Kinder als ‚camp coolies‘ in Tamil Nadu

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Die unter 14 Jahre alten Kinder arbeiten mindestens acht Stunden pro Tag für die indische "Weltfabrik"

Indien strebt fieberhaft nach globaler wirtschaftlicher Dominanz. Dabei werden Kinder in Schuldknechtschaft zu austauschbaren Rädchen im Wirtschaftsgetriebe.

Tamil Nadu zählt zu den am weitesten industrialisierten Bundesstaaten Indiens. Dahinter verbirgt sich jedoch die Beschäftigung von mehreren Hunderttausend mittellosen Kindern und Jugendlichen – vor allem Mädchen – in den Spinnereien des Landes. Die Arbeitsbedingungen sind beschämend: Monatelanges Eingesperrtsein und zermürbend lange Arbeitstage. Durch den Einsatz sogenannter camp coolies (Arbeitskräfte, die in werkseigenen Lagern oder Hostels zwangsuntergebracht werden) verletzten die Arbeitgeber zahlreiche Gesetze und zerstören die Kindheit unzähliger Kinder.

Hohe Fabrikwände - oft mit elektrischem Stacheldraht ausgestattet - pferchen die jungen Arbeiter/innen auf dem Werksgelände ein. Die Arbeitgeber verhindern öffentliche Kontrollen ihrer Fabriken durch Aktivisten, Gewerkschafterinnen, Journalisten und Wissenschaftlerinnen. Staatsbeamte hingegen werden nicht daran gehindert, die Fabriken zu betreten und den Gesetzen Geltung zu verschaffen. Ihr tatsächliches Nichthandeln macht sie sowie die politische und administrative Führung des Bundesstaates zu Mitschuldigen dieser massenhaften, an den Kindern begangenen Verbrechen.

Nach Schätzungen von Wissenschaftler/innen, denen es gelungen ist, Kontakt zu den Kindern aufzunehmen, sind rund ein Fünftel der beschäftigten Kinder unter 14 Jahren, deren Anstellung nach den Gesetzen zur Verhinderung von Kinderarbeit untersagt ist. Von Ärzten wird gleichwohl attestiert, dass sie über 14 Jahre alt sind, selbst wenn sie deutlich jünger aussehen. Bei Kontrollen werden sie in Schränken oder verschlossenen Zimmern versteckt. Außerdem wird ihr verfassungsmäßig verbürgtes Recht auf freie allgemeine Schulbildung missachtet.

Keine freien Tage, kaum Lohn, sexuell missbraucht

Bedauerlicherweise dürfen nach indischem Recht nach wie vor Kinder über 14 Jahren beschäftigt werden. Allerdings begrenzt das entsprechende Arbeitsschutzgesetz die Arbeitszeit dieser Jugendlichen auf 4,5 Stunden pro Tag. Die Kinder werden jedoch gezwungen, mindestens acht Stunden pro Tag in den Fabriken zu arbeiten, wobei auch noch zusätzliche Stunden für Reinigungsarbeiten und das Einspringen für andere Arbeiter/innen während deren Essenspausen anfallen. Sie leisten zudem Nachtschichten, obgleich diese illegal sind.

Es gibt keine freien Tage – ein weiterer schwerer Verstoß gegen die Gesetze – und die Arbeitsbedingungen sind gesundheitsschädigend, was wiederum die gesetzlichen Standards verletzt. Die Nettolöhne liegen deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Häufig wird ein rechtlich fragwürdiges Konstrukt bemüht, womit geltend gemacht werden kann, dass es sich nicht um Beschäftigte, sondern um Lehrlinge handelt und diese somit eine Lehrlingsvergütung und keinen Lohn bekommen - nach Abzügen für Essen und Unterkunft.

Auch der körperliche und sexuelle Missbrauch, von dem einige Kinderarbeiter/innen zuweilen berichten, verstößt gegen das Gesetz. Das sogenannte Sumangali-System ermuntert Mädchen, sich ihre Mitgift zu verdienen - auch wenn eine solche mittlerweile verboten ist.

Noch sträflicher ist die Tatsache, dass die Anstellung dieser Kinder eindeutig unter die Definition der ‚Schuldknechtschaft‘ fällt. Eine Beschäftigung wird im Rechtssinne als Schuldknechtschaft angesehen, wenn Arbeit gegen Vorauszahlung oder zurückbehaltenen Lohn verrichtet wird, wenn die Vergütung unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt und wenn die Freiheit der Arbeiter/innen, den Arbeitsplatz jederzeit zu verlassen, eingeschränkt ist.

Alle drei Faktoren kommen bei der Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen in den Spinnereien zusammen. Eltern schicken ihre Kinder zur Arbeit, nachdem sie eine kleine Vorauszahlung bekommen haben. Die Kinder können sodann dem Beschäftigungsverhältnis nicht mehr entkommen, da sie zum Überleben monatlich lediglich einen kleinen Teil ihres Lohns ausgezahlt bekommen - der Großteil wird bis zum Auslaufen ihres Vertrags vom Arbeitsgeber einbehalten.

Eine perfide Form der Vetternwirtschaft

Üblicherweise erstreckt sich der Vertrag auf einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren, und für jeden Tag unerlaubten Fernbleibens vom Arbeitsplatz muss das Kind einen zusätzlichen Monat arbeiten. Aus Angst vor dem Verlust ihres angesammelten Lohns können die Kinder die Arbeit nicht vor Ablauf der Vertragslaufzeit aufgeben. Ihre Freiheit wird zudem dadurch beschnitten, dass sie Pflichtüberstunden leisten müssen und ihnen untersagt wird, das Werksgelände zu verlassen.

Warum wird der Einsatz von in Schuldknechtschaft arbeitenden Kindern und Jugendlichen zu illegalen Bedingungen trotz massenhafter und offensichtlicher Rechtsverstöße und unter Missachtung zahlreicher Arbeits-, Kinderschutz- und Strafgesetze offiziell geduldet? Die Antwort ist einfach: Der Grund ist die korrupte Verbindung zwischen Arbeitsaufsichtsbeamten, Bezirks- und Polizeibeamten, manchmal sogar Richtern, und der politischen Führung. Billige und unterwürfige Arbeitskräfte bedeuten Mitnahmegewinne, die geringer ausfallen würden, wenn – wie es bis in die 1980er Jahre üblich war – Erwachsene und gewerkschaftlich organisierte Arbeitskräfte in diesen Fabriken beschäftigt würden. Diese Gewinne werden mit den für den Gesetzesvollzug zuständigen Beamten geteilt – eine besonders perfide Form der kapitalistischen Vetternwirtschaft.

Was jedoch die stillschweigende, offizielle Unterstützung dieser illegalen Beschäftigungsform weiter begünstigt, ist das derzeitig maßgebliche Modell des globalisierten Wirtschaftswachstums: Danach wird der globalen Wettbewerbsfähigkeit ein höherer Rang zugemessen als der Einhaltung von Gesetzen und dem Wohl unserer Kinder. Indiens aktuelle Hoffnung, China im Wettbewerb um den Titel „Weltfabrik“ zu überholen, hängt letztlich davon ab, inwieweit das Land in der Lage ist, eine unbegrenzte Reservearmee von billigen und unterwürfigen Arbeitskräften bereitzustellen.

Kinderarbeit als Wettbewerbsvorteil

In China können sich Arbeitnehmer zwar nicht gewerkschaftlich organisieren, ihre Arbeitsbedingungen sind jedoch deutlich besser als in Indien: Die Reallöhne chinesischer Arbeiter sind erheblich gestiegen und Formen von Kinderarbeit und Schuldknechtschaft wurden abgeschafft. In Indien hingegen stagnieren die Reallöhne - sogar in Jahren des rasanten Wirtschaftswachstums. Heute streben Großunternehmen in Indien nach einer weiteren Aufweichung von Arbeitnehmerschutzrechten. Aber auch ohne diese sind die meisten Beschäftigten - was Arbeitsplatzsicherheit, Löhne und soziale Absicherung betrifft - schutzlos. Indiens entscheidender Wettbewerbsvorteil, beispielsweise im Textilsektor, beruht jedoch auf der offiziellen Duldung von Kinderarbeiter/innen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen in den Spinnereien des Landes schuften.

Auch viele globale Marken, die ihre Waren aus Indien beziehen, verschließen die Augen vor der Tatsache, dass es die ausbeuterische und illegale Beschäftigung von Kindern ist, die zu niedrigen, wettbewerbsfähigen Preisen führt. Sie sind es, die die höchsten Gewinne aus diesen rechtswidrigen Beschäftigungspraktiken abschöpfen.

Die Kinder, die zu Sklavenarbeit in den gefängnisartigen Werksunterkünften gezwungen werden, gehören meist den bettelarmen Dalit-Familien an, die weder über Land noch Besitz verfügen und von einer schwächelnden ländlichen Wirtschaft zerrieben werden. Aufgrund der Anstellung von Kindern verlieren erwachsene Beschäftigte ihre Arbeit und die Löhne gehen zurück, was die Armut ihrer Kinder verstetigt. Indien strebt fieberhaft nach globaler wirtschaftlicher Dominanz – dabei werden Kinder in Schuldknechtschaft zu austauschbaren Rädchen im Wirtschaftsgetriebe.

Dieser Beitrag erschien zuerst in englischer Sprache am 12. Januar 2016 in "Mint", einer der führenden indischen Wirtschaftszeitungen. Übersetzung: Bettina von Arps-Aubert.