Eine neue Systemkonkurrenz?

Heinrich-Böll-Stiftung, Außenpolitische Jahrestagung
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Es geht in der Frage um eine geoökonomische Konkurrenz, sagt Volker Stanzel auf dem Podium der 16. Außenpolitischen Jahrestagung

Wie können demokratische Ideen in autoritären Ländern unterstützt werden? Dies diskutieren Expert/innen auf der 16. Außenpolitischen Jahrestagung vom 18. Juni 2015. Bericht von der Auftaktveranstaltung.

Hätte dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi bei dessen Staatsbesuch am dritten Juni in Berlin der rote Teppich ausgerollt werden sollen? Die Diskussion über die scheinbar rein protokollarische Frage erinnerte vor wenigen Wochen daran, wie schwer sich liberale Demokratien wie Deutschland heute in ihrem Umgang mit autoritären Staaten tun, denen wie im Fall Ägypten gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Dabei geht es längst nicht mehr nur um den Vorwurf, dass westliche Regierungen ihre gern beschworene wertegebundene Politik der Demokratie und Menschenrechte nur verfolgen, solange andere außen- und sicherheitspolitische Interessen nicht berührt sind. Heute steht zunehmend das Konzept liberaler Demokratie selbst auf dem Prüfstand, das nach dem erklärten Sieg im Kalten Krieg und der Proklamation vom "Ende der Geschichte" eigentlich unangreifbar schien. Sollten die USA und Europa angesichts dieser neuen Herausforderung ihr außenpolitisches Ziel eines Demokratieexports vollends aufgeben und eine illusionslose Realpolitik betreiben? Oder gilt es trotz aller Widerstände und Widersprüche umso mehr, die Normen und Werte der Demokratie, die eben nicht nur westliche, sondern universale Gültigkeit haben sollen, auch international hochzuhalten?

Auf der öffentlichen Auftaktveranstaltung der 16. Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Juni 2015 in Berlin gab es auf diese Frage in einer angeregten Diskussion gegensätzliche Antworten. Dass Einfluss und Durchsetzungskraft westlicher Außenpolitik grundsätzlich abgenommen habe, wurde aber von nahezu allen Gästen eingestanden. Dies gilt offenbar nicht nur für die mittlerweile diskreditierte "Peitsche" einer neokonservativen Politik des "Regime-Change" und eines State-Building unter westlicher Anleitung. Auch das "Zuckerbrot" einer Entwicklungshilfe unter politischen und ökonomischen Auflagen findet international immer weniger Abnehmer. Die Förderung demokratischer Strukturen und aktiver Zivilgesellschaften in autoritären Staaten, soll sie denn weiterhin ein Ziel westlicher Außenpolitik bleiben, wird unter diesen Umständen neue Wege finden müssen.

Die neue Systemkonkurrenz

Die Hoffnung auf eine ungebrochene Fortsetzung der 1990 ausgelösten vierten Demokratisierungswelle ist heute vielerorts  der Ernüchterung gewichen. Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, eröffnete die Jahrestagung dann auch mit einer ersten Bestandsaufnahme dieses Irrtums, der zuletzt unter anderem durch die Rückschläge des Arabischen Frühlings bestätigt wurde. Die Autokratie, die unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges fast als Übergangsstadium betrachtet wurde, habe sich international als offenbar dauerhafte Herrschaftsform "sui generis" etabliert, so Fücks. Es könne durchaus von einer "Systemkonkurrenz" gesprochen werden, deren Analyse allerdings durch die neuen "Grauzonen" zwischen Demokratien und Autokratien erschwert werde. Viele autoritäre Regierungen hätten eine Fassade nomineller demokratischer Institutionen errichtet, um zu verdecken, dass von einer freiheitlichen politischen Kultur im Land keine Rede sein könne. Ungarn oder die Türkei seien dagegen Beispiele für Länder, die aufgrund autoritärer Tendenzen mit neuen Begriffen wie "defekte Demokratien" beschrieben werden. 

Ralf Fücks erinnert daran, dass der Westen in den vergangenen Jahren tatkräftig mitgeholfen habe, die eigene Anziehungskraft und Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft zu untergraben. Autoritäre Herrscher könnten auf den Irak-Krieg, Folterskandale oder eine massenhafte Überwachung der Bevölkerung verweisen, um westlichen Regierungen mit einiger Berechtigung vorzuhalten, es mit den Menschen- und Bürgerrechten selbst nicht allzu genau zu nehmen. Die Finanzkrise von 2008 mit ihren bis heute spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen habe auch in Europa zu einer neuen Ungleichheit und einer vermeintlichen Alternativlosigkeit politischen Handelns geführt. Das Vertrauen in die eigene demokratische Gestaltungskraft sei deshalb spürbar erschüttert, so Fücks.

Vor diesem Hintergrund werden China, Russland und andere Autokratien vielerorts als durchaus stabile und wirtschaftlich erfolgreiche Alternativen zum westlichen Modell angesehen. China wurde von Ralf Fücks dabei als größer "Gegenspieler" benannt, da Peking das Modell eines autoritären Modernisierungsregimes unter Verweis auf die unbestreitbaren wirtschaftlichen und sozialen Erfolge besonders offensiv vertrete. Kritik am Regime werde von den herrschenden Eliten regelmäßig zurückgewiesen, da demokratische Reformen angeblich die Stabilität des Landes untergraben und zum "Chaos" führen würden. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung akzeptiere diese Argumentation offenbar, eine Art der Legitimation, die auch in Ländern wie Russland und Ägypten zu beobachten sei.

Dass der Westen diese öffentliche Unterstützung für nichtdemokratische Regierungen nicht leichthin abtun sollte, wurde an diesem Abend besonders von Rahul Sagar hervorgehoben. Der Politikwissenschaftler vom Yale NUS College in Singapur forderte die Regierungen liberaler Demokratien auf, mehr Verständnis für die Lebensumstände und Interessen nichtwestlicher Länder aufzubringen. Im Fall China würde so schnell erkannt werden, dass das Selbstverständnis zuallererst von der eigenen historischen Erfahrung geprägt sei, zu der auch der westliche Kolonialismus gehöre. Sagar zufolge glaubten viele Chinesen, dass es an der Zeit sei, dass ihr Land als große Zivilisation endlich eine angemessene Position in der Welt einnehme. Westliche Kritik wirke vor diesem Hintergrund häufig als verdeckter Versuch, China auf diesem Weg zu behindern, insbesondere wenn die Vorwürfe in einer als heuchlerisch empfundenen Werterhetorik daherkämen.

Als zweite Lehre für westliche Beobachter nichtdemokratischer Staaten wie China wies Rahul Sagar auf den Umstand hin, dass eine Mehrheit der Bevölkerung unmittelbare Bedürfnisse habe, die für sie wichtiger seien als politische Werte, Pressefreiheit oder ein allgemeines Wahlrecht. Der chinesischen Regierung sei es in den vergangenen 20 Jahren zum Beispiel gelungen, 300 Millionen Menschen aus der absoluten Armut zu führen. Freiheit werde in China und anderen Ländern Asiens vor diesem Hintergrund häufig nicht in abstrakten Worten, sondern im Kontext der alltäglichen Erfahrung interpretiert, und hier seien materielle Sicherheit, Arbeitsplätze, staatliche Dienstleistungen und Wohlstand für viele von größerer Bedeutung. Dies bedeute keineswegs, dass demokratische Grundrechte unwichtig seien oder Demokratie grundsätzlich abgelehnt werde. Allerdings werde vom Westen erwartet, dass er die unterschiedliche Prioritätensetzung respektiert und nicht belehrend auftritt, so Sagar in seiner "Ermahnung zur Demut" (Ralf Fücks).

Die Geopolitik ist zurück

Im chinesischen Selbstverständnis als internationale Großmacht ist der Anspruch auf eigene Einflusszonen Rahul Sagar zufolge fest verankert. Auch Russland, die andere autoritär regierte Großmacht im aktuellen öffentlichen Fokus, sieht im Konflikt in der Ukraine ureigene sicherheitspolitische Interessen berührt. Die neue Systemkonkurrenz erstreckt sich damit offenbar nicht nur auf Institutionen und Werte, sie betrifft auch vermeintlich etablierte Normen internationaler Beziehungen. Diese Herausforderung des internationalen Systems hat dem Konzept der Geopolitik neue Prominenz verschafft. Für viele deutsche Politiker und Akademiker sei diese Debatte immer noch etwas ungewohnt, war der Begriff doch lange Zeit im "Giftschrank" verschlossen, wie die Moderatorin Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik, anmerkte. Vielleicht hatte die Heinrich-Böll-Stiftung die beiden Grundsatzreden des Abends gerade deshalb zwei Experten anvertraut, die die internationalen Machtverhältnisse aus einer realpolitischen Perspektive analysierten.

Walter Russell Mead, Politikwissenschaftler vom Bard College in New York, stellte zunächst fest, das von einer "Rückkehr" der Geopolitik streng genommen keine Rede sein könne, da die geopolitischen Systembedingungen auch nach 1990 nicht einfach verschwunden seien. Länder wie China, Russland und Iran hätten den Status Quo des von den USA dominierten internationalen Systems nie akzeptiert, ihre neue politische und wirtschaftliche Stärke ermögliche nun die "Rebellion". Dabei gehe es den historischen Imperialmächten weniger darum, die USA als globale Ordnungsmacht abzulösen. Ihr Ziel sei vielmehr, die sicherheitspolitischen Verhältnisse in ihrer Nachbarschaft, also in Ostasien, in Osteuropa bzw. Zentralasien sowie im Nahen Osten zu ihren jeweiligen Gunsten zu ändern. Der Iran profitiere dabei vom Umfeld geschwächter Nachbarstaaten und habe trotz internationaler Sanktionen den größten Zuwachs an Einfluss zu verzeichnen. China sei dagegen von starken Nationen wie Japan oder Vietnam umgeben und stoße bei seiner regionalen Machtpolitik auf großen Widerstand, was die Gefahr einer militärischen Eskalation in den Raum gestellt habe.  

Im Fall Russland bemängelte Walter Russell Mead, dass die geopolitische Machtposition Moskaus im Westen immer noch unterschätzt werde. Präsident Putin sei es gelungen, einen relativ starken russischen Staat zu schaffen. Er profitiere in seinen Bemühungen um eine machtpolitische Neuordnung der russischen Peripherie von Nachbarstaaten mit geschwächten staatlichen Institutionen. Zugleich glaube Putin nicht ganz zu Unrecht, einem politisch und wirtschaftlich angeschlagenen Europa gegenüberzustehen, das offenbar nicht bereit sein werde, für die Sicherheit der östlichen Bündnispartner in den Krieg zu ziehen. Bisher hätten weder die EU noch die NATO eine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, wie sie auf "hybride" Militäroperationen russischer Soldaten oder russische Separatistenbewegungen in Ländern wie Estland reagieren sollten. Wenn der Westen in dieser Konfrontation bestehen wolle, dürfe er die Macht Russlands nicht herunterspielen und müsse zugleich zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Handlungsoptionen kommen.

Der von Walter Russell Mead erläuterte Angriff autoritärer Staaten auf das internationale Normengerüst wurde auch von Herfried Münkler als besorgniserregendes Problem gekennzeichnet. Chinas Vorgehen sei durchaus mit der deutschen Strategie vor 1914 zu vergleichen, als das Kaiserreich die Weltmacht Großbritannien durch den Aufbau einer "Risikoflotte" zur Aufgabe seiner machtpolitischen Dominanz zwingen wollte. Heute wolle China die amerikanische Dominanz in Ostasien in ähnlicher Weise brechen, so der Politikwissenschaftler von der Humboldt-Universität zu Berlin.

Europa wiederum müsse sich in seiner Peripherie vom Balkan über Nordafrika und die Levante bis zum Kaspischen Meer mit der Gefährdung der eigenen Sicherheit und des bestehenden Ordnungsrahmens auseinandersetzen. Die Auflösung der Sowjetunion, des Osmanischen Reiches und der jugoslawischen Föderation hätten hier "postimperiale Räume" geschaffen, die von oft ethnisch und konfessionell geprägten Konflikten geprägt seien. Die allererste sicherheitspolitische Aufgabe der Europäischen Union müsse sein, eine Diffusion dieser Konfliktherde und damit einen verheerenden "Flächenbrand" zu verhindern, so die unmissverständliche Mahnung des Politikwissenschaftlers.

Dabei muss Herfried Münkler zufolge auch in Betracht gezogen werden, dass sich die Ordnungsmacht USA zunehmend in Richtung Pazifik orientiere. Europa werde bei der Stabilisierung seiner Peripherie weitgehend auf sich selbst gestellt sein. Erschwert werde die Situation durch die neuen politischen Zentrifugalkräfte in der EU, die seit der Finanzkrise 2008 wieder heterogener werde. Deutschland werde hier zunehmend die schwierige aber notwendige Rolle des europäischen "Zuchtmeisters" zufallen. Eine Kooperation mit autoritären Regimen dürfe in diesem schwierigen Umfeld nicht unter einen Vorbehalt der Demokratieförderung gestellt werden und müsse im Zweifelsfall auch gegen den Protest von Nichtregierungsorganisationen durchgesetzt werden. Die Stabilität Ägyptens und die Zusammenarbeit mit Russland seien für Europa aus strategischer Sicht von größerer Bedeutung als demokratische Reformen in diesen Ländern, stellte Münkler nüchtern fest.

Stabilitätspolitik geht nicht ohne Kompromisse

Sollten liberale Demokratien unter den von Walter Russell Mead und Herfried Münkler geschilderten Umständen den außenpolitischen "Leitstern Wertesystem" (Sylke Tempel) aufgeben? Ralf Fücks wandte sich gegen die Vorstellung, dass es sich hier um "idealistischen Klimbim" handele. Das Ziel, den internationalen Kreis der Demokratien zu erweitern, sei selbst interessensgeleitet, da es auch um internationale Stabilität und Sicherheit gehe: Das Argument, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, sei immer noch zutreffend.  

Dem wollte auch Walter Russell Mead nicht widersprechen. Mead wandte sich gegen die Vorstellung einer scharfen Abgrenzung zwischen Real- und Wertepolitik und erinnerte daran, dass die USA nach 1945 und während des Kalten Krieges neben harter Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion auch die Entwicklung eines demokratischen Westeuropas ermöglicht hätten. Europa sei deshalb auch ein "Liebesbrief" Amerikas an die Welt. Trotz der manchmal notwendigen Aufgabe idealistischer Positionen bleibe die Förderung friedlicher liberaler Demokratien das Ziel der USA, so Mead.

Herfried Münkler vertrat dagegen die Ansicht, dass der Westen in seiner Außenpolitik genauer zwischen Werten und Normen unterscheiden sollte. Es sei ein Fehler anzunehmen, dass westliche Werte global die gleiche Bedeutung hätten wie in liberalen Demokratien. Die Einhaltung international geltender Normen müsse dagegen auch gegenüber autoritären Ländern eingefordert werden, um gefährliche Präzedenzfälle zu vermeiden, die die internationale Ordnung insgesamt unterminieren. So sei es z.B. völlig richtig, die russische Übernahme der Krim als völkerrechtswidrige Annexion abzulehnen.

Der Fall Ukraine demonstriere allerdings auch, dass eine Durchsetzung internationaler Normen oft auf erhebliche Hindernisse stoße. Die pragmatische Antwort müsse hier lauten, auf einen Kompromiss hinzuarbeiten, der nicht nur die eigenen Interessen widerspiegelt. Eine "saubere Lageanalyse" müsse auch die Interessen anderer Mächte und die Grenzen des eigenen Durchsetzungsvermögens berücksichtigen, so Münkler. Die EU habe dies im Vorfeld der Ukraine-Krise versäumt und deshalb eine "geopolitische Dummheit" begangen. Russland sei für die EU zweifelsohne von größerer strategischer Bedeutung als die Ukraine. Nach Ansicht von Münkler wird deshalb kein Weg daran vorbeiführen, russische Sicherheitsinteressen in der Ukraine anzuerkennen und den Konflikt zunächst "einzufrieren". Dieser Plan müsse auch gegenüber der Ukraine durchgesetzt werden. Kiew verfolge gegenwärtig im Osten des Landes eine Strategie, die nicht dem europäischen Interesse einer Deeskalation diene. Die Grenzen der europäischen Solidarität müssten deshalb deutlicher artikuliert werden. Weitere Solidaritätsadressen und Beschwörungen demokratischer Werte würden in diesem Zusammenhang der eigenen Glaubwürdigkeit Münkler zufolge eher schaden, da Europa weder bereit noch in der Lage sei, für die Ukraine in einen militärischen Konflikt mit Russland zu treten.

Die Notwendigkeit eines sicherheitspolitischen Interessenausgleichs wurde von Volker Stanzel bekräftigt. Der ehemalige deutsche Botschafter in Japan und China war der Ansicht, dass die neue geopolitische Rivalität zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten möglicherweise besser als "geoökonomische" Konkurrenz betrachtet werden sollte. Die Eliten in Peking und Moskau denken Stanzel zufolge in erster Linie in den Kategorien von Geld und Macht. Der wirtschaftliche Aufstieg des eigenen Landes werde als wichtige Vorbedingung einer stabilen Regierungsgewalt betrachtet. China und Russland agierten deshalb weniger ideologiegetrieben als pragmatisch. Westliche Demokratien sollten hier einen Ansatz für Gespräche, Verhandlungen und im Fall gemeinsamer Interessen auch der Kooperation erkennen, so Stanzel.

Wertepolitik - ein Selbstgespräch des Westens?

Die von Herfried Münkler und Volker Stanzel geforderte Kompromissbereitschaft gegenüber angeblich stabilen und pragmatischen Autokratien stieß in der Diskussion auch auf Ablehnung. Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen, verglich autoritär regierte Länder mit AKWs: Alles erscheine stabil, tatsächlich drohe allerdings immer der GAU. Auch mit der These vom russischen Pragmatismus konnte Göring-Eckardt nicht viel anfangen. Putin agiere in der Ukraine keineswegs pragmatisch, sondern lege ein fast schon religiös anmutendes Hegemoniebestreben an den Tag. Das von Münkler geforderte westliche Entgegenkommen würde dazu führen, dass die Ukraine zum russischen Pufferstaat wird. Europa dürfe seine internationale Glaubwürdigkeit nicht nur durch die Aufgabe eigener Grundsätze aufs Spiel setzen, so die Grünen-Politikerin.

Sylke Tempel und Constanze Stelzenmüller von der Brookings Institution in Washington warnten davor, die westliche Selbstkritik zu weit zu treiben. Die universale Anziehungskraft der Demokratie sei ungebrochen, die EU selbst sei mit ihren liberalen Prinzipien und demokratischen Grundrechten für die benachbarten Länder vor allem aufgrund ihrer "soft power" immer noch sehr attraktiv. Lähmende Selbstzweifel und ein völliger Verzicht auf eine wertegeleitete Außenpolitik würden diesen großen Vorteil aufs Spiel setzen und wären damit auch sicherheitspolitisch riskant. Den Einwand Herfried Münklers, dass symbolische Gesten wie der demonstrative Verzicht auf einen roten Teppich für autoritäre Herrscher auf Staatsbesuchen keinerlei Einfluss auf die Politik autoritärer Regierunen hätten, wollten sie dabei nicht gelten lassen. Sylke Tempel meinte, dass es Deutschland nur wenig gekostet hätte, beim Berlin-Besuch des ägyptischen Präsidenten den Begriff "Putsch" zu nutzen oder offene Kritik an den massenhaften Todesurteilen gegen Anhänger der Muslimbruderschaft zu üben. Auch hier gehe es neben einer möglichen Einflussnahme vor  allem um die eigene Glaubwürdigkeit.

Auf die wachsenden Zweifel an dieser westlichen Glaubwürdigkeit wies einmal mehr der asiatisch-amerikanische Politikwissenschaftler Rahul Sagar hin. Der Westen könne international kaum als überzeugender Verteidiger universeller Werte auftreten, wenn diese in der eigenen Politik nur selektiv beachtet würden. Auch die Grünen überschätzten zudem bei ihren Analysen autoritärer Staaten immer wieder den gesellschaftlichen Einfluss von Aktivisten mit westlichem Demokratieverständnis. Dies habe u.a. dazu geführt, dass der Arabische Frühling im Westen völlig falsch eingeschätzt worden sei. Viele Menschen in der Region hätten ein ethnisches oder stammesbezogenes Verständnis von Demokratie, das vorläufige Scheitern einer Demokratisierung nach westlichem Vorbild sei deshalb kaum überraschend.

Trotz seiner Kritik lehnte Rahul Sagar eine Außenpolitik der Demokratieförderung nicht grundsätzlich ab. Ein "dogmatisches" Auftreten werde westlichen Regierungen allerdings keinen neuen Einfluss verschaffen. Die Welt warte keineswegs darauf, vom Westen gerettet zu werden. Stattdessen plädierte der Politikwissenschaftler für langfristig wirkende Maßnahmen, die demokratische Ideen in autoritären Ländern indirekt unterstützen. So könnte der Westen seine Immigrationsgesetze lockern, um wie in früheren Jahrhunderten zu einer Flucht- und Wirkungsstätte für ausländische Aktivisten zu werden. Damit könnte ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch in Gang gesetzt werden, der nach Sagars Überzeugung effektiver sein würde als belehrende Forderungen nach demokratischen Reformen.