Weichenstellung für eine atomwaffenfreie Welt

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"No Nukes"-Protest in Tokyo

Am 8. und 9. Dezember findet in Wien eine Staatenkonferenz zu den humanitären Auswirkungen von Kernwaffen statt. Noch Anfang des Jahres hat die Bundesregierung einen Verbotsvertrag abgelehnt. Die Konferenz bietet neue Chancen für eine atomwaffenfreie Welt. Die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt das Zivilgesellschaftliche Forum parallel zur Staatenkonferenz.

Wenngleich Deutschland dazu fähig wäre, Atomwaffen selbst herzustellen, hat es nach dem Zweiten Weltkrieg darauf verzichtet. Was außenpolitisch gerne als Akt der Freiwilligkeit verkauft wird, ist vor allem dem militärpolitischen Korsett geschuldet, in dem sich das zurechtgestutzte Nachkriegsdeutschland wieder fand. Es war eine Zeit des weder noch’s: weder sollte Deutschland eigenständige Militärmacht wiedergewinnen, noch durfte es auf seine Wehrfähigkeit verzichten.

Als sich der Eiseshauch des Kalten Kriegs langsam über Europa ausbreitete, war die junge kriegstraumatisierte Bundesrepublik unweigerlich im Gedankengefängnis militärischer Angst- und Aufrüstungslogik tief eingekerkert. Die Adenauer-Regierung nutzte damals jede Marge, das Standing der deutschen Streitkräfte nach und nach zu steigern. Sowohl im konventionellen, als auch - über den Bündnisschlenker - im nuklearen Bereich. Schon früh, spätestens per Bundestagsbeschluss vom 25. März 1958,[1] verband sich deshalb die vordergründige Atomwaffenabstinenz Deutschlands mit der Billigung der Stationierung amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden. Im Rahmen der so genannten „Nuklearen Teilhabe“ der NATO pflegt Deutschland seither das Zwitterdasein eines Staates, der selbst keine Atomwaffen besitzt, aber irgendwie doch nicht ganz darauf verzichtet.

Auf einem Fliegerhorst in der Eifel sind heute etwa zwei dutzend amerikanische Atombomben stationiert. Die Bundeswehr stellt für deren Abwurf Tornados und Piloten bereit, die regelmäßig den Ernstfall üben. Deutschland ist Mitglied in der Nuclear Planning Group, in der die Nuklearpolitik des Bündnisses ausgearbeitet und umgesetzt wird. Die Bundesregierung sichert sich hierüber ihren Einfluss auf die Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und -einsatzplanung.

Mit der Nuklearen Teilhabe wurde der Wahnsinn der mutual assured destruction ein wesentlicher Teil deutscher Sicherheitsstrategie. Sich in Sicherheit wiegen darf, wer daran glaubt, dass die Androhung gegenseitiger Vernichtung Frieden stiftet. Die Abschreckungsdoktrin hat die Welt bereits zwei Mal an den Rand des nuklearen Abgrunds getrieben. Während der Kubakrise zwischen 1960 und 1962, und nach einem Fehlalarm der sowjetischen Satellitenüberwachung im September 1983.[2] Trotzdem blieb dieser Irrsinn grenzenloser Eskalationsbereitschaft bis heute, ein viertel Jahrhundert nach dem Fall der Mauer, weitestgehend unangetastet.

Zwar sind die meisten Atomwaffen inzwischen abgezogen. Doch will sich Deutschland nicht ganz aus dem Versteck des getarnten Atomwaffenstaates herauswagen. In der Frage des vollständigen Verzichts kommt ein tief sitzender Interessens- und Identitätskonflikt deutscher Außenpolitik zum Ausdruck. Darin reibt sich die friedenspolitische Tradition konsequenter Abrüstungspolitik mit den militärpolitischen Pfadabhängigkeiten des Kalten Krieges. Hier kämpft das außenpolitische Selbstbild der souveränen Friedensmacht mit den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen von Bündniszwängen. Heraus kommt eine Art Atomwaffenstaat light. Im Zweifelsfall hält man sich eben doch lieber alle Optionen offen. Atomwaffen? Nein danke, nur ein bisschen.

Die humanitäre Pflicht Atomwaffen zu ächten

Das humanitäre Völkerrecht setzt Mindeststandards der Einschränkung von Gewalt, die auch innerhalb bewaffneter Konflikte eingehalten werden müssen. Damit sollen Zivilbevölkerung, Umwelt und Kulturgüter vor exzessiven Kriegsschäden geschützt werden.[3] Um unnötiges Leid zu verhindern, ist der Einsatz eines Waffensystems nach dem humanitären Völkerrecht nur dann erlaubt, wenn zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden kann.

Massenvernichtungswaffen werden diesen Grundsätzen des humanitären Völkerrechts per definitionem nicht gerecht. Nachdem biologische und chemische Waffen bereits verboten wurden,[4] sind Atomwaffen die einzigen Massenvernichtungswaffen, aus deren Unvereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht noch nicht die entsprechenden Konsequenzen für ein Verbot von Herstellung und Besitz gezogen wurden.[5] Angesichts ihrer unermesslichen Zerstörungskraft ist es eine humanitäre Pflicht, das höchste Maß an Prävention zu gewährleisten, sie zu verbieten und zu vernichten.

Vor knapp zwei Jahren hat auf internationaler Ebene eine Diskussion über Atomwaffen begonnen, in der die humanitären Auswirkungen im Mittelpunkt stehen. Damit ist ein Prozess in Gang gekommen, der auch neue Chancen für ein Verbot von Atomwaffen eröffnet. Im März 2013 nahmen in Oslo 127 Staaten an der ersten Internationalen Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen teil. Dabei waren auch die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, humanitäre Organisationen der Vereinten Nationen sowie Unterstützerorganisationen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, ICAN).

Während sich die Atomwaffenstaaten Indien und Pakistan der Diskussion anschlossen, boykottierten die offiziellen Atomwaffenstaaten[6] die Konferenz. Ungeachtet dessen folgte im Februar 2014 eine zweite Konferenz im mexikanischen Nayarit mit 146 Teilnehmerstaaten. Am 8. und 9. Dezember 2014 findet in Wien die dritte Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen statt. Überraschend haben die USA diesmal ihre Teilnahme zugesagt. Wenn die USA kommen, wird zumindest auch Großbritannien teilnehmen. Der Boykott der offiziellen Atomwaffenstaaten ist damit aufgebrochen und ihr Versuch, die Diskussion in eine Schmuddelecke zu drängen, gescheitert.

Deutschland hatte sich von Anfang an nicht am Boykott der Konferenzen beteiligt. Entsprechend scharf waren die Argusaugen der atombewaffneten Verbündeten auf sein dortiges Auftreten gerichtet. Für die Bundesregierung ergibt sich aus der Teilnahme der USA und Großbritanniens in zweifacher Hinsicht ein größerer diplomatischer Handlungsspielraum. Zum einen steht sie nicht mehr unter dem Druck, ihr Ausscheren als Boykott-Boykottiererin diplomatisch auszugleichen, indem sie auf der Konferenz als Sprachrohr der NATO-Atomwaffenstaaten fungiert. Sie kann also für sich sprechen. Zum anderen ist die Beteiligung an der Diskussion über ein Atomwaffenverbot nun auch für westliche Atomwaffen- und Teilhabestaaten salonfähig. Was vorher indiskutabel war, muss jetzt von niemandem mehr diskreditiert werden.

Ein Push in Richtung "Global zero"

Die Enttabuisierung der Diskussion um ein Atomwaffenverbot erleichtert es der Bundesregierung, einen neuen Pfad zu einer atomwaffenfreien Welt zu öffnen. Bisher hieß es, dies ließe sich einzig auf der Schiene des Nichtverbreitungsvertrages verwirklichen. Und der Nichtverbreitungsvertrag würde durch einen Verbotsvertrag bedroht. Zum selben Ziel führen jedoch meist mehrere Wege und es ist besser, sie alle offen zu halten, bevor einer zur Sackgasse wird. Das Verhältnis Verbotsvertrag und Nichtverbreitungsvertrag ist keine Frage des entweder oder. Sondern des sowohl als auch.

Einer der Hauptgründe der Gegner eines Verbotsvertrages ist die Befürchtung, dass Einfluss und Reputation der Atomwaffenstaaten schmelzen würden. Wie sehr der Besitz von Atomwaffen mit Macht und Prestige verknüpft ist, spiegelt sich auch darin wieder, dass alle fünf offiziellen Atomwaffenstaaten zugleich Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind. Historisch gesehen ist es reiner Zufall. Aber für die internationale Sicherheit ist die Assoziation von Atomwaffen mit geopolitischer Potenz der gefährliche Ansporn dafür, dass weitere Staaten nach der Superbombe greifen. Freilich hat Deutschland ein sicherheitspolitisches Interesse an der Wahrung des Einflusses und der Reputation der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Die Strategie der gegenseitigen Unterstützung und Imagepflege muss sich aber im Interesse der internationalen Sicherheit von der Verbindung mit Atomwaffen lösen.

Um das eigene Image muss sich die Bundesrepublik dabei nicht sorgen. Im Gegenteil. Deutschland zeigt gerade, dass Einfluss und Reputation losgelöst von der nuklearen Wehrfähigkeit wachsen können. Berlin kommt somit eine besondere Verantwortung für die Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt zu. Deutschland könnte beweisen, dass eine Regionalmacht auch ganz auf Atomwaffen verzichten kann. Dass sich Weltpolitik auch ohne nukleares Potenzmittel entscheidend mitgestalten lässt. Der Entzug vom Atomwaffenstaat light zu German zero wäre ein gewaltiger Push in Richtung Global zero. Ein Verbotsvertrag könnte den längst überfälligen Abzug der in Deutschland stationierten Atomwaffen[7] beschleunigen. Für das außenpolitische Image und die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit wäre dies ein großer Gewinn.

Ein anderer Beweggrund für die Blockade eines Verbotsvertrages ist die Sorge um die Stabilität des Nichtverbreitungsvertrages, dessen nächste Überprüfungskonferenz in New York im März 2015 ansteht. Tatsächlich ist der 1968 unterzeichnete und 1970 in Kraft getretene Nichtverbreitungsvertrag mit 189 Vertragsstaaten heute das backbone der nuklearen Rüstungskontrolle.[8] Seine Fragilität geht jedoch nicht von einem drohenden Verbotsvertrag aus. Sie ist im Nichtverbreitungsvertrag selbst angelegt und entspringt der darin verankerten Diskriminierung zwischen Atomwaffenstaaten und Nichtatomwaffenstaaten. Den beteiligten Atomwaffenstaaten hatte man das Recht eingeräumt, Atomwaffen zu besitzen, während die damaligen Nichtatomwaffenstaaten sich dazu verpflichten mussten, darauf zu verzichten. Der Deal war, dass die Atomwaffenstaaten im Gegenzug massiv abrüsten würden.[9] Ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. Mit dieser Erschleichung von Privilegien haben die Atomwaffenstaaten die Saat für einen immer wieder aufkeimenden Konflikt gelegt.

Von der Diskussion in eine Dynamik des Handelns

Durch einen Verbotsvertrag würde diese Spaltung in Form zweier Vertragswerke offen gelegt. Ihm könnten nur Nichtatomwaffenstaaten beitreten sowie Atomwaffenstaaten, die sich zur vollständigen nuklearen Abrüstung verpflichten.[10] Der Druck auf Atomwaffenstaaten, abzurüsten, würde steigen. Würde deswegen der splitterige Nichtverbreitungsvertrag auseinander brechen? Gewiss nicht. Denn nukleare Abrüstung ist gerade das Ventil dafür, den Nichtverbreitungsvertrag zu stabilisieren. Die Verweigerung von Abrüstung ist es, was ihn immer wieder aus der Balance bringt.

Staaten, die sich einem Verbotsvertrag anschließen und in eine weltumspannende atomwaffenfreie Zone fügen, haben nicht das geringste Interesse an einem Kollaps des Nichtverbreitungsregimes. Für sie ist der Nichtverbreitungsvertrag eine Rückversicherung, auf die sie nicht verzichten können. Ebenso, wie auch die bereits existierenden regionalen atomwaffenfreien Zonen[11] auf einen intakten Nichtverbreitungsvertrag angewiesen sind. Ihr Zusammenschluss zu einer erweiterten atomwaffenfreien Zone wird an diesem existentiellen Interesse nichts ändern. Verbotsvertrag und Nichtverbreitungsvertrag können sich aus der Logik der ihnen inhärenten politischen Interessen heraus nicht voneinander abkoppeln. Sie leben von einem dynamischen Verhältnis zueinander, das im Ringen um Gleichgewicht keine Verknöcherung des andern zulässt.

Es gilt daher, die Dynamik in der Diskussion über einen Verbotsvertrag in eine Dynamik des Handelns zu übertragen. Verbotsvertrag und Nichtverbreitungsvertrag sind die beiden Grundpfeiler zur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt. Es braucht sie beide und es braucht sie im wechselseitigen Verhältnis zueinander. Das Ziel der weltweiten Eliminierung aller Massenvernichtungswaffen sollte für Deutschland sicherheitspolitisch Grund genug sein, seinen Beitrag für den Aufbau des nuklearen Rüstungskontrollregimes der Zukunft zu leisten.

 

[1] Eine vertiefende Lektüre zur nuklearen Aufrüstung der Bunderepublik bietet Hans Karl Rupp (1970): Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer: Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln.

[2] Arnold Piok (2003): Kennedys Kuba-Krise – Planung, Irrtum und Glück am Rande des Atomkrieges 1960–1962. Reihe diplomica, 1. Auflage, Marburg; Peter Anthony (2014): The Man Who Saved the World“, Dokumentarfilm über Stanislav Petrow, der am 26. September 1983 als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom System gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR als Fehlalarm einstufte.

[3] Der zunächst als ius in bello bzw. Kriegsvölkerrecht bekannte Rechtskörper wurde nach und nach kodifiziert, 1899 in den Haager Abkommen, 1907 in der Haager Landkriegsordnung, 1949 in den vier Genfer Abkommen und 1977 in zwei zugehörigen Zusatzprotokollen.

[4] Biowaffenkonventionen vom 10. April 1972, in Kraft seit 26. März 1975; Chemiewaffenkonvention vom 13. Januar 1983, in Kraft seit 29. April 1997

[5] Atomwaffen wurden für den Einsatz gegen Städte und Siedlungsgebiete entwickelt. Dieser lässt sich nicht auf legitime militärische Ziele begrenzen und fordert immer auch zivile Opfer. Weltweit könnten kein Staat, kein Staatenbündnis und keine Organisation auf eine durch Atomwaffen verursachte humanitäre Katastrophe angemessen reagieren. Zur Vertiefung: Leo Hoffmann-Axthelm (2014): Atomwaffen ächten. Die humanitäre Notwendigkeit eines Verbotsvertrages. ICAN Deutschland, Berlin.

[6] Der Größe ihres Atomwaffenarsenals nach Russland, USA, Frankreich, China und Großbritannien

[7] Bundestagsbeschluss vom 24.3.2010: Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen, Drucksache 17/1159. Auf Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen.

[8] Er zielt darauf ab, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, nukleare Abrüstung voranzutreiben und die Zusammenarbeit in der zivilen Nutzung von Nukleartechnologie zu fördern.

[9] Die Verpflichtung der Nuklearwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung ist in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages festgeschrieben.

[10] Ähnlich der Biowaffen- und Chemiewaffenkonvention, in denen die Besitzerstaaten zur vollständigen Abrüstung und Vernichtung verpflichtet wurden.

[11] Derzeit gibt es insgesamt 6 vertraglich abgesicherte atomwaffenfreie Zonen, darunter die Antarktis, Lateinamerika/Karibik, der Südpazifik, die Mongolei, Südostasien, Afrika, Zentralasien und die Gebiete der ehemaligen DDR und West-Berlins.