40 Jahre nach dem Völkermord: Pol Pots "Brüder" verurteilt

Nuon Chea and Khieu Samphan
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Nuon Chea, Chefideologe der Roten Khmer, und der ehemalige Staatspräsident Khieu Samphan bei der Urteilsverkündung

Fast 40 Jahre nach dem Beginn der Diktatur der Roten Khmer sind jetzt die Urteile im Prozess gegen zwei der ranghöchsten Verantwortlichen für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Nuon Chea, der so genannte Bruder Nr. 2, Chefideologe der Roten Khmer und engster Vertrauter von Diktator Pol Pot, wurde ebenso zu lebenslanger Haft verurteilt wie der ehemalige Staatspräsident der Roten Khmer, Khieu Samphan.

Die so genannten Roten Khmer waren die „Kommunistische Partei Kampuchea“, die seit Mitte der 60er Jahre einen Guerillakrieg gegen die kambodschanische Regierung führte. Als 1970 General Lon Nol mit US-Unterstützung gegen Prinz Sihanouk putschte und die USA im Rahmen ihres Krieges gegen Vietnam auch Kambodscha mit Flächenbombardements überzogen, um die Nachschublinien der Vietcong zu zerstören, wandte sich vor allem die ländliche Bevölkerung den Roten Khmer zu.

Die Kommunisten präsentierten sich als Partei des Friedens und mobilisierten so weite Teile der Bevölkerung, die unter dem fortgesetzten US-Bombardement zu leiden hatten. Am 17. April 1975 nahmen die Roten Khmer die Hauptstadt Phnom Penh ein und begannen sofort mit der gewaltsamen Evakuierung der Stadt. Offiziell um einem drohenden amerikanischen Bombenangriff zu entgehen, verfolgten die Roten Khmer vor allem die radikale Umsetzung eines Bauernstaats.

Sie schafften Privatbesitz, Geldwährung und staatliche Institutionen ab, Intellektuelle und Akademiker/innen wurden umgebracht. Oft reichte der Besitz einer Brille aus, um als gebildet zu gelten und dem Tod geweiht zu sein. Ethnische und religiöse Minderheiten wurden verfolgt. Einem orwellschen großen Bruder gleich, herrschte die Partei unter dem Namen Angkar, „die Organisation“, und forderte bedingungslosen Gehorsam.


Sexuelle Gewalt nicht geahndet


Schätzungen gehen davon aus, dass allein in den vier Jahren der Herrschaft der Roten Khmer zwischen 1,7 und 2 Millionen Menschen umgebracht wurden, ein Viertel der damaligen Bevölkerung Kambodschas. Tausende Männer und Frauen, auch Homosexuelle und Transgender wurden in arrangierte Ehen gezwungen. Diese Form der sexualisierten Gewalt hat bis heute noch zu wenig Berücksichtigung bei der Aufarbeitung der Diktatur gefunden.

Fotografien der Getöteten, ausgestellt in einer Schule in Phnom Penh

Schätzungen gehen davon aus, dass 45% der kambodschanischen Bevölkerung unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Die Traumata werden von der Elterngeneration an die Kinder weitergegeben. Nur vier Psychologen überlebten das Khmer Rouge Regime und bis heute gibt es zu wenig psychologisch ausgebildete Expert/innen, um die Wunden des Krieges und des Terrors zu heilen.
Erst mit dem Einmarsch vietnamesischer Truppen im Januar 1979 wurde die Schreckensherrschaft der Roten Khