Ein neuer Versuch für eine Friedensordnung in Europa

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KSZE-Konferenz, Unterzeichnung der Schlussakte in Helsinki 1975 - vlnr: Bundeskanzler Helmut Schmidt, Erich Honecker, Gerald Ford, Bruno Kreisky

Neuerdings ist viel von „Helsinki II“ die Rede. Es darf dabei nicht um eine Revision von „Helsinki I“ gehen, sondern um eine Weiterentwicklung auf der Basis der damals vereinbarten Grundsätze. Ein Kommentar.

Am 1. August 1975 wurde in Helsinki die KSZE-Schlussakte unterzeichnet. Die damals in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zwischen der Sowjetunion und dem Westen ausgehandelten Leitlinien für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sind für die aktuelle russische Politik offenbar kein Bezugspunkt mehr. An ihre Stelle ist eine seit dem Kalten Krieg nicht mehr dagewesene Spannung zwischen Russland und dem Westen getreten, die im Konflikt um die Ukraine kulminierte. Ob die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des „Islamischen Staats“ in Syrien zu einer Wiederannäherung führt, wird sich zeigen.

Die Frage bleibt, auf welchen Grundlagen eine Rückkehr zur Kooperation stattfinden soll: Welche Regeln für die internationale Politik sollen in Zukunft gelten? Neuerdings ist viel von „Helsinki II“ die Rede. Aus unserer Sicht kann es dabei nicht um eine Revision von „Helsinki I“ gehen, sondern nur um eine Weiterentwicklung auf der Basis der damals vereinbarten Grundsätze.

Die Helsinki-Schlussakte formuliert zwei grundlegende Prinzipien: erstens die souveräne Gleichheit aller europäischen Staaten. Dazu zählt auch das Recht auf territoriale Integrität. Grenzen können nur auf friedlichem Wege und im Einverständnis aller Seiten geändert werden. Es gibt keine bevorrechteten Staaten „erster Klasse“ und nachgeordnete Staaten „zweiter Klasse“, denen nur eine begrenzte Souveränität zukommt. Zweitens den Verzicht auf Gewalt oder Gewaltdrohungen. Gewalt soll als Mittel europäischer Politik unterbunden, kein Staat soll durch den Einsatz von oder die Drohung mit Gewalt an der vollen Ausübung seiner Souveränitätsrechte gehindert werden. Dazu gehört auch das Recht jedes Staates, seine Bündnisse frei zu wählen. Weitere Eckpfeiler der Schlussakte sind die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt, Kultur und in humanitären Fragen. Auch diese Verpflichtungen bleiben hochaktuell als Teil einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung.

Weshalb konnte das KSZE-Regime die russisch-ukrainische Krise, die das ganze europäische Sicherheitssystem bedroht, nicht verhindern? Russland trägt, indem es die Krim annektiert und den Separatisten im Südosten der Ukraine massiv geholfen hat, zweifelsohne die größte Verantwortung für die aktuelle Zuspitzung. Die Erosion der kooperativen Sicherheitsordnung in Europa begann aber bereits mit den jugoslawischen Zerfallskriegen. Sie setzte sich fort im russisch-georgischen Krieg von 2008. Dazu kommen die eingefrorenen Konflikte in Transnistrien und Nagornyj Karabach.

Die Helsinki-Prinzipien bilden aus unserer Sicht immer noch das Fundament für eine europäische Friedensordnung. Woran es fehlt, sind Mechanismen und Instrumente, die in konkreten Konfliktlagen greifen. Das betrifft vor allem den neuen Typus von Konflikten, die seit den neunziger Jahren Frieden und Sicherheit in Europa gefährden. Konkret: Ein destabilisierender Faktor der internationalen Ordnung sind innerstaatliche Konflikte, in denen eine ethnische Minderheit ihre Rechte für verletzt erklärt und einen eigenen Staat (oder den Anschluss an einen Nachbarstaat) fordert. Soll die aus der KSZE hervorgegangene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter bestimmten Voraussetzungen eine vermittelnde Rolle bei der Lösung solcher Konflikte spielen? Falls das akzeptiert wird, sollte eine Prozedur zur Konfliktmoderation ausgearbeitet werden, die in einem Zusatz zur Schlussakte verankert wird.

Ein zweites Konfliktfeld betrifft das Recht aller OSZE-Mitglieder, „internationalen Vereinigungen anzugehören oder nicht anzugehören, Teilnehmer bilateraler oder multilateraler Verträge zu sein, Bündnisverträge eingeschlossen; sie haben auch das Recht auf Neutralität“. Das Recht auf freie Bündniswahl darf nicht in Frage gestellt werden. Es gehört zum Kern gleicher Souveränität. Zugleich ist offensichtlich, dass ein Bündniswechsel oder der Beitritt eines zuvor neutralen Staates zu einer suprastaatlichen Allianz die Interessen dritter Staaten betrifft. Daraus können, wie die jüngste europäische Geschichte zeigt, gravierende Konflikte entstehen. In einer solchen Situation könnte ein institutioneller Mechanismus für die Abstimmung gegenseitiger sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessen deeskalierend wirken.

Darüber hinaus sollte ein verbindlicher Konsultationsmechanismus zwischen den Unterzeichnerstaaten der KSZE-Akte eingerichtet werden, der im Fall akuter, die europäische Sicherheit bedrohender Krisen an der europäischen Peripherie greift. Das Beispiel Syrien zeigt die Notwendigkeit eines solchen Mechanismus, um ausgelagerte Konflikte zwischen OSZE-Staaten zu vermeiden. Schließlich sollten auch weitere Staaten die Möglichkeit erhalten, sich dem Helsinki-Abkommen und seiner Fortschreibung, der Charta von Paris, anzuschließen und damit den europäischen Raum der Sicherheit und Zusammenarbeit zu erweitern. Dafür sollte ein entsprechendes Verfahren erarbeitet werden – im Prinzip dem ähnlich, das bei der EU-Erweiterung angewandt wird.

Diese Vorschläge sollen die Helsinki-Deklaration und die Charta von Paris nicht ersetzen, sondern ergänzen. Sie wären keine Garantie für die Vermeidung künftiger Konflikte in Europa, könnten aber einen Prozess institutioneller Konfliktprävention und eine neue Dynamik der Zusammenarbeit in Gang setzen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der FAZ.