Die kanadischen Wahlen 2015: Die Macht der "Ethnischen Stimme"

Canada Day 2014

Die Präsidentschaftskandidaten wissen, dass sie ohne die Unterstützung der Einwanderercommunities nicht gewinnen können. Warum haben die Einwanderer/innen so großen Einfluss? Über das Phänomen der "sichtbaren Minderheit".

Ebenso wie US-amerikanische Präsidentschaftskandidaten - mit der allbekannten Ausnahme von Donald Trump - wissen, dass sie nicht ohne die Stimmen der ethnischen Minderheiten gewinnen können, kann man auch vor den bald stattfindenden kanadischen Parlamentswahlen verfolgen, wie sich die Parteien beharrlich um die Unterstützung von Kanadas Minderheiten- und Einwanderergruppen bemühen. Wie die kanadische Tagezeitung "Toronto Star" schon Ende 2014 vorhersagte, sind "die Hauptschlachtfelder 2015 dort zu finden…wo sich die Einwanderer in Kanada ihr neues Zuhause aufgebaut haben."

Doch was sind eigentlich Kanadas Einwanderergruppen und wieso haben sie einen so großen Einfluss auf die Wahlen am 19. Oktober? Nach einer jüngeren Analyse der kanadischen Tageszeitung "The Globe and Mail" machen in 18 der 338 "Ridings" (Wahlbezirke) Kanadas sogenannte "sichtbare Minderheiten einen Anteil von 50 bis 70 Prozent aus" und weitere 15 "weisen einen Anteil von mehr als 70 Prozent an sichtbaren Minderheiten auf."  (Der Begriff "sichtbare Minderheiten" wird einzig im kanadischen Kontext verwendet und deckt sich stark mit Kanadas Einwanderergruppen.) Experten wenden ein, dass diese Minderheiten- und Einwandererbevölkerungen keine klare Parteienloyalität aufweisen. Doch mit der sogenannten "Ethnischen Stimme" zum Greifen nah, preschen die drei Hauptparteien - die regierenden Konservativen (oder Tories), die Liberalen und die Neue Demokratische Partei (NDP) - vor, um diesen entscheidenden Teil der kanadischen Wählerschaft für sich zu gewinnen.

Kanadas Einwanderergemeinschaften

Kanada ist eines der wenigen Länder der Welt, in dem eine einwanderungsfreundliche Politik über den Großteil des politischen Spektrums hinweg befürwortet wird. In den 1960er Jahren führte das Land als erstes das qualifikationsorientierte Punktesystem ein, durch welches sich Einwanderer anhand von objektiven Werten der Kategorien Sprachkenntnisse, Arbeitserfahrung, Bildung und Familienbeziehungen in Kanada für Aufenthaltsgenehmigungen qualifizieren konnten. Das neue System sollte die frühere Rassenpolitik korrigieren, die Chinesen und andere Asiaten explizit ausschloss. Vor den 1960er Jahren wurden auch Juden als unerwünscht angesehen: Der Satz "keine sind noch zu viele", der von einem Einwanderungsbeamten 1945 in Bezug auf jüdische Einwanderer verwendet worden sein soll, beschrieb auch treffend die Politik seitens der Regierung. Heute dient dieser bekannte Satz als Gedächtnisstütze an alles, was Kanada nicht sein möchte.

In den letzten Jahrzehnten haben das überarbeitete Punktesystem und gewollt hohe Einwanderungszahlen - 250.000 während der letzten 15 Jahre - Kanada zu einem der gastfreundlichsten Einwandererziele unter den Industrienationen gemacht. Laut offizieller Regierungsstatistiken wurde einer von fünf Kanadiern im Ausland geboren, "der höchste Anteil unter den G8-Ländern." Zum Vergleich: Der im Ausland geborene Bevölkerungsanteil Deutschlands und der USA beläuft sich auf wenig mehr als einer von zehn (12,9 Prozent und 12,5 Prozent).

Diese Bejahung von Einwanderung und Multikulturalismus hat auch zu einer bemerkenswert vielfältigen Einwandererbevölkerung geführt. Heute kommen gut die Hälfte aller neuen Einwanderer aus Asien und dem Mittleren Osten; Europäer bilden den zweitgrößten Anteil. Der Großteil der ausländischen Bevölkerung lebt in Kanadas städtischen Zentren, 60 Prozent in politisch wichtigen Wahlbezirken in Toronto, Montreal oder Vancouver.  

Der politische Einfluss der Einwanderer erstreckt sich weit über bloße Quantität hinaus: In der Wahl 2011 wurden 42 ausländische Parlamentsmitglieder - das sind 13 Prozent des Unterhauses - aus allen fünf Hauptparteien gewählt. Und diese ausländischen Parlamentsmitglieder weisen wiederum in sich eine bemerkenswerte Diversität auf: 15 kommen aus Europa, 11 aus Asien, 11 aus Nord- oder Südamerika und 5 aus Africa.

Das Wahlverhalten der Einwanderergruppen in der Vergangenheit

Historisch gesehen unterstützten ausländische Kanadier meist die Liberale Partei. Unter dem ikonischen ehemaligen Premierminister Pierre Trudeau, der Kanada während eines Großteils der 1970er Jahre regierte, sorgte die liberale Befürwortung einer multikulturellen Nationalpolitik für die Unterstützung der kanadischen Einwanderergruppen.

Doch während der Wahlen 2011 vollzog sich eine bedeutsame Verlagerung der "Ethnischen Stimmen". Es kam zu einem großen Sieg der Konservativen; gleichzeitig waren die Wahlen 2011 das erste Mal, dass die Liberale Partei weder die Regierung noch die offizielle Opposition bildete. Letztere wurde nun von der NDP repräsentiert. In einem Interview mit dem Herausgeber des "Wall Street Journals" Gerard Baker im September 2014, schrieb der kanadische Premierminister Stephen Harper den erdrutschartigen Sieg seiner Partei der ausländischen Wählerschaft zu: "Der Zuwachs zum kanadischen Konservatismus, unsere Wahlunterstützung, beruht zu einem Großteil, nicht vollständig, aber zu einem Großteil darauf, dass wir die Wähler mit Migrationshintergrund erreicht haben ... die sogenannten kulturellen Gruppen", sagte Harper.

Somit ist es kein Wunder, dass die Tories in 2015 die jährliche Einwanderungszahl von 250.000 auf einen neuen Rekord von 285.000 angehoben haben.

Die Einwanderungspolitik der Konservativen

Im Gegensatz zu den USA und dem Großteil der restlichen Welt geht es bei Kanadas Einwanderungsdiskussionen nicht um eine Drosselung der Einwanderungszahlen. Stattdessen versuchen sowohl die Liberalen als auch die Konservativen seit 2003 neu zu organisieren, welche Einwanderer in Kanada aufgenommen werden und setzen den neuen Fokus auf sogenannte "ökonomische" Einwanderer.

Im Mittelpunkt von Harpers aktuellen Reformen steht das neue Schnelleinreiseverfahren – das sogenannte "Express Entry System". John Ibbitson, ein Journalist der Tageszeitung "The Globe and Mail" und Senior Fellow am Center for International Governance Innovation, weist darauf hin, dass das neue Verfahren vielmehr einem beruflichen Einstellungsverfahren ähnelt: Statt Punkte für Sprachkenntnisse, Bildung, familiäre Beziehungen und Berufserfahrung zu erhalten und dann aufgrund eines objektiven Cut-off-Wertes zugelassen zu werden, bewerben sich Einwanderer nun darum, in einen Kandidatenpool aufgenommen zu werden. "Diejenigen, die dem Bedarf auf dem kanadischen Arbeitsmarkt am besten entsprechen", erklärt Ibbitson, werden dann "dazu eingeladen, mit einem Langzeitvisum nach Kanada einzureisen."

Das neue Verfahren wird deutlich schneller sein, da es die Bearbeitungszeit auf maximal sechs Monate reduziert, und es könnte wirtschaftlich gesehen Sinn machen. Doch einige fürchten, dass dadurch auch Vorurteile wieder einen Weg in den Einwanderungsprozess finden. Zum einen gibt das neue Verfahren Bürokraten und dem privaten Sektor deutlich mehr Macht bei der Selektion von Kandidaten. Diejenigen, die von Provinzregierungen ausgewählt werden oder Stellenangebote vorzuweisen habe, werden deutlich höhere Chancen auf ein Langzeitvisum haben, was Verzerrungen im beruflichen Bewerbungsverfahren erlaubt, die bestimmte Bewerber auf ungerechte Weise bevorzugen könnten. Eine Kritik im "Economist" zitierte die Sorgen von kanadischen Einwanderungsbeamten, dass das neue Verfahren vermehrten Betrug nach sich ziehen könnte, da es erlaube, dass „nichtexistente Arbeitgeber den Freunden und Familien von kanadischen Einwohnern fiktive Stellen anbieten.“ Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass eine Verknüpfung von Einwanderungserlaubnis und Arbeitgebern das Risiko von Missbrauch erhöhe. Andere wiederum führen an, dass die neue Bevorzugung von ökonomischen Einwanderern die Priorität von Familienzusammenführungen senke.

Formung einer konservativen Wählerschaft?

Harpers Kritiker wenden ein, dass diese Reformen teilweise eine politische List seien. "Gebildet, englisch- oder französischsprachig oder beides, selbstständig, in der Lage, sich nahtlos in die Erwerbsbevölkerung zu integrieren ohne die Hilfe der Regierung in Anspruch nehmen zu müssen - diese 'Bootstrap-Einwanderer', wie man sie auch nennen könnte, wählen wahrscheinlich tendenziell die Konservativen", sagt Ibbitson. Tatsächlich beschleunigt die Politik der Konservativen vielleicht nur bereits vorhandene Entwicklungen: In einem Interview mit der Internetplattform "New Canadian Media" bemerkt Phil Triadafilopoulos, Professor an der Universität Toronto, dass "Daten jüngster kanadischer Wahlstudien durchweg zeigen, dass sichtbare Minderheiten und Einwanderer tendenziell konservativer bezüglich kontroverser gesellschaftlicher Probleme denken, als nicht-sichtbare Minderheiten und nicht-ausländische Kanadier."

Trotzdem unterscheiden sich im Großen und Ganzen die Parteien hinsichtlich der Einwanderungspolitik nicht genug voneinander, um diese zu einem wesentlichen Thema in den Wahlkampagnen zu machen. Wie Triadafilopoulos bemerkt: "Kanada nimmt bezüglich des Entpolitisierungsgrades der Einwanderungspolitik einen einzigartigen Platz unter den Haupteinwandererstaaten ein, und Einwanderung selbst wird von den politischen Parteien auf Bundesebene auf enthusiastische Weise befürwortet." Während alle Parteien aktiv um die "Ethnischen Stimmen" konkurrieren, sind sich alle einig, dass sich "populistische Anti-Einwanderungsrhetorik auf Bundesebene politisch nicht auszahlen würde."

Stimmen der indigenen Bevölkerung

Interessanterweise schließt das Bemühen um Einwanderer und "sichtbare Minderheiten" auch das neuerliche Werben der Liberalen und der NDP um Stimmen der in der Vergangenheit verdrängten indigenen Gemeinschaften  ein.  In der Vergangenheit lag die Wahlbeteiligung unter Wählern der indigenen Völker 15 bis 20 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Doch dieses Jahr versammeln Anführer der First Nations ihre Gemeinschaftsmitglieder zur Wahl und erinnern sie daran, dass "[die indigene Wählerschaft] in einundfünfzig Wahlbezirken den Unterschied zwischen Mehrheits- und Minderheitsregierung bedeuten könnte." Sie ermahnen sie außerdem dazu, zu "zeigen, dass unser Volk eine Rolle spielt ... [und] unsere Anliegen nicht einfach abgetan werden dürfen."

Unterstützt wird dieses Bemühen von Ashley Callingbull-Burnham, der ersten kanadischen und ersten indigenen Frau, die den Mrs. Universe-Wettbewerb gewann. Nach ihrem Sieg im August diesen Jahres wirkte Callingbull-Burnham auf die Wähler der Ureinwohnervölker ein, die konservative Regierung zu verdrängen: "Diese Regierung wurde gebildet, um gegen uns, nicht für uns zu arbeiten", sagt sie und erinnert ihre Gemeinschaft daran, sich für die Wahl zu registrieren und für ihre Anliegen zu kämpfen. Wie die anderen Anführer der Ureinwohnervölker auch, fordert sie von den Politikern, dass die vermissten und ermordeten indigenen Frauen, das Wohnungsproblem, Umweltsorgen und Bildung und Kulturförderung der First Nations auf politischer Ebene angesprochen werden.

Der Führer der Neuen Demokratischen Partei Thomas Mulcair, sowie der Kandidat der Liberalen Justin Trudeau, haben sich auf die Gelegenheit gestürzt, Stimmen dieser Minderheitswählerschaft zu gewinnen. Beide wandten sich im vergangenen Juli an die Versammlung der First Nations und versprachen, sich den wichtigsten Anliegen der Gemeinschaft zu widmen. Mit harter Kritik an dem "einseitigen Top-Down Ansatz" der konservativen Regierung versprach Trudeau eine neue Investition von 2,6 Milliarden US-Dollar in den K-12-Bildungsbereich (primärer und sekundärer Bildungsbereich) der First Nations im ersten Mandat einer liberalen Regierung, sowie 500 Millionen US-Dollar für die Bildungsinfrastruktur der First Nations. Währenddessen hat Mulcair versprochen, im Verlauf der ersten 100 Amtstage eine Untersuchung zu den beinahe 1200 vermissten und ermordeten indigenen Frauen anzuordnen - ein Thema, dem zu widmen sich die Tory-Regierung beständig geweigert hatte.

Und was bedeutet all das für die Wahlen?

Nur wenige Tage vor den Wahlen scheinen die Konservativen an Boden zu gewinnen, doch noch ist es offen welche Partei die nächste Regierung bilden wird. Sicher ist jedoch, dass in den diesjährigen Wahlen sowohl die 6,8 Millionen ausländischen Kanadier als auch die 1,4 Millionen von den Ureinwohnervölkern abstammenden Kanadier eine entscheidende Rolle im Erfolg der siegreichen Partei spielen werden.

 

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