
Politische wie wirtschaftliche Krise, Korruptionsskandale und die drohende Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff destabilisieren die Lage in Brasilien heute. Gespräch mit dem Journalisten Luiz Carlos Azenha.
Herr Azenha, Brasilien befindet sich in einer politischen Krise. Große Teile der Bevölkerung verlangen die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff, Partido dos Trabalhadores, oder kurz PT. Was ist passiert?
Die politische Krise in Brasilien geht mit einer ökonomischen einher. Der frühere Präsident Lula da Silva, ebenfalls PT, konnte 2008 wenigstens die größten Auswirkungen der Krise durch öffentliche Investitionen abwenden. Gegenwärtig gelingt dies nicht – deshalb geht Brasilien momentan durch eine schwere wirtschaftliche Krise. Gleichzeitig gibt es Untersuchungen wegen Korruptionsvorwürfen. Es gibt sehr große Baufirmen, die in hohem Maße an der Errichtung der brasilianischen Infrastruktur beteiligt waren. Diesen Firmen gehört im Prinzip das politische System: Sie haben bedeutende Geldsummen dort hineinfließen lassen. Die Mittelschicht in Brasilien ist sehr konservativ und deshalb nicht mit allen Schritten der PT der letzten zwölf Jahre einverstanden, die den Armen einen gewissen Aufstieg ermöglicht haben. Diese Menschen haben nun in begrenztem Maße Zugang zum Konsum – das macht es für die Mittelschicht schwierig, jemanden zu finden, der etwa im Haus putzt, was bisher normal war. Das schürt die Wut der Mittelschicht auf die regierende Arbeiterpartei PT. Da die PT beschuldigt wird, Teil der mafiösen Strukturen des staatlichen Ölkonzerns Petrobras zu sein, hat sich die Mittelschicht nun gegen Rousseff und ihre regierende PT erhoben. Sie verlangen Rousseffs Rücktritt aus der Regierung und arbeiten darauf hin, dass da Silva, der bereits zweimal Präsident war, nicht bei den Wahlen 2018 antritt, weil er reale Chancen hat, diese zu gewinnen. Die Mittelschicht und die Opposition benutzen den Korruptionsskandal, um die PT zu demontieren.
Was wäre das Problem, wenn Rousseff auf Basis der brasilianischen Verfassung ihres Präsidentenamtes enthoben würde?
Die Verfassung sagt, dass Rousseff als Präsidentin zur Verantwortung gezogen werden muss, wenn sie während ihrer Amtszeit einen Gesetzesverstoß begangen hat. Es gibt aber bisher keine Anklage in dieser Richtung. Zwar wird sie politisch beschuldigt, inkompetent zu sein, das reicht aber nicht für ein Enthebungsverfahren. Das ist der Grund, weshalb Regierung, PT und brasilianische Linke von „Staatsstreich“ sprechen. Es wichtig, daran zu erinnern, dass gegen viele derjenigen, welche die Untersuchungen gegen Rousseff anführen, im Korruptionsskandal ermittelt wird. Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff anführt, steht gleichzeitig an der Spitze der Liste der dokumentierten Korruptionsfälle.
Denken Sie, es besteht tatsächlich die Gefahr eines Staatsstreiches?
Ich denke ja. Wenn Rousseff ihres Präsidentenamtes enthoben würde, ohne dass ihr ein Gesetzesverstoß nachgewiesen wird, würde ich von „Staatsstreich“ sprechen. Wenn sie ihres Amtes enthoben würde, würden etwa 30 Prozent der Bevölkerung, die für die PT sind, nicht mehr in der Regierung repräsentiert sein. Wir gehen das Risiko einer sehr instabilen Situation ein, weil dann dieses Drittel die Nachfolgeregierung nicht als rechtmäßig anerkennen würde, besonders die Gewerkschaften und die Linke.
Der Bundesrichter, der die Untersuchung gegen Rousseff anführt, Sergio Moro, hat vor kurzem die Aufnahme eines Gespräches zwischen ihr und Expräsident Lula da Silva ohne Genehmigung veröffentlicht. Sehen Sie die Neutralität demokratischer Organe, wie die der Gerichte, in Gefahr?
Nicht wirklich. Moro ist großer Fan des italienischen „mani pulite“, der Korruptionsuntersuchungen in Italien in den 1990er Jahren. Moro ist nicht mit einer politischen Partei verbündet. Er kommt aber aus der Mittelschicht und denkt wie diejenigen, welche die Regierung fallen sehen wollen – in diese Richtung stößt er. Deshalb handelt er nicht nur wie ein Richter, sondern auch wie ein Politiker. Er hat zum Beispiel veranlasst, dass die Polizei da Silva zu einem mehrstündigen Verhör festgenommen hat – obwohl da Silva nie gesagt hat, dass er sich weigert, mit den Strafverfolgungsbehörden zu sprechen. Moro hat ein Telefongespräch zwischen Rousseff und da Silva aufgezeichnet und an Globo (größtes brasilianisches Mediennetzwerk) geschickt anstatt an den obersten Gerichtshof – das war ungesetzlich. Ich denke, er will nicht nur die PT, sondern das ganze verdorbene politische System zerstören. Er kennt die Fakten und bringt die Beweise ans Licht: Gerade wurde die parallele Buchhaltung eines der größten Bauunternehmen veröffentlicht, das in den Korruptionsskandal verwickelt ist, Odebrecht. Dort wurden die Namen von mehr als 300 Politikern – rechts wie links – gefunden, die Geld von Odebrecht angenommen haben. Ich denke, die meisten Brasilianer würden die Untersuchungen gegen die Korruption begrüßen – wenn sie fair und gegen das komplette politische Spektrum wären. Aber das ist nicht der Fall.
Warum gibt es nur eine Anti-Korruptions-„Kampagne“ gegen die PT – wenn man das so nennen kann – und nicht gegen andere Parteien?
Ich denke, das ist der klassische Kampf zwischen sozialen Klassen. Als da Silva an der Regierung war, hat er immer von einer „Win-Win“- Situation gesprochen: Die Menschen in den untersten Einkommensklassen würden mehr Geld verdienen, könnten dadurch mehr konsumieren und die Reichen würden ebenfalls mehr Geld verdienen, was auch geschah. Da Silva investierte in den Binnenmarkt, erhöhte den Mindestlohn und die brasilianische Wirtschaft wuchs stark. Jetzt haben wir eine ökonomische Krise und es gibt keine Möglichkeit einer „Win-Win“-Situation mehr. Der Kampf geht jetzt darum, wer für die Krise bezahlt. Deshalb wird die Kampagne dazu benutzt, die PT aus der Regierung zu jagen, um sicherzustellen, dass die Krise von den Armen bezahlt wird: durch das Kürzen von Sozialprogrammen, des Mindestlohns, durch Privatisierungen und so weiter. Das ist der Kampf hinter den Kulissen.
Ein Ausblick in die Zukunft: Denken Sie, dass Brasiliens junge Demokratie aus dieser Krise gestärkt hervorgehen wird, oder glauben Sie, das Gegenteil wird der Fall sein?
Das kommt darauf an, was passieren wird. Ich denke, wenn Rousseff unberechtigterweise ihres Amtes enthoben würde, wird Brasilien leiden. Wie bereits gesagt: 30 Prozent der Menschen würden denken, dass es sich dabei um einen sogenannten „konstitutionellen Staatsstreich“ gehandelt habe. Diese Menschen würden nicht mehr an das politische System glauben, in dem Gefühl, dass das System nicht mehr in ihrem Sinne handelt. Brasilien geht ein großes Risiko ein. Wer auch immer als nächstes an die Regierung kommt, findet eine große ökonomische Krise vor, muss mit den Gewerkschaften und so weiter verhandeln. Ich befürchte, dann würde die Demokratie massiv demoralisiert werden.
Luiz Carlos Azenha ist einer der profiliertesten und bekanntesten Journalisten Brasiliens. Er arbeitet als Reporter für den TV-Kanal "Rede Record" und betreibt den vielbeachteten kritischen Blog "Viomundo". Azenha lebt in São Paulo.
Das Gespräch führte Raphael Sartorius 26. März 2016.