Proteste gegen Korruption: Was bringt “La Linea“?

„Wir haben nicht zu wenig Geld - sondern zu viele Diebe“
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„Wir haben nicht zu wenig Geld - sondern zu viele Diebe“

Nach einem Korruptionsskandal in der Zollbehörde in Guatemala protestierten Tausende gegen Korruption und die Verfilzung der Regierung mit der Organisierten Kriminalität. Ein Interview mit Helen Mack und Alejandra Gutierrez über die Ereignisse in Guatemala.

Im April 2015 wurde in Guatemala der Korruptionsskandal “La Linea“ (die Linie, die Grenze) bekannt, der Korruptionsfälle beim guatemaltekischen Zoll aufdeckte, die bis in die höchsten Staatsebenen reichten. Er war der Auslöser dafür, dass am 25. April 2015 erstmals Tausende in Guatemala-Stadt gegen Korruption und die Verfilzung der Regierung mit der Organisierten Kriminalität protestierten. Seitdem wiederholen sich diese Proteste Samstag für Samstag, sowohl in Guatemala Stadt als auch in den anderen Städten des Landes. Schon nach kurzer Zeit musste die Vizepräsidentin Guatemalas, Roxana Baldetti, zurücktreten. Auch der Rücktritt des Präsidenten Otto Perez Molina wird gefordert. Dieser konnte sich bislang auch dank der eindeutigen Unterstützung der USA - der US-Botschafter in Guatemala ließ sich mehrfach demonstrativ mit ihm ablichten - im Amt halten.

Am 8. Juni lud die Heinrich-Böll-Stiftung in El Salvador die Menschenrechtlerin und Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises Helen Mack, Alejandra Gutierrez, Chefredakteurin der digitalen Zeitschrift Plaza Pública sowie Francisco Jiménez von Interpeace und Luis Fernando Mack von FLACSO (Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften) Guatemala ein, um über die Ereignisse dort zu berichten.

Für sie alle kam die Protestwelle überraschend. Wie in vielen anderen Ländern auch, war über die digitalen Medien mobilisiert worden, und zunächst wurde in allererster Linie der Überdruss mit dem System auf die Straße getragen.

Nach der Veranstaltung fand das folgende Interview statt:

Alejandra Gutierrez, Helen Mack, seit dem 25. April 2015 hat sich in Guatemala viel verändert. Plötzlich sind in dem Land, das sich bislang wenig durch öffentliche Proteste ausgezeichnet hat, Tausende auf den Straßen.

Wer ist auf der Straße, wie viele sind es und warum sind sie da?



Helen Mack:
Ich glaube die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (Comisión Internacional Contra la Impunidad en Guatemala, CICIG), hat mit „La Linea“ einen Fall präsentiert, der mit Betrug beim Zoll zu tun hat und der ganz klar und exemplarisch das korrupte System darstellt, das bis in die höchsten Ebenen reicht. Diese Regierung der Patriotischen Partei hat in den letzten dreieinhalb Jahren, in denen sie an der Macht ist, mit einem solchen Zynismus regiert, dass die Leute jetzt auf die Straße gegangen sind, weil sie die Nase gestrichen voll haben von der Korruption und dem verfaulten System, das den Leuten keine Chancen bietet. Es sind ja sogar Leute im Zusammenhang mit der Korruption umgekommen. Der Fall „La Linea“ brachte das Fass zum Überlaufen.

Dann haben die ersten ihrer Empörung auf Facebook Ausdruck gegeben. Und ehe sie sich versahen waren es schon 20.000, die ankündigten, am 25. April zu protestieren. Im ersten Moment mobilisierten sich vor allem Jugendliche von verschiedenen Universitäten. Am 16. Mai, bei der bislang größten Demo, waren dann auch etliche Menschen aus der urbanen Mittelschicht auf der Straße. Diese Proteste gegen die Korruption haben die Erwartungen der jungen Studierenden bereits weit übertroffen.

Alejandra Gutierrez: Ich würde sagen es sind Bürger und Bürgerinnen aus Guatemala, die zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Angst verloren haben und auf die Straße gegangen sind.

Der Auslöser war der ganz konkrete Korruptionsvorfall, den die CICIG aufgedeckt hat, aber dann haben sich die Proteste schnell in grundsätzlichere Proteste gegen das System entwickelt, also nicht nur gegen Korruption, sondern gegen das gesamte Funktionieren des Systems.

Wie viele protestieren ist schwer zu sagen. In Guatemala Stadt kursieren Zahlen zwischen 15.000 und 50.000. Aber im Landesinneren gibt es ebenfalls sehr gut besuchte Demonstrationen, allerdings - das muss man für Guatemala dazu sagen - in städtischen Gebieten. Auf der Straße vertreten ist vor allem die urbane Mittelklasse.

Was genau hat die Proteste ausgelöst? Worin bestand der Korruptionsskandal?



Helen Mack:
Die Proteste haben sich an der Zollmafia entzündet. Da hat man ganz genau mitbekommen wie es innerhalb des Staatsapparats zugeht. Wie die Firmen Steuern umgangen haben, indem sie umgetitelt wurden. Darin waren etliche Führungspersonen des Staates verwickelt und der Skandal hat eben auch die Vizepräsidentin erreicht. Er verlief quer durch alle Ebenen, bis ganz nach oben.

Sogar in Deutschland haben wir gehört, dass die Vizepräsidentin des Landes, Roxana Baldetti, im Zuge der Proteste zurücktreten musste, Präsident Otto Perez Molina selbst ist aus dem Gleichgewicht geraten. Worin seht ihr den größten Erfolg der Proteste?



Alejandra Gutierrez:
Ich glaube der größte Erfolg besteht darin, dass die Leute auf die Straße gegangen sind. Denn seit sehr, sehr langer Zeit hat es das im öffentlichen Raum Guatemalas nicht mehr gegeben, dass Leute systemkritisch protestiert haben - abgesehen von einigen großen Demonstrationen von Kleinbauern im ländlichen Raum, die immer wieder stattgefunden haben. Und dann natürlich der Rücktritt der Vizepräsidentin. Und ich denke es gibt Erfolge, die nicht so unmittelbar sichtbar sind, die aber an Bedeutung gewinnen werden, wie z.B. die Formierung von neuen Gruppen, die noch ein bisschen unorganisiert sind und Gesetzesreformen, die auf den Weg gebracht werden.

Helen Mack: Ich glaube wir Guatemalteken haben zum ersten Mal erfahren, was es heißt Macht auszuüben und Bürgerrechte wahrzunehmen. Die Tatsache, dass die Vizepräsidentin zurückgetreten ist, dass es weitere Rücktritte im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten gegeben hat, von Personen von denen wir alle wissen, dass sie in Korruptionsfälle verwickelt sind, das alles hat unsere Bürgerrechte gestärkt.

Und welches sind die wichtigsten Forderungen?



Alejandra Gutierrez:
Die größte und lauteste war die nach dem Rücktritt der Vizepräsidentin. Auch der Rücktritt des Präsidenten wird gefordert. Dazu kommt die breite Forderung nach Gerechtigkeit. Man weiß ja wie das Justizsystem in Guatemala aussieht mit seinem enorm hohen Grad an Straflosigkeit. Die Leute fordern also Gerechtigkeit und außerdem Reformen, z.B. des Wahlgesetzes im Interesse der Bürger, Reformen des Justizapparats, Reformen des (Auftrags-)Vergabegesetzes, was ein riesiges Feld für Korruption ist. Aber die Forderung nach einer Reform des Wahlsystems ist zentral, denn das ist eine der Grundlagen dafür, wie das ganze System funktioniert. Und es ist auch eine der Quellen der Korruption, denn diese beginnt schon bei der Parteien- und Wahlkampffinanzierung.

Helen Mack:Erstens gibt es Prozesse, die nicht ganz kurzfristig zu erkennen sein werden, die mit den Strukturreformen des Parteiensystems zu tun haben. Zweitens geht es um Professionalisierung, was auch eine Riesenherausforderung ist. Denn der politische Klientelismus erlaubt bislang keine professionelle politisch-administrative Laufbahn. Und dann ist da das Vergabegesetz, das die Regierung ständig missachtet hat, indem sie sagt „wir stehlen, na und“.

Wir setzen uns auch dafür ein, dass das Annullieren der Wahl eine Bedeutung hat, denn niemand fühlt sich von den bestehenden politischen Parteien repräsentiert. Und dann lehnen wir die Abgeordneten auf den nationalen Listen ab und fordern, dass anders gewählt werden kann.

Glaubst du, dass die Vorwürfe könnten auch den Präsidenten zum Rücktritt zwingen?



Helen Mack: Ich glaube, dass er sehr geschwächt ist, aber unglücklicherweise hat es einen Schulterschluss des US-amerikanischen Botschafters gegeben, der verhindert hat, dass der Präsident stürzt.

Und wie schätzt ihr die mittelfristige Wirkung der Proteste ein? Wir haben in den letzten Jahren viele solcher Proteste in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern beobachtet, z.B. in Brasilien im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft. Diese Proteste waren massiv, sind aber sehr schnell wieder in sich zusammen gefallen. Wie viel politische Kraft steckt in den Protesten?



Alejandra Gutierrez:
Das ist eine schwierige Frage. In diesem Moment sieht es so aus, als ob die Proteste an Kraft verlieren, aber auf der anderen Seite wird manches konkreter. Jenseits der Wut, gibt es manche ganz konkrete Gesetzesinitiativen. Ich glaube, das kann nur die Zeit zeigen. Bei diesen Protestwellen weiß man nie, so wie sie plötzlich da sind, ist auch offen, ob sich daraus etwas Konkretes ergibt.

Helen Mack: Seit der Fall La Linea bekannt geworden ist, sind sogar jeden Samstag Leute auf die Straße gegangen. Manchmal sind es mehr, manchmal weniger Leute, aber es gibt auf jeden Fall noch jede Menge Motivation. Es ist ganz natürlich, dass Demonstrationen nach einer Weile zurück gehen. Aber das wichtige wird sein, welchen Einfluss sie auf die Reformen haben. Wenn die Reformen diese Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht bedienen, dann werden die Proteste wieder zunehmen.

Und seht ihr in der guatemaltekischen Gesellschaft neue Akteure, die eine politische Rolle spielen könnten?



Alejandra Gutierrez:
Ehrlich gesagt, in diesem Moment sehe ich keine führenden Akteure. Ich sehe kleine neue Gruppen und Kollektive, die sich dieser Bewegung anschließen und da gibt es natürlich auch einige Namen und Gesichter, aber ich habe den Eindruck, dass Teil dieser Bewegung auch in einer gewissen Anonymität derer besteht, die die Themen aufgebracht haben. Es gibt so viel Misstrauen in Autoritäten, historisches Misstrauen, da weiß ich gar nicht ob sich im Augenblick jemand trauen würde den Stab zu übernehmen.

Helen Mack: Eine der bestehenden Herausforderungen ist sicher, dass wir, die wir einer älteren Generation angehören, noch keine klaren Führungspersonen sehen. Es wäre gut, wenn die jungen Leute, diese Initiative übernehmen würden, damit es auch eine Übergabe an die nächste Generation geben kann. Durch den bewaffneten Kampf gibt es bei uns zwei, drei verlorene Generationen und jetzt macht sich bemerkbar, dass es kaum Führungspersönlichkeiten gibt.

Und nehmt ihr wahr, was zurzeit in Honduras los ist, wo seit kurzem auch Tausende auf den Straßen demonstrieren?



Alejandra Gutierrez:
Nur sehr oberflächlich. Die Leute, die direkt in die Organisation der Proteste  in Guatemala involviert sind tauschen sich natürlich aus. Für die neuen Proteste, die für diesen Samstag geplant sind, sind z.B. auch Studierende aus Honduras eingeladen. Aber auch wir werden natürlich aufmerksam sein. Es könnte sich ja etwas sehr interessantes ergeben.

Das Interview führte Annette von Schönfeld, Leiterin Büro Mexiko, Heinrich-Böll-Stiftung.