„Die Realität ist immer krasser“

Lesedauer: 8 Minuten
Boot an der Küste

Ruben Neugebauer ist Aktivist und festes Mitglied der Gruppe Peng! Collective. Zwischen 2013 und 2015 hat er mehrere Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) maßgeblich mitorganisiert. Selbst würde er sich aber nicht als Künstler bezeichnen. Er bevorzugt das direkte Engagement: Auf dem durch Spenden finanzierten Rettungsschiff „Sea-Watch“ hat er mit seinen Mitstreiter/innen im Sommer 2015 vor der libyschen Küste über 2.000 Geflüchteten aus Afrika das Leben gerettet.

Wir haben mit ihm über seine jüngsten Erfahrungen bei der Seenotrettung vor der griechischen Insel Lesbos gesprochen – und über den Sinn und Unsinn von Aktionskunst und Theater in Zeiten massenhaften Sterbens.

Du kommst gerade aus Lesbos zurück, wie ist es Dir ergangen?

Auf Lesbos haben wir weniger technische Probleme als bei unserem Einsatz mit der „Sea-Watch“ vor der libyschen Küste. Wir besitzen ein wendiges Schnellboot und die Situation ist berechenbarer. Täglich im Morgengrauen kommen die ersten Boote an, oft zehn gleichzeitig, man kann die Uhr nach ihnen stellen. Und im Herbst waren die Wetterbedingungen gut.

Seit dem Abkommen der EU mit der Türkei, gegen Geld die Ablege-Strände dicht zu machen, hat sich die Situation für die Flüchtenden verschärft. Bis dahin kannten wir die Route, die sie einschlugen. Jetzt sind sie gezwungen, längere Überfahrten und mehr Seegang in Kauf zu nehmen und Nachtfahrten zu riskieren. Die Sterberate geht wieder in die Höhe.  

Eine politische Entscheidung, die sich in der Realität von Tausenden umgehend konkretisiert.

Ja. Die Geschichte lehrt aber, dass sich Migration nicht aufhalten lässt. Unsere Seenotrettung hat meine Einschätzung der Lage der Geflüchteten bestätigt. Man muss sich nur die Boote anschauen, wie schlecht die zum großen Teil sind. Niemand würde da einsteigen, der nicht wirklich in Not wäre. Jeder Europäer müsste sich das mal aus nächster Nähe ansehen.

 

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Aber das Internet ist voll mit Fotos. Jeder kennt die schockierenden Bilder.

Es ist ein Unterschied, ob du die Menschen vor Dir hast und ihre Angst spürst, siehst, wie sie dehydriert sind und dann mit ihnen acht Stunden ausharrst und auf Hilfe der Bundeswehr wartest – oder ob du das Medium dazwischen hast. Erst wenn man selbst Entscheidungen treffen muss, gibt es ein Verständnis davon, worum es hier geht. Nur ein Beispiel: Ich hatte die Einsatzleitung vor Lesbos und wir trafen auf ein Boot, das bereits sank. Sie hatten noch Fahrt, waren aber völlig überladen und mussten hinten schon schöpfen. Der Strand war noch ca. eine Meile entfernt und es waren viele Kinder an Bord. Ich musste innerhalb von Minuten entscheiden: Soll ich die Menschen an Bord nehmen? Gehe ich das Risiko einer Übergabe ein? Dabei kommt es häufig zu Unfällen, gerade wenn Panik ausbricht. Oder lasse ich sie weiterfahren, in der Hoffnung, dass sie die letzte Meile schon überstehen?

Schaust Du vom Strand von Lesbos, also vom äußersten Rand des Kontinents aus, anders auf Europa?

Ja. Man darf die Schuld nicht den Schleppern zuschieben, sondern in erster Linie der europäischen Politik der Abschottung. Die ganzen sogenannten Grundwerte können wir uns schon lange stecken. Sie werden täglich verraten. Und Seenotrettung ist natürlich nicht die Lösung. Wir doktern an Symptomen rum. Wir brauchen legale Einreisewege: Jeder der verfolgt wird und ein Grundrecht auf Asyl hat, sollte ein Flugticket bekommen.

Eigentlich darf ein Asylsuchender auch ohne Visum nicht davon abgehalten werden, in ein Flugzeug nach Europa zu steigen. Aber es gibt eine EU-Direktive, dass die Fluggesellschaften und Fährbetreiber die Passagiere selber prüfen und später auch für die Abschiebekosten aufkommen müssen, wenn ein Asylgesuch doch abgelehnt wird. Das riskieren die natürlich nicht. Die Politiker*innen betreiben ein Outsourcing von Verantwortung. Haben die nicht mal auf die Verfassung geschworen? Letztendlich spielen wir in Europa Gott: Wir nehmen uns heraus zu entscheiden, wer ein Recht auf Leben hat, und wer nicht.  

In Europa leben 750 Millionen Menschen. Es gibt nicht mehr als eine Handvoll Initiativen der privaten Seenotrettung. Ihr lebt vor, dass es nicht unmöglich ist. Interessiert Dich auch der Punkt der persönlichen Aktivierung?

Was wir tun, ist nur eine Möglichkeit der Hilfe. Andere Leute tun andere Dinge. Viele engagieren sich. Den Nazi-

aufmärschen und Höckes dieser Welt steht eine große Gruppe ehrenamtlicher Helfer*innen gegenüber, die sich nicht beirren lassen. Aber natürlich stellen wir uns die Frage, warum gucken so viele andere weg? Alle wissen Bescheid. Aber es nur zu wissen reicht eben nicht.

Ihr habt ein Gummi-Boot in der Spree vor dem Reichstag zu Wasser gelassen und Bundestagsabgeordnete eingeladen, eine Runde darin zu drehen.

Diese Aktion wurde als Demonstration missverstanden. Wir hatten aber weder Banner noch irgendwelche konkreten Forderungen. Wir wollten, dass die Politiker*innen am eigenen Leib erfahren, was es heißt, mit 120 anderen zusammengepfercht auf einem Boot zu sein. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie dabei nicht ihr Leben riskieren. Es waren auch drei Geflüchtete mit auf der Spree, die in einem ähnlichen Boot das Mittelmeer überquert haben. Die Abgeordneten sollten diese Enge spüren, wir wollten einen Kontakt erzwingen. Eine Dame von den Grünen hat weinend das Boot verlassen.

Aber natürlich erreichst du mit einer Inszenierung nie die Realität. Die ist immer krasser. Das Schauspielhaus Bochum hat im September letzten Jahres eine Art Re-Enactment versucht: Passanten konnten sich in einen Lastwagen einsperren lassen - exakt dasselbe Modell wie bei der Tragödie in Österreich, als 71 Geflüchtete erstickten. Es hat dafür auch viel Kritik gehagelt, man hörte etwa den Vorwurf falscher Empathie. Ich fand die Aktion super. Wer sich da aus dem Fenster lehnt und pöbelt, soll mir erstmal zeigen, was richtige Empathie ist. Er oder sie soll Aktionen machen, damit überhaupt niemand mehr in so einen LKW rein muss.

Ist es nicht trotzdem ein zweifelhaftes Einfühlungstheater, das da gespielt wird?

Der Unterschied zu unserer Aktion in Berlin ist vielleicht, dass wir uns durch unsere Arbeit auf hoher See eine Street-Credibility erarbeitet haben, die Theaterleute vielleicht so nicht mitbringen. Aber wer bin ich, das zu beurteilen? Wir haben natürlich auch Schelte bekommen, ein FDP-Europaabgeordneter hat uns Zynismus vorgeworfen. Ausgerechnet. Als ob diese Partei nicht an den Fluchtursachen eine Mitschuld tragen würde.  

Du begrüßt Aktionen, die Aufmerksamkeit generieren und die die Vorstellungskraft beflügeln. Sind das die beiden Felder, in den ihr mit dem Peng! Collective unterwegs seit?

Unsere Arbeit mit der „Sea-Watch“ auf dem Mittelmeer dient der Beruhigung unseres Gewissens. Jeder, der durch uns überlebt ist ein Erfolg, klar. Aber es sind ja konkrete Gesetze und Direktiven, die verändert werden müssen, damit die Seenotrettung über kurz oder lang überflüssig wird. Dafür braucht es eine politische Willensbildung, eine Sensibilisierung und Aktivierung. Das ist das Arbeitsfeld von Peng! Außerdem ist Aktionskunst Depressionsprophylaxe. Sie bedeutet Spaß und Genuss. Ich tendiere außerdem zum Optimismus. „Wir schaffen das!“

Peng! Collective sucht nach Möglichkeiten, seine Aktionen langfristig zu finanzieren. Die erste wirklich stattliche Summe von insgesamt 180.000,- Euro kommt jetzt nicht von NGOs oder einer politischen Stiftung, sondern von der Kulturstiftung des Bundes als Kunstförderung und einem Stadttheater. Irritiert Dich das?

Die Eröffnungs-Performance im Schauspielhaus Dortmund fühlte sich für mich an wie eine Zwangsheirat, ohne sich vorher ausreichend kennenzulernen. Als Aktionskünstler*innen bzw. Aktivist*innen haben wir versucht, eine Theaterbühne zu bespielen. Aber es gibt einen Grund, warum es Leute gibt, die das gelernt haben. Ich tue ja auch nicht, so als könnte ich plötzlich ein vier Sterne-Menü zaubern.

Ich glaube dennoch, dass die Kooperation für uns wertvoll sein wird. Das Schauspielhaus hat Ressourcen und verkörpert eine Haltung, die uns politisch nahe ist.

Ich freue mich darauf, Aktionen zu planen und das auch mit Schauspieler*innen und anderen Expert*innen aus dem Ensemble. Bei unserer Aktion „Vattenfake“ (2015) habe ich mich beim Spielen vor laufender Kamera nicht gut gefühlt, das hätte bestimmt ein Profi besser hinbekommen. Aber auch ein Profi muss die Zeit haben, sich das Hintergrundwissen anzueignen. Beim „Europäischen Mauerfall“ mit dem ZPS haben Schauspieler*innen Interviews gegeben, ohne von uns ausreichend vorbereitet worden zu sein. Das ist nach hinten losgegangen.

Man braucht für solche Aktionen Probenzeiten mit den Schauspieler*innen wie zu einer Bühneninszenierung, damit  letztendlich alle an einem gemeinsamen Strang ziehen. Sie müssen die Freiheit und Zeit haben, eine Eigenmotivation für die Aktion zu entwickeln.

Im Theater gibt es alle sechs Wochen für das Ensemble ein neues Thema, und es ist wichtig für die Premiere eine gute Stilnote zu bekommen. Wir Aktivist*innen versuchen immer erst, das Inhaltliche perfekt hinzukriegen. Wir schreiben ausgefuchste Reden, organisieren dann aber eine furchtbar langweilige Latschdemo und tragen die Texte grauenhaft vor. Wenn man bedenkt, dass die Bewertung der Qualität einer Rede zu 90 Prozent von dem „Wie“ der Performance bestimmt wird, dann sollten auch Aktivist*innen sich um ihre Stilnote mehr Gedanken machen.

Das Interview führte Alexander Kerlin. Dieser Beitrag ist Teil der Publikation Theater trifft Aktion - Ein Update zum Verhältnis von darstellender Kunst und Aktivismus.

Mehr Infos: www.sea-watch.org