
Das Bundesverfassungsgericht hat im Januar 2017 über den Verbotsantrag des Bundesrats gegen die NPD entschieden. Eine Einführung zum Verfahren und seinen Konsequenzen in unserem E-Paper.
Karlsruhe wird 60 Jahre nach dem KPD-Verbot Grundfragen zum demokratischen Selbstverständnis der Bundesrepublik zu beantworten haben. Umfasst die Freiheit des Grundgesetzes auch die Freiheit gegen das Grundgesetz zu sein? Die populäre Formel „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ verneint diese Frage in Bausch und Bogen. Aber sollten Parteien tatsächlich wie zu Zeiten des Kalten Krieges bei Strafe ihres Verbots verpflichtet werden, jederzeit für die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ einzutreten?
Was auf den ersten Blick selbstverständlich erscheint, beschneidet doch massiv politische Freiheit. Diese Beschneidung trifft nicht nur „Extremisten“, sondern legt auch die Axt an die individuellen Grundrechte wie das Persönlichkeitsrecht, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Parteien haben einen schlechten Ruf, aber eine Partei ist nichts anderes, als ein Verein, in dem ich mich mit anderen zusammenschließe, um an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Parteienfreiheit ist die Verlängerung unserer grundrechtlich geschützten persönlichen Freiheit ins Politische. Ein Staat, der dieser Freiheit mit einer erzwungenen Werteloyalität zum Grundgesetz die Spitze abbricht, wird auch vor anderen Grundrechten nicht haltmachen.
Grundlage der Rechtsprechung
Das Bundesverfassungsgericht könnte die NPD auf der Grundlage seiner Rechtsprechung der 1950er Jahre durchaus verbieten. Es würde dann aber in Konflikt mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geraten. Daher meinen die meisten Beobachter, das Bundesverfassungsgericht werde die juristischen Anforderungen an ein Parteiverbot „weiterentwickeln“ und die „Hürden“ höher legen. Wird also das Gericht am ideologischen Staatsschutz festhalten, nach dem bereits die Verfolgung „verfassungswidriger Ziele“ genügt, oder werden die Verfassungsrichterinnen und -richter darüber hinaus ein irgendwie gefährliches Verhalten fordern?
Die Antragsschrift des Bundesrats behauptet, die NPD sei die „Basis“ eines rechtsextremistischen Netzwerks und folgert daraus, dass ihr die Taten parteiungebundener Neonazis zugerechnet werden müssten. Diese Fragen wurden am 28. Oktober 2015 auf Einladung der Amadeu-Antonio-Stiftung, des Bildungswerks weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen und der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin mit Expertinnen und Experten diskutiert:
Die Beiträge dieses Bandes erkunden die Argumentationslinien des Verbotsantrags aus verfassungsrechtlicher, sozialwissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Sicht. Die Thesen von Horst Meier umreißen die verfassungsrechtliche Debattenlage, skizzieren eine restriktive Auslegung des Parteiverbotsartikels des Art. 21 Abs. 2 GG und plädieren für eine rechtsstaatliche Bändigung des ideologischen Staatsschutzes, der es um die Abwehr konkreter Gefahren geht. Johannes Lichdi befasst sich mit dem verfassungsrechtlichen Begriff des „Verhaltens“ der Partei-“Anhänger“ im Verbotstatbestand. Gegen den Verbotsantrag des Bundesrats plädiert er für eine Auslegung, die Handlungen Dritter nur dann als „Anhänger“-Verhalten zurechnet, wenn sie auch wirklich auf rational nachprüfbare Weise von der Partei „bestimmt“ wurden.
Stellt die NPD die Basis eines rechtsextremistischen Netzwerks?
Die Beiträge von Dierk Borstel, Sebastian Striegel, Michael Nattke und Matthias Quent überprüfen die These von der „Basis“-Funktion der NPD für verschiedene ostdeutsche Regionen und Ereignisse. Dierk Borstel beschreibt für Ostvorpommern extrem rechte Familientraditionen, den Zusammenbruch der Landwirtschaft, die mangelnde positive Demokratieerfahrung und das Fehlen einer positiven regionalen Entwicklungsperspektive. Diese sind, so seine Analyse, die Hauptursachen der lokalen Verankerung von Rechtsextremisten, die sich aus allein taktischen Gründen in der NPD organisieren.
Die Befürworter eines NPD-Verbots führen insbesondere die Ereignisse von Tröglitz (Sachsen-Anhalt) und Heidenau (Sachsen) als Beleg für die Notwendigkeit eines Verbots an. Sebastian Striegel beschreibt die Entwicklung der NPD in Sachsen-Anhalt und im Burgenlandkreis. Die Partei - so seine These - sei gar nicht in der Lage, eine Basisfunktion in einem rechtsextremistischen Netzwerk einzunehmen. Der aufsehenerregende Rücktritt des Ortsbürgermeisters von Tröglitz sei eher auf das Versagen der Versammlungsbehörden und die mangelnde Unterstützung vor Ort zurückzuführen, als auf konkrete Bedrohungen durch die NPD.
Michael Nattke behandelt vor dem Hintergrund der Entwicklung der rechtsextremistischen Szene die Entstehung, den Verlauf und die Folgen der Krawalle des Sommers 2015 in Dresden, Freital und Heidenau. Obwohl die NPD im örtlichen und zeitlichen Umfeld als Anmelderin von Versammlungen aufgetreten sei, gebe es keine Belege für eine Steuerung der Krawalle durch die NPD. Vielmehr könnten die Gewalttäter mit einiger Wahrscheinlichkeit bei parteiungebundenen gewalttätigen Rechtsextremisten aus dem Umfeld von Dynamo Dresden vermutet werden.
Am Ende bestimmt die Politik, ob vor Ort eine rechte Hegemonie entstehen kann
Wieso führte eigentlich die Selbstaufdeckung der Terrorbande des „Nationalsozialistischen Untergrunds NSU“ zur Einleitung des NPD-Verbotsverfahrens, wenn nicht einmal die Antragsteller eine Verbindung der NPD mit den Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen behaupten? Matthias Quent stellt vor dem Hintergrund eigener empirischer Forschungen in Thüringen eine Sehnsucht fest, die verstörende Erfahrung einer rechtsextremistischen Partei zu verdrängen. Er kritisiert dies als unzulässigen Versuch einer Auflösung der „demokratischen Ambivalenz“. Der Verbotsantrag wolle eigentlich die sozialen und gesellschaftlichen Ursachen des Rechtsextremismus verdecken. Im Übrigen sei ein Verbot auch nutzlos; die rechtsextremistischen Strömungen suchten sich als innovative soziale Bewegung stets neue Organisationsformen. Ein NPD-Verbot würde die Bewegung daher nicht schwächen, sondern nur unübersichtlicher und militanter machen.
Die Beiträge dieses Bandes zeichnen sich durch einen komplexen und erfahrungsgesättigten Analyseansatz aus. Sie beziehen historische und sozio-ökonomische Ansätze ein, beleuchten auch das Verhalten staatlicher Behörden und örtlicher Amtsträger und klären beispielhaft Einzelereignisse auf. Dabei tritt insbesondere die entscheidende Rolle der Träger des staatlichen Gewaltmonopols und politischer Akteure vor Ort ans Licht. Am Ende entscheiden sie, und nicht Aktionen der Neonazis oder der NPD, ob lokal eine rassistische und extrem rechte Hegemonie entstehen kann. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Komplexität in seiner Beweisaufnahme zum Begriff des „Anhängerverhaltens“ gerecht wird.
Das ist die Einführung unseres E-Papers "Darf die NPD wegen Taten parteiloser Neonazis verboten werden?", das ab sofort zum Download bereit steht.