"Egal wie, ich möchte nur ein bisschen Geld für meine Kinder verdienen"

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Wanderarbeiter in China
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"Für Leute wie uns – ohne Bildung, mit Kind – ist es ziemlich schwer, Arbeit zu finden"

Zu Wanderarbeiter/innen in China gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, Forschungen und Analysen. Doch nur selten kommen die betroffenen Menschen selbst zu Wort. Drei individuelle Geschichten von Menschen, die erzählen, warum sie in die Städte gezogen sind, mit welchen Herausforderungen sie dort konfrontiert sind und wie sie sich und ihre Zukunft sehen.

Xiao Zhang, Peking, Bezirk Chaoyang, Gebiet von Daitou (6. April 2013): Daitou, im Südosten von Peking an der vierten Ringstraße, ist ein dicht besiedeltes, etwas heruntergekommenes Wohngebiet. Vor neun Jahren sprossen hier auf einmal Wohntürme wie Pilze aus dem Boden und wurden in einer irrwitzigen Geschwindigkeit erweitert.

Heute leben in den mehreren hundert Wohnsilos Tausende von Menschen. Am Abend ist es – abgesehen von den drei Bushaltestellen – dort am belebtesten, wo sich Kleinhändler/innen drängen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Eine von ihnen ist Xiao Zhang. Ihr "Stand" ist winzig: ein weißes quadratisches Tuch, ausgebreitet auf einer Wiese am Straßenrand. Darauf liegt ein Sammelsurium an bunten Socken. Im Gegensatz zu anderen Verkäufern, die sich sehr um Kundschaft bemühen, scheint Xiao Zhang beim Verkauf ihrer Socken keinen großen Enthusiasmus an den Tag zu legen. Sie spielt lieber mit ihrem kleinen Sohn.

Ihr Kind ist wirklich lieb. Ist das Ihr einziges?

Ich habe noch einen zweiten Sohn, den ich nach Hause zurückgeschickt habe, damit er dort zur Schule gehen kann. Er ist ein bisschen älter. Sein Vater und seine Großmutter kümmern sich um ihn. Das hier ist Xiao Bao. Er ist gerade in den Kindergarten gekommen.

Woher kommen Sie?

Ich stamme aus Cangzhou in der Provinz Hebei.

Sind viele Leute aus Ihrem Heimatort weggegangen, um Arbeit zu suchen?

Auf dem Land gibt es Arme und Reiche, und warum sollte man gehen, wenn man sein Auskommen findet? Die Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, haben es schwer. Wir besaßen früher sehr viel Land, über zehn Mu [ca. 6.700 m2], das der Familie meiner Schwiegermutter gehörte. Später wurden uns ein paar Mu weggenommen; teils für den Straßenbau oder weil irgendwelche Hütten errichtet werden sollten. So genau weiß ich das gar nicht, weil die Familie meiner Schwiegermutter den Boden bestellt und wir uns nicht um die Arbeit auf dem Feld kümmern. Diese Arbeit bringt inzwischen kaum noch etwas ein. Von Geldverdienen kann keine Rede sein; im Gegenteil, am Ende zahlt man sogar noch drauf. In meinem Heimatort will deshalb niemand mehr auf dem Feld arbeiten. Es gibt zwar eine Fabrik, aber auch dort finden nur wenige Arbeit.

Und wann sind Sie nach Peking gekommen?

2009, das ist schon lange her.

Weshalb haben Sie sich damals für Peking entschieden?

Der Mann, der hier nebenan Autos repariert, ist der Vater von meinem Sohn Xiao Bao. Er ist schon etliche Jahre hier, und ich bin ihm gefolgt. Wenn ich da bin, ist er nicht so allein. Warum genau er damals nach Peking gekommen ist, weiß ich nicht. Er kann nichts wirklich gut, also repariert er Autos. Sein monatliches Einkommen ist extrem gering, und das, was er verdient, fließt komplett in die Familie. Als Xiao Bao noch ganz klein war, habe ich mich um ihn gekümmert. Jetzt, wo er größer ist und in den Kindergarten geht, habe ich nicht mehr viel zu tun. Also verkaufe ich diese Sachen hier, um etwas Geld für die Schule zu verdienen.

Wie viel verdienen Sie im Monat?

Nicht viel. Wenn hier viele Leute vorbeikommen, verdiene ich pro Tag ein paar Dutzend RMB. Gestern habe ich zum Beispiel nur 20 RMB [ca. 2,50 Euro] verdient. Wenn ich dieses Paar Socken hier für etwa 20 RMB verkaufe, bleiben mir gerade einmal fünf oder sechs RMB Gewinn.

Kommen Sie im Monat auf 1.500 RMB?

Um Gottes Willen! Wie soll ich in einem Monat 1.500 RMB [ca. 195 Euro] verdienen? Im besten Fall komme ich am Tag auf etwas mehr als 50 RMB [ca. 6 Euro], und selbst das ist fast unmöglich. Es gibt auch Tage, an denen ich nicht einmal zehn RMB verdiene. Vorgestern war z.B. so ein Tag: Da habe ich nur ein paar RMB eingenommen. Gestern auch. Wie soll das also funktionieren?! Hinzu kommt, dass ich flexibel sein muss, um mein Kind zum Kindergarten zu bringen und wieder abzuholen. Im Grunde bin ich alleinerziehend. Wie sollte ich Xiao Bao betreuen, wenn ich eine geregelte Arbeit hätte und am Wochenende arbeiten müsste oder keinen Urlaub bekommen würde, wenn er krank wird? Ich habe keine Großeltern in der Nähe, die auf ihn aufpassen könnten. Dann mache ich es lieber so. Wenn ich zu beschäftigt bin, komme ich erst gar nicht hierher. Ansonsten nehme ich mein Kind einfach mit, mache mein Tagesgeschäft und habe dann ein wenig Geld für die Familie.

Wohnen Sie denn hier in der Nähe?

Ich wohne im Untergeschoss, gleich hier gegenüber, in diesem Haus.

Ist es da nicht dunkel und kalt? Vor allem jetzt, wo es zwei Tage keine Heizung gegeben hat?

Eine richtige Wohnung kann ich mir nicht leisten. Das Zimmer im Untergeschoss kostet 600 RMB [ca. 77 Euro] pro Monat, dazu kommen 500 RMB Schulgebühr fürs Kind. Da bleibt nichts mehr übrig. Wenn Xiao Bao nicht zu Hause ist, wärme ich mir meistens nur ein paar Mantou [chinesische Dampfbrötchen, Anm. d. Red.] auf. Ist er da, koche ich auch schon mal was. Auf jeden Fall muss ich beim Essen sparen. Selbst wenn ich eine richtige Arbeit hätte, würde ich bestimmt nicht viel mehr verdienen.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie manchmal ungerecht behandelt werden?

Bei uns Straßenverkäufern ist das so: Den Leuten, die Geld, Einfluss und große Stände haben, kann nichts passieren. Wenn aber Leute wie wir hier Sachen auslegen, müssen wir immer dann verschwinden, wenn die Chengguan [城管, städtische Ordnungskräfte, Anm. d. Red.] kommen. Wenn wir das nicht tun, konfiszieren sie sofort unsere Waren und geben sie uns nicht zurück. Das soll fair sein? Nein, das ist nicht fair. Schauen Sie, dort drüben, die kennen jemanden bei den Chengguan. Sie dürfen einen so großen Stand besitzen und ihnen passiert nichts. Aber unsere Sachen nehmen sie mit und geben sie nicht zurück. Die können sich nicht vorstellen, wie es uns einfachen Leuten geht, die keine Arbeit und keine Bildung haben. Solange man keine Kinder hat, geht es ja noch. Ob man ein bisschen mehr oder weniger hat, ist egal. Mit Kindern muss man jedoch so viel verdienen, dass man genug zu essen hat und gleichzeitig noch für die Schule sparen kann.

Was halten Sie von den Chengguan?

Die Chengguan sind die reinsten Banditen. Wenn sie kommen, dann ist es egal, wo man seine Ware versteckt. Sie nehmen sich einfach, was sie wollen. Wenn ich es ihnen nicht geben will, dann behaupten sie, dass ich sie in ihrer Arbeit behindere, und konfiszieren die Sachen. Was kann man da machen? Wenn wir einfachen Leute uns mit den Offiziellen anlegen, haben wir keine Chance. Wir müssen machen, was sie sagen. Mir haben sie schon zweimal alles weggenommen und nicht wieder zurückgegeben. Einer Frau aus unserem Ort wurden einmal alle Waren weggenommen, die sie gerade erst im Wert von 500 RMB [ca. 64 Euro] gekauft hatte. Am Ende blieben ihr noch 100 RMB, wovon sie jedoch die Strafe bezahlen musste.

Was haben Sie für die Zukunft geplant?

Was ich in Zukunft vorhabe? Abwarten, bis mein Kind ein bisschen größer ist. Für Leute wie uns – ohne Bildung, mit Kind – ist es ziemlich schwer, Arbeit zu finden.

Jetzt sind Sie so viele Jahre hier. Gibt es noch etwas anderes außer diesen Schwierigkeiten?

Wir sind ungebildet. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Die Reichen haben ihre Art zu leben, und die Armen ihre. Ob fair oder unfair, gut oder nicht gut; es ist halt so. Für meine beiden Kinder muss ich noch ein bisschen Geld verdienen, damit sie eine bessere Zukunft haben. Im Dorf würde man einfach heiraten und von der Familie des Mannes ein Haus bekommen. In der Stadt ist das anders. Egal wie, ich möchte nur ein bisschen Geld für meine Kinder verdienen.

Dieser Text ist einer von drei Auszügen aus Interviews mit Wanderarbeiter/innen. Erstmals  2012 und 2013 in einer Interviewsammlung auf Chinesisch erschienen. Diesen Text finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe von Perspectives Asien der Heinrich-Böll-Sitftung.