Indien: Der Sieg der Netzneutralität und die soziale Frage

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Indiens neue Internet-Generation

Nach heftigen öffentlichen Debatten hat die indische Telekommunikationsaufsicht das Prinzip der Netzneutralität gesichert und Facebooks „Free Basics“ gestoppt. Doch wird die Entscheidung der sozialen Realität Indiens gerecht?

Nach fast einem Jahr heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen entschied die indische Telekommunikationsaufsicht TRAI (Telecom Regulatory Authority of India) am 8. Februar 2016, dass Providerfirmen den Zugang zu spezifischen Angeboten und Diensten im Internet nicht mithilfe preislicher Differenzierung oder durch Abkommen mit spezifischen Inhalte-Anbietern steuern dürfen. Diese Entscheidung wird zu Recht als Sieg des Prinzips Netzneutralität gefeiert, der aufgrund der Bedeutung Indiens weltweit ausstrahlen könnte. Überdenkt man allerdings ihre Konsequenzen jenseits der erregten Diskussionen, bleiben auch Zweifel, ob die Entscheidung den soziopolitischen Realitäten Indiens wirklich gerecht wird.

Im Laufe des vergangenen Jahres war in Indien eine heftige Debatte über Netzneutralität entbrannt, nachdem zunächst der Telekom-Multi Airtel („Airtel Zero“) und dann vor allem Facebook (zunächst mit „internet.org“, inzwischen „Free Basics“) mit speziellen Angeboten auf den Markt traten. Sie boten einen kostenfreien, aber auf wenige ausgewählte Bildungs- und Nachrichten-Websites beschränkten Internet-Zugang über Smartphones an. Dies richtete sich an die (mindestens) Zwei-Drittel-Mehrheit der rund 1,3 Milliarden Inderinnen und Inder, die das Internet – trotz rasanter Wachstumsraten im Zugang – bislang nicht nutzen. Obwohl internetfähige Geräte und Datentarife im internationalen Vergleich recht günstig zu haben sind, stellen solche Ausgaben für viele Arme in Indien eine echte Herausforderung dar; jegliche Kostenreduzierung ist hier willkommen. Free Basics (Zero Rating) wird inzwischen in rund 35 Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Ozeaniens angeboten.

Free Basics in der Diskussion

Die beteiligten Firmen verfolgen mit der Bereitstellung solcher kostenlosen, stark eingeschränkten Formen des Internet-Zugangs bei aller Rhetorik, die Internetzugang als Menschenrecht reklamiert, eindeutige kommerzielle Interessen: Es geht um die Vergrößerung eigener Marktanteile. Und es geht zugleich auch um die Frage, zu welchen Anteilen ISPs (Internet Service-Provider) bzw. Inhalte-Anbieter Kosten und Gewinne der Netzwerk-Expansion untereinander aufteilen. Dabei kooperiert Facebooks Mark Zuckerberg in Indien mit Reliance, dem großen und umstrittenen Multisektor-Konglomerat des Mukesh Ambani. Zugleich sollten Marktmacht und Kapitalausstattung solcher Unternehmen große Nutzungszahlen erreichen lassen, auch wenn konkrete Daten hierzu kaum zu finden sind.

Man hätte meinen sollen, dass kaum jemand etwas gegen die Bereitstellung eines kostenlosen Internet-Zugangs für arme Bevölkerungsgruppen haben könne, abgesehen vielleicht von einigen Missmutigen, die Free Basics als Einstiegsdroge für Facebook und Internetabhängigkeit im Allgemeinen sehen. Doch verlief die Debatte in Indien – einmal mehr – ganz anders.

Die aktive, breit gestreute Szene des indischen Internet-Aktivismus sieht „Free Basics“ als Angriff auf das Prinzip der Netzneutralität, das für den Erfolg des offenen und demokratischen Internets bis heute wesentlich ist, aber immer wieder in Frage gestellt wird - vor allem durch starke finanzielle Interessen.

Kampagnen und Konsultationen

Das Prinzip der Netzneutralität fordert die Gleichbehandlung aller Daten und verbietet grundsätzlich, den Zugang zu spezifischen Inhalten und Diensten im Internet zu beschleunigen, zu verlangsamen oder zu blockieren. Das Prinzip beschränkt den Spielraum von ISPs, von Inhalte-Anbietern eine Beteiligung an den Kosten für Betrieb und Erweiterung der physischen Netzwerkinfrastruktur zu verlangen; es beschränkt zugleich die Macht großer Inhalte-Anbieter, sich „Überholspuren“ für einen besonders schnellen Zugang zu ihren eigenen Diensten zu schaffen. Konsequenterweise sprachen sich denn auch in Indien viele Repräsentanten kleiner und mittlerer Firmen insbesondere aus den Sektoren Medien und IT deutlich für Netzneutralität aus.

Free Basics wurde mehr und mehr primär als ein Instrument der Unterminierung des Prinzips Netzneutralität durch eine mächtige globale Firma betrachtet. Die Kampagne zur Rettung des freien Internets durch Bewahrung des Prinzips Netzneutralität gewann durch Videos der bekannten Komikertruppe „All India Bakchod“ enorm an Wirkung.

AIB : Save The Internet - All India Bakchod

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Free Basics, so eine andere, weit verbreitete Kritik, sei ein „eingemauerter Garten“, der arme Menschen für dumm verkaufe, indem er ihnen Facebook als „das Internet selbst“ vorspiegele – und all dies allein im Interesse eines Mega-Konzerns.

Die Regulierungsbehörde TRAI initiierte einen breiten Konsultationsprozess, auf den Facebook mit zahlreichen durch Userinnen und Usern weitgehend automatisch generierten Stellungnahmen Einfluss zu nehmen suchte. Mark Zuckerberg, der noch im September gemeinsam mit Indiens Premierminister Narendra Modi bei dessen Besuch in der Facebook-Zentrale im Silicon Valley aufgetreten war, wandte sich zum Jahreswechsel in einer groß angelegten Werbekampagne an die indische Bevölkerung, um für Free Basics als Beitrag zur menschlichen Entwicklung zu werben; ein Verbot würde den Schwächsten in der Gesellschaft schaden. Ohnehin sei Free Basics ein Sprungbrett, um die Möglichkeiten des Internets kennen zu lernen; zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer, so das Argument, würden innerhalb kurzer Zeit auf einen vollwertigen, offenen und von ihnen bezahlten Internetzugang umsteigen.

Es hat Mark Zuckerberg alles nichts genutzt, trotz aller Popularität von Facebook in Indien. Am Ende eines vorbildlich durchgeführten Konsultationsprozesses entschied sich die Aufsichtsbehörde TRAI für eine weitreichende Interpretation des Prinzips Netzneutralität, und gegen Free Basics. Diese Entscheidung ist populär und trifft auf breite Zustimmung in den Medien. Auch international wird sie weithin als große Hilfe bei der Sicherung des globalen Prinzips Netzneutralität gewertet.

Doch wie kommt die Bevölkerungsmehrheit jetzt ans Netz?

Das alles ist ein Erfolg für diejenigen in aller Welt, die ein offenes Internet befürworten. Dennoch bleiben Zweifel, ob TRAI wirklich die beste mögliche Entscheidung getroffen hat, wenn es darum geht, möglichst große Teile der indischen Bevölkerung möglichst schnell ins Netz zu bringen.

Manche Gegnerinnen und Gegner von Free Basics – unter ihnen vornehmlich die Mittelklasse mit unbeschränkten Internet-Zugang – scheinen in paternalistischer Manier davon auszugehen, dass der Gebrauch von Free Basics weniger nützlich oder gar schädlicher sei, als gar keinen Internet-Zugang zu haben. Facebook behauptet das Gegenteil und betont die Sprungbrettfunktion. Die Armen in Indien selbst sind dazu noch von niemandem repräsentativ befragt worden.

Der indische Staat betreibt weitgespannte Distributionssysteme zur Grundversorgung armer Bevölkerungsschichten. Zwei Drittel der Bevölkerung haben Anrecht auf subventionierten Weizen oder Reis aus dem Public Distribution System (PDS), und viele von ihnen erhalten diese Nahrungsmittel auch wirklich, wenn auch oft in unzureichender Qualität. Schaut man auf diese Systeme, erhält man nicht den Eindruck, dass aus Sicht der Betroffenen eine schlechte Versorgung negativer sei als das Fehlen jeglichen Zugangs.

Staatlich subventionierte Internet-Grundversorgung als Alternative

Natürlich betonen auch die Gegner von Free Basics, es müsse darum gehen, möglichst schnell für möglichst viele Menschen in Indien einen Zugang zum offenen Internet zu schaffen. Allerdings sind glaubwürdige Vorschläge, wie man das erreichen kann, eher rar gesät. Der Infosys-Mitgründer und einflussreiche Technologiepolitiker Nandan Nilekani schlug vor, analog zum PDS eine staatlich subventionierte Internet-Grundversorgung mit begrenztem Datenvolumen (aber offen für das gesamte Netz) einzurichten, doch dürfte solch ein Plan kaum finanzierbar sein. Es wird sich zeigen, ob sich nach der jüngsten Entscheidung der Regulierungsbehörde TRAI private Firmen finden, die beispielsweise werbefinanziert freien Internetzugang ermöglichen; angesichts der geringen Kaufkraft der avisierten Bevölkerungsgruppen erscheint dies aber nicht einfach.

Die Regulierungsbehörde TRAI hat sich vorbehalten, ihre jüngste Entscheidung in spätestens zwei Jahren einer Überprüfung zu unterziehen. Dies ist gut, denn es schafft einen Spielraum zur Erprobung alternativer Ansätze. Vielleicht lassen sich ja auch Regeln für das Netz formulieren, die dessen Neutralität auf Ebene von ISPs und Inhalte-Anbietern sichern, aber Ausnahmen für einen kostenlosen, eingeschränkten Zugang für Endnutzer erlaubt. In der jüngsten, politisch aufgeladenen Debatte in Indien scheint die Diskussion solcher Ansätze nicht möglich gewesen zu sein, aber das muss ja nicht so bleiben.

So wichtig der jüngste Sieg des Prinzips Netzneutralität in Indien ist, so wichtig ist es jetzt, dass die Debatte über die Zukunft des Internets in Indien ihren blinden Fleck verliert: die soziale Frage, die der politische Aktivismus der Internet-versorgten Mittelklasse im Eifer des Gefechts schon mal übersieht.