Der Mikrokosmos Europäische Union

Kein Thema spaltet die Europäische Union so sehr wie Atomwaffen. Wie geht die EU damit um? 

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"EU-Außenministerin" Federica Mogherini spricht auf der NVV-Überprüfungskonferenz am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York

Seit 2009 hat die EU einen eigenen diplomatischen Dienst, den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Wie ihre Vorgängerin Catherine Ashton ist auch die neue „EU-Außenministerin“ Federica Mogherini eine bekennende Verfechterin der nuklearen Abrüstung und ICAN-Unterstützerin. In ihrer neuen Position muss die Symbolik jedoch reduziert werden. Sie sprach sich im Europäischen Parlament für eine starke Resolution aus, um den Druck auf die zeternden Mitgliedsstaaten zu erhöhen – und unterstrich die Bedeutung der Atomwaffendiplomatie durch ihre persönliche Anwesenheit in New York. Immerhin; Abrüstungsbefürworter und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon blieb aufgrund unterirdischer Erwartungen fern, Außenminister Steinmeier hielt den NVV ebenfalls für keine geeignete Bühne, um Deutschlands gewachsene weltpolitische Ambition zur Schau zu tragen.

Eigentlich ist multilaterale Diplomatie die Stärke der EU. Zwar erfordert die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stets einen Konsens, in den meisten Fällen vertreten die 28 Mitgliedsstaaten aber eine gemeinsame Position, da Werte und Interessen gegenüber dem Rest der Welt zumeist konvergieren. Die öffentlichkeitswirksamen Themen – Militäreinsätze, der mittlere Osten oder Sanktionen gegen Russland – sorgen für das medial perpetuierte Image eines gespaltenen Kontinents. Und nirgends ist die EU gespaltener als in der Frage der nuklearen Abrüstung.

Konsensfähige Appelle

Zwar gibt man sich im EAD alle Mühe, die Gräben zu überwinden. So werden Ressourcen für extensiven Nichtverbreitungsaktivismus bereitgestellt, da dies in Aller Interesse liegt. Dies ist zweifellos wichtig, der NVV ist langfristig aber nur tragfähig, wenn auch seine Abrüstungskomponente glaubhaft umgesetzt wird.

Klassisch diplomatisch lobt der EU-Nuklearwaffenbeauftragte Jacek Bylica die EU als „Mikrokosmos“ der globalen NVV-Mitgliedschaft. Die EU sei so gespalten, dass ein europäischer Konsens zum NVV so oder ähnlich auf die globale Ebene übertragen werden könne. Das klingt einleuchtend – bis man sich die Position näher angeschaut hat.

Das EU-Statement lobt richtigerweise die erfolgreichen Gespräche mit dem Iran, welche Mogherini geleitet hatte: Die fünf NVV-Atomwaffenstaaten und Deutschland („E3+3“) einigten sich mit Teheran darauf, dass sie sich für ihre Sicherheit weiterhin auf nukleare Abschreckung verlassen werden, während der Iran derlei Ambitionen aufgeben musste. Außerdem findet sich viel Allgemeines zur Nichtverbreitung, sowie die klassischen Appelle an Dritte: Der NVV möge universalisiert werden (unmöglich, sofern die vier ausgeschlossenen Atomwaffenstaaten nicht zunächst unilateral abrüsten); der 2010er Aktionsplan soll umgesetzt werden (ebenfalls weitgehend ausgeblieben).

Der Konsens zur Abrüstung umfasst einen einzigen Paragraphen: die Genfer Abrüstungskonferenz möge doch wieder Verhandlungen führen. Eine bequeme Forderung, da diese seit 18 Jahren blockiert ist und sich daran nichts ändern wird: Jedes der 65 Mitglieder verfügt über ein Veto. Federica Mogherini hätte sich die Reise sparen können.

Reaktionäres Gedankengut

Dabei bleibt es jedoch nicht. Es gibt auch zwei veritable Sprengsätze, die jede angebliche Konsensfähigkeit der EU-Position ad absurdum führen – tatsächlich hat man sich auch innerhalb der EU nach monatelangen Verhandlungen nicht auf eine „gemeinsame Position“ sondern lediglich einen Ratsbeschluss einigen können – rechtlich gesehen ein entscheidender Unterschied.

Zum einen fällt die EU-Position hinter die Sprachreglung zurück, die man 2010 unter den damals 189 NVV-Mitgliedsstaaten per Konsens angenommen hatte. Die EU Spricht nicht länger von dem „katastrophalen humanitären Auswirkungen“ von Atomwaffen. Das Wort humanitär kommt einfach nicht vor; dank Frankreich ist stattdessen von „schweren Auswirkungen“ die Rede. Man wird wenige Hunderttausend Tote doch nicht gleich eine Katastrophe nennen wollen?

Zweitens nimmt die EU „zur Kenntnis“, dass „eine Konferenz“ stattgefunden hat. Während der Name der Konferenz nicht genannt werden darf, das Wort humanitär ist schließlich Tabu, hebt Mogherini durchaus hervor, dass „nicht alle EU-Mitgliedsstaaten teilgenommen haben“. Interessant: Während Österreich explizit als Urheber der ominösen Konferenz Erwähnung findet, will Frankreich als einziger ferngebliebener EU-Staat nicht genannt werden.

Hier geht es nicht länger um mangelnde Konsensfähigkeit. Dies ist ein diplomatischer Affront. Allen EU-Staaten hätte daran gelegen sein können, diese Peinlichkeit zu verhindern. Muss man seine internen Differenzen so offen zur Schau tragen, seinen Minimalkonsens dermaßen der Lächerlichkeit preisgeben?

Ja, muss man. Denn von der EU ist in Sachen nuklearer Abrüstung nichts zu erwarten – da ist es besser, keine falschen Hoffnungen zu wecken: Normalerweise wird die EU schließlich als „zivile Macht“ wahrgenommen, ein in Menschenrechtsfragen vergleichsweise glaubwürdiger weltpolitischer Akteur. Das Beibehalten von Massenvernichtungswaffen zu verteidigen steht ihr ausgesprochen schlecht zu Gesicht.

Die EU-Positionen im Einzelnen

  • Atomwaffenstaaten (2): Frankreich, Großbritannien
  • Atomwaffenfreie Staaten mit Atomwaffen (4): Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande
  • EU-Staaten außerhalb der NATO (6): Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden, Zypern
  • Die EU in der Humanitären Initiative (7): Dänemark, Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden, Zypern (sowie, außerhalb der EU: Island, Norwegen, Schweiz)
  • Die EU und der Austrian Pledge (4): Irland, Malta, Österreich, Zypern.

Aufgrund des Konsenszwanges ist die EU in Atomwaffenfragen grundsätzlich kompromittiert. Frankreich ist traditionell der westliche Staat, der am verbissensten an Atomwaffen festhält; küchenpsychologische Gedankenspiele über verlorenen imperialen Glanz sind dem Leser überlassen.

20 weitere Staaten sind Teil der EU und der NATO. Sie verlassen sich laut Strategischem Dokument der NATO auf „erweiterte nukleare Abschreckung“, so lange Atomwaffen existieren. Die USA versprechen also, sie unter Einsatz von Atomwaffen zu verteidigen. Diese Staaten vermeiden es darauf hinzuweisen, dass ihr Enthusiasmus für nukleare Abrüstung begrenzt ist. Wie Deutschland lagern vier dieser Staaten US-Atomwaffen auf ihrem Territorium, ihre Piloten trainieren deren Abwurf mit eigens angepassten Kampfjets. Letztere können das EU-Territorium nicht überwinden: NATO-Regularien verbieten Luftbetankung für nukleare bewaffnete Flugzeuge, aufgrund zu vieler Unfälle. Insofern können diese Atomwaffen nur bei uns verwendet werden, machen uns aber gleichzeitig zu einem Ziel.

Zu guter Letzt sind sechs EU-Staaten „neutral“, also keine NATO-Mitglieder. Sie sind allesamt Teil der Humanitären Initiative. Österreich ging einen Schritt weiter und verkündete den Austrian Pledge, dem sich bereits 107 Staaten anschlossen (Stand: 27.05.2015) – leider nur vier von Österreichs europäischen Partnern.

160 progressive Stimmen

Österreich ist also keineswegs so isoliert, wie die EU es scheinen lässt. Am gleichen Tag wie Federica Mogherini verlas auch Außenminister Sebastian Kurz ein Statement. Er sprach nicht im Namen von 28 EU-Mitgliedern, sondern 160 Nationen der Humanitären Initiative. Es war in der Geschichte der Vereinten Nationen die größte Gruppe von Staaten, die sich je auf ein gemeinsames, substanzielles Statement hat einigen können. Österreich sprach für über 80 Prozent der UN-Mitgliedschaft.

Zwar wird Außenminister Kurz von seinen europäischen Kollegen in Brüssel reichlich kritisiert, schließlich erschwert die Humanitäre Initiative es, nukleare Abrüstung als abstraktes Ziel abzutun anstatt sich für das  Verbot von Atomwaffen zu engagieren. Insofern wäre breitere europäische Beteiligung höchstwillkommen; dennoch kann sich Wien auf globale Unterstütz berufen.

Wenn einige EU-Staaten zum Scheitern der 2015er Überprüfungskonferenz beigetragen haben werden, wird sich zeigen, wer auf der richtigen Seite der Geschichte stand. Auch in Deutschland sprechen sich 96 Prozent der Bevölkerung für ein Verbot von Atomwaffen aus – Österreich hat also meine Stimme, und hinter vorgehaltener Hand auch jene der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini.