nur fünf Frauen wurden zu Bürgermeisterinnen bzw. Gemeindevorsteherinnen ernannt. Bei den nationalen Wahlen 2014 wurde die2013 noch einmal erhöhte gesetzliche Genderquote (40 Prozent) zwar respektiert, so dass auf Wahllisten 42 Prozent Frauen kandidierten, jedoch wurden nur neun in das 42-köpfige gemeinsame Parlament gewählt. Als Konsequenz wurden mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung erstmals Männer aller zwölf parlamentarischen Parteien geschult: mit dem Ziel, Frauen im gesellschaftlichen und politischen Bereich zu stärken. Und das bedeutet zunächst einmal: sie auch zu wählen.
Anderssein mit gleichen Rechten
In einer ohnehin konservativen, nun auch noch vom Krieg gezeichneten, in ethnische Identitäten gespaltenen und wirtschaftlich gelähmten Gesellschaft erfordert es Mut, sich offen zu Homosexualität zu bekennen und Gleichstellung zu fordern. Vom überwiegenden Teil der Bevölkerung werden Schwule und Lesben als „anormal“, als krank erachtet und verachtet. Unterstützt wird diese diskriminierende Haltung von der traditionellen Verbindung nationalistischer politischer Eliten mit ihren jeweiligen Religionsgemeinschaften. Und doch gibt es auch in Bosnien-Herzegowina Menschen, die sich trauen, die sich organisieren und ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger darauf aufmerksam machen, dass zur Demokratie auch Respekt für die „Anderslebenden“ gehört.
Das Landesbüro der Heinrich-Böll-Stiftung hat daher gemeinsam mit den Partnerorganisationen Sarajevo Open Center und der Stiftung CURE ein Projekt gestartet, das für LGBT-Themen sensibilisieren will und gegen Homophobie kämpft. Das 2013 begonnene und von der EU finanzierte Projekt „Coming out! Befürwortung und Schutz der Rechte von LGBT-Personen“ richtet sich erstmals an Beamt/innen, aber auch an Journalist/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft.
Das gemeinsame Ziel der vielfältigen Aktionen besteht darin, die Bedürfnisse und Probleme der LGBT-Gemeinschaft ins Bewusstsein zu rücken und die LGBT-Community insgesamt sichtbarer zu machen, damit die Behörden die Gleichstellung proaktiv unterstützen können. Ca. 1.000 Polizist/innen wurden in Sarajevo im Rahmen ihrer Ausbildung für die Probleme der LGBT-Personen sensibilisiert: Einige, die zum Beginn des Trainings besonders cool auftraten und sich demonstrativ nicht für das Thema interessierten, waren nach dem Kurs wie ausgewechselt.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Für Demokratie - Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt".