Nigerias neue Stimmen

Bildunsprogramm an einer Schule in Ikeja im Rahmen der Spaces for Change YouthVote2015 (YV2015)-Kampagne.
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Bildunsprogramm an einer Schule in Ikeja im Rahmen der Spaces for Change YouthVote2015 (YV2015)-Kampagne

Nigerias Politik ist veraltet: sowohl thematisch als auch personell. Dynamische politische Diskussionen finden - wenn überhaupt - nur oberflächlich statt. Junge Politikerinnen und Politiker haben kaum Chancen in den vorhandenen Strukturen aufzusteigen. Dennoch werden zunehmend Stimmen laut, die einen Wandel fordern und sich für die Belange der jungen Nigerianer einsetzen. Wir sprachen mit der Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Victoria Ibezim-Ohaeri über politische Apathie, aber auch neue Stimmen, soziale Medien und die Möglichkeit zur Veränderung.

Ein Blogger sagte einmal, dass Nigerianer zu allem eine Meinung hätten. Wie würden Sie unter dieser Prämisse die allgemeine Ermüdung eines Großteils der Bevölkerung deuten, wenn es um Wahlen geht?



Eine Meinung zu haben, ist die eine Sache; eine qualifizierte Meinung zu haben, noch mal eine andere. Eine weitere Frage, die es diesbezüglich zu überprüfen gilt: Was sind das für Meinungen, die derzeit von einem Großteil der Bevölkerung vertreten werden? Wenn es um Wahlen geht, ist die Stimmenabgabe nach wie vor weitgehend von traditionellen, religiösen, regionalen und ethnischen Anschauungen geprägt. Das größte Problem sehe ich hierbei jedoch darin, dass die Schulungen der Wählerinitiativen sehr wenig dazu beitragen, um an diesen tief verwurzelten Meinungen etwas zu ändern. Was die Situation noch weiter verschärft, ist die eklatante Abweichung der Zivilgesellschaft von der bisherigen Wahltradition, bei der die Grundsätze von Unparteilichkeit, Neutralität und Objektivität ihre „Aufklärungsversuche“, die Wahlbeobachtung und die Kontrollfunktion bestimmt hatten. Diese ursprüngliche Rolle erfüllt die Zivilgesellschaft in großen Bereichen nicht mehr, und die Parteilichkeit, die in aller Öffentlichkeit demonstriert wurde, hat die Erwartungen an Fairness und objektive Wahleinschätzung völlig verwässert und getrübt.



Ich glaube noch nicht einmal, dass es sich um eine allgemeine Ermüdungserscheinung eines großen Teils der Bevölkerung handelt, wenn es um Wahlen geht. Es handelt sich vielmehr um einen Vertrauensverlust in den Wahlprozess, weil der so angelegt ist, dass er selbst den besten und hochqualifiziertesten Kandidaten – mit nachweisbarem Erfolg in Sachen Fach- und Führungsexzellenz – keine Chance bietet, sich hervorzutun. Es ist der vollständige Glaubensverlust, der Apathie und in diesem Sinne auch Müdigkeit nährt.

Welche Themen bewegen die nigerianische Jugend?



Aus meiner Sicht sind die Themen, die nigerianische Jugendliche bewegen sollten, Bildungsförderung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die wirtschaftliche Wiederbelebung. Andere Problemfelder wie Gesundheit, Landwirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Verbesserungen in der Stromversorgung sind nicht minder bedeutsam, aber die ersten drei sind für die nigerianische Jugend entscheidend und überlebenswichtig. Hier sind meine Motive für die Priorität, die ich diesen dreien einräume:



Am 15. März 2014 kamen 19 junge Nigerianer und Nigerianerinnen, darunter auch schwangere Frauen, ums Leben und noch mehr wurden verletzt, bei dem Versuch sich bei der nigerianischen Einwanderungsbehörde zu bewerben. Auf die Stellenausschreibung für etwa 4000-5000 Posten bei der Agentur meldeten sich Hunderttausende von Arbeitssuchenden. Dieser Vorfall vom 15. März 2014 ist eine traurige Erinnerung an die Ernsthaftigkeit und das enorme Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Nigeria. Die Anwälte von Spaces for Change (S4C) sind Teil des Teams von Juristen und Juristinnen, das sich derzeit für Gerechtigkeit und Entschädigungsleistungen im Namen der verstorbenen und verletzten Bewerber vor Gericht einsetzt.



Zweitens beklage ich weiterhin den Mangel an Finanzierungsvorkehrungen für Bildungsinitiativen in Nigeria. Nigerias Philanthropen und wohltätige Einrichtungen fördern mit ihren Zuwendungen nur selten Investitionen im Bildungswesen, aber wenn es um die Unterhaltungsindustrie geht, zögern sie keineswegs, Milliarden fließen zu lassen. Deshalb ist es nicht besonders verwunderlich, wenn das Bildungsniveau mit jedem Jahr weiter sinkt.



Die ersten beiden Ziele sind nur durch eine stabile Wirtschaftslage erreichbar. Sinkende Ölpreise haben die nigerianische Wirtschaft an den Rand des finanzpolitischen Notstands gebracht, während der Wechselkurs der Naira zum Dollar im gleichen Zuge auf N 200 zu USD 1 sank. Wenn sich dieser Trend in der Preisgestaltungspolitik fortsetzt, werden Ölpreise zwischen 40 und 60 Dollar nicht nur Nigerias Einnahmeprognosen zunichtemachen, sondern auch die Wertminderung der externen Währungsreserven vorantreiben und das Land dazu nötigen, auf immense Kreditaufnahmen zurückzugreifen.



