Die Identitätsfalle

"Lügen und Wahrheiten" Teil 1: Erinnerungen an ein paar Dachschäden und Freiräume im alten Prenzlauer Berg. Der Dichter Andreas Koziol sorgte in den achtziger Jahren in Ost und West für Furore in den Feuilletons. Auch die Stasi war in dem Künstler-Biotop im Prenzlauer Berg leibhaftig präsent. In seinem Essay "Lügen und Wahrheiten" berichtet er von einer fast vergessenen Epoche Ostberliner Subkultur.

In Bezug auf Interesse an alten Geschichten würde ich den tragikomischen Stoff, aus dem mein DDR-Schicksal war, am liebsten in der Mottenkiste ruhen lassen. Leider geht das nicht, der Stoff wird einem ja von den Bild- und Printmedien in nur wenig voneinander abweichenden Methoden der Verarbeitung und des Zuschnitts alle Jahrestage wieder zum Anprobieren vorgehalten. Man sieht sich die ausgestrahlten Sachen an, versetzt sich zwangsläufig in sie hinein und findet sie in zweierlei Hinsicht zu eng. Einmal, weil man es selber kaum noch rafft, daß man es tatsächlich bis zum Schluß in einem staatlich konstruierten System der Angst vor dem eigenen Schatten ausgehalten hat. Und einmal, weil man im Spiegel der sich im elektronischen Mediengedächtnis festsetzenden Bilder nur den politisch determinierten Teil von dem wiederfindet, was man wirklich gesehen, gedacht und erlebt hat.

Diese massenmedial formatierte Sorte Spiegel ist blind gegen das Authentische, sie reflektiert eigentlich nur die Rahmenbedingungen, und alles, was sich aus diesen nicht ableiten läßt, scheint es nie gegeben zu haben. Das ist schade, aber nicht zu ändern, zumal der Zahn der Zeit auch ohne den zeithistorischen Hyänenjournalismus von den alten Erinnerungen nur die dokumentarisch verkleideten Skelette übrig läßt, die sich dann gewissen allgemein geltenden Mustern, sozusagen ereignispaläontologischen Typologien, unterordnen müssen. Wer in der DDR gelebt hat, der hat eben in der DDR gelebt, und nicht etwa auf dem Mond oder in irgendeinem anderen Wahn.

Dennoch hat manch einer so undefinierbar eigen und rein zufällig in der DDR gelebt, daß es von vornherein nie die ganze Wahrheit werden kann, wenn man ihn seine Geschichte erzählen läßt, die nun nichts anderes als seine DDR-Geschichte sein darf. Erst war man jung und träumte mit offenen Augen, und noch ehe man dabei an seine tatsächlichen Grenzen kam, fuhr einem der Zug der deutschen Einheit mitten durch die Biografie. Die danach weiterlebende Hälfte konnte sich zwar freuen, denn „in der DDR begraben sein“ wollte man nun wahrlich nicht. Aber man verspürte auch keine Lust, sich nur noch zum narrativen Idioten einer politischen Fremdbestimmungsgeschichte zu machen, die durch jedes Bild spricht, das in und über die DDR entstanden ist. Wer sich, wie das früher oft so zu hören war „mit der DDR nicht identifizieren“ konnte, obwohl er darin lebte, darf oder muß gerade dieses Problem zum Motiv seiner eigenen Geschichte machen. Aber was, wenn er sich auch mit der neuen Ordnung, die die alte geschluckt (und nicht gut verdaut) hat, „nicht identifizieren“ kann? Mit welchem Selbstverständnis erzählt er dann?

Ich als einer, der nie ein Gefängnis oder Straflager von innen kennenlernen mußte, bin gegenüber jedem Bild, das sich jemand von mir machte und mich damit nicht verschonen konnte, ein Fremdbestimmungsallergiker gewesen. Und auch als Element auf einem Kollektivbild hatte ich, sowohl während der Aufnahme als auch im Nachhinein, noch nie etwas verloren, außer der Illusion, irgendwie trotzdem mit dazugehört haben zu müssen oder zu wollen. Das ist keine pauschale Polemik gegen die Ablichtung von menschlichen Erscheinungen, die in ihren Wesenseigenheiten aufeinander bezogen sind, sondern nur Bekenntnis eines treuen Unbehagens an der Bildidentität, die nie mit einem selber übereinstimmt. Ich sollte vielleicht besser darüber schweigen, sonst kommt noch jemand auf die Idee, daß der Verfasser dieser Zeilen sich in Zeiten vor der Erfindung der photomechanischen Wiedergabemöglichkeit von gegenständlichen Augenblicken zurückwünscht. So ist das aber auch wieder nicht, und außerdem habe ich mich längst damit abgefunden, als komischer alter Knochen mit einem immer schwächer werdenden Widerstreben gegen nicht naturgebene, sondern nachwendezeitlich „generierte“, Ossifizierung herumzulaufen. Und darum bitte ich, den ganzen Text, der hier steht, unter anderem als den Versuch bzw. den Essay eines lebenden Fossils zu lesen, das sich bei allem Respekt vor den größeren Geschichtszusammenhängen um die Ausgrabung von fast nichts bemüht: seine Lebenswahrheit in Zeiten der glücklichen Fluchten und Selbstversenkungen vor den Akten der Dressur zu einem „nützlichen Mitglied unserer Gesellschaft“.


Ironien und Konsequenzen

„Wer die Tragödie überlebt, ist nicht ihr Held gewesen“, sagt ein, in meinen Freundeskreisen der 70er Jahre beliebt gewesener, Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec. Wenn wir ihn damals gelegentlich zitierten, so gaben wir damit nicht etwa dem Wunsch nach einem eigenen Heldentod selbstkritischen Ausdruck, sondern ironisierten die Übertriebenheit eines tragischen Lebensgefühls bei bedrängenden inneren und äußeren Zuständen, die eher den Charakter einer Groteske oder Farce trugen. Uns erschien die Lage weder tragisch noch völlig hoffnungslos, eher unannehmbar, weil abwechselnd zu bieder und zu brutal. Zynismus als Überlebenshaltung lehnten wir ab, denn so, wie wir damals Zynismus (und natürlich viel zu oberflächlich) verstanden, hatte er zu viel mit Einverstandensein zu tun. Wir waren alles andere als einverstanden. Wir waren prinzipiell dagegen, Teil einer Ordnung sein zu sollen, deren Aufrechterhaltung den Menschen zerstörte. Und klar werden wollte uns gleichermaßen, daß ein reines Dagegensein auf Dauer nur Teilnahme an der Zerstörung bedeuten würde.

Damals lebte ich noch nicht im Prenzlauer Berg, jedoch schon seit etlichen Jahren unter dem Eindruck einer Enttäuschtheit von meiner eigenen Generation. Die war staatlicherseits dem weiteren sogenannten Aufbau des Sozialismus geweiht worden und sollte sich doch, meiner verträumt-aggressiven Meinung nach, stattdessen lieber schnellstens von dem Vorhaben verabschieden, einen Werdegang anzustreben, der nicht so sehr steinig als vielmehr schleimig ausfallen dürfte, soweit es die erwartbaren Aufstiegsmöglichkeiten betraf. Es erübrigt sich an dieser Stelle beinahe hinzuzufügen, daß ich mich mit dem eigenen Erwarten von etwas ganz anderem selber auf dem Holzweg befand, wahrscheinlich führte der naive Idealist in mir einen vergrübelten Partisanenkrieg gegen den ewigen Spießer in jedem, „außer uns, versteht sich“, und suchte dafür Munition in Büchern der Weltliteratur sowie Anschluß an wenigstens annähernd Gleichgesinnte.

Welche sich aber innerhalb der eigenen Generation bis dato rar machten, weshalb ich dann auch später sehr neugierig auf den Prenzlauer Berg geworden war, weil dort ein paar junge Dichter wohnten, die ebenfalls in ihren noch jüngeren Jahren etwas ähnliches aufgebracht zu haben schien. Mein Abbruchs- und Neuorientierungsverhalten glich im Rückblick dem jener zunächst atypischen jungen Existenzen, die es beizeiten aus der vorgeplanten Bahn geworfen hatte, die nunmehr sozusagen neben der Spur waren, dabei nach ähnlichen ausgeworfenen Gestalten Ausschau hielten und sich im Laufe alles Kommenden noch sehr darüber wundern und daran stoßen sollten, wie viele außer ihnen selber ebenfalls neben der Spur waren und wie wenig dies allein für die Herstellung von tragfähigen Gefühlen des Zueinandergehörens taugen würde.

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