Höchst bedauerlich ist, dass die politischen Parteien und ihre Kandidaten und Kandidatinnen diese wichtigen Themen überhaupt nicht ansprechen. Wenn Wahlkampagnen – oft mit Beschimpfungen und Nichtigkeiten überladen – weiterhin emotionale Aspekte, populistische und religiöse Anschauungen begünstigen, anstatt die ideologischen Voraussetzungen zur Lösung der vielfältigen Probleme des Landes zum Ausdruck zu bringen, dann bedeutet dies, dass den Problemen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Jugend noch nicht die Priorität gewährt wird, die ihnen zusteht.



Welche Rolle spielen die sozialen Medien in der nigerianischen Politik im Allgemeinen und im Besonderen im Vorfeld der Wahlen?

Soziale Medien sind für die Verbreitung von wichtigen Wahlnachrichten und Informationen äußerst hilfreich. Die Wähler/innen, die Zivilgesellschaft, die politischen Parteien und ihre Anhänger haben die neuen Technologien effektiv eingesetzt, um ihre Kampagnen voranzutreiben und um Wahlberechtigte zu erreichen, die von den herkömmlichen Maßnahmen zur Wählersensibilisierung kaum erreicht worden wären. Bei Spaces for Change beispielsweise haben wir auch weiterhin digitale und nicht-digitale Plattformen genutzt, um bei den Jugendlichen politisches Bewusstsein zu wecken. In regelmäßigen moderierten Gesprächen haben wir versucht, sie für politisches und wirtschaftliches Agenda-Setting basierend auf den kollektiven sozio-ökonomischen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger, und nicht auf Grundlage von politischen und ethnischen Interessen, zu sensibilisieren. Während die Wahlvorbereitungen ihrem Höhepunkt fieberhaft entgegen streben, zeichnet sich in den Spaces for Change-Online-Diskussionsforen ein noch nie da gewesenes Ausmaß an Gesprächen ab, das von ganz besonderer Bedeutung ist. Dort versammeln sich junge nigerianische Expertinnen und Experten auf täglicher bzw. wöchentlicher Basis, um sich in einem fundierten Dialog über die Herausforderungen demokratischer Führung einzubringen und um sich anschließend offline aktiv für verantwortliche politische Reformen zu engagieren. Online Peer-Reviews und strategisches Engagement der Jugend bieten ein enormes Potenzial für politischen Wandel, und Spaces for Change nutzt dies effektiv, um die Machtverhältnisse zu verschieben und das Interesse der jungen Leute an Kompromissbildung und politischen Verhandlungen zu vertiefen.



Wer sind die neuen Stimmen und Akteure, die in der Lage sein könnten, den politischen Willen und Raum der Bürgerinnen und Bürger zu erweitern?

Bei der Wahl 2015 fiel sehr unangenehm auf, dass die politischen Akteure der vergangenen Jahre sich geweigert haben, die Bühne für eine jüngere Generation parteipolitischer Nachrücker freizumachen. Nigerias politische Kreise sind übervölkert von Ex-Generälen, Ex-Diktatoren und ehemaligen Militärs, die über vier Jahrzehnte hinweg die politische Macht kontrolliert haben. Diese politische Hegemonie hat dazu geführt, dass Neueinsteiger in politische Ämter unterdrückt oder ganz verhindert wurden. Neue politische Akteure haben kaum eine Chance, weil sie weder über die Finanzkraft noch Mobilisierungsinfrastruktur verfügen, um es mit der alten Garde aufnehmen zu können. Für die 35-Jährigen und Jüngeren, die schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen und inzwischen zu weit von der Politik entfernt sind, hat dieses Beharrungs-Syndrom dazu geführt, dass die Grundlage für die politische Nachfolge und die demokratische Rechenschaftspflicht geschwächt wurden. Jahrelange Entfremdung hat den Zorn der Jugendlichen provoziert und damit zu einem permanenten Zufluss an jungen Leute geführt, die ihre Unzufriedenheit durch Gewalt, Militanz und Aufstand zum Ausdruck bringen und damit die Strukturen ihrer Entmachtung in Frage stellen.



Also, wer sind nun die neuen Stimmen, die den politischen Raum für demokratische Teilhabe erweitern könnten? Dies ist die grundlegende Frage, die wir uns selbst stellten, als Spaces for Change ihre YouthVote2015 (YV2015)-Kampagne aufnahm. In Bezug auf die neuen Stimmen kann ich sagen, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger politisch zunehmend wacher werden. Sie sind die neuen Stimmen! Dank YV2015 und vielen anderen Initiativen nimmt ein stetig anwachsender Teil der Bevölkerung, vor allem unter der jungen, ihre Zukunft selbst in die Hand, und erkennt die Relevanz des sich Einmischens in die Prozesse, die ihr Schicksal gestalten. Allen voran nutzen die jungen Nigerianerinnen und Nigerianer die sozialen Medien, um ihre Vorstellungen mit verschiedenen Mitteln zum Ausdruck zu bringen und sich mit einer demokratischen Staatsführung kritisch auseinanderzusetzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine qualifizierte und selbstbewusste junge Bevölkerung das wichtigste Rüstzeug für einen erfolgreichen „Kampf“ gegen die ethnische und religiöse Trennlinie im nigerianischen politischen Umfeld ist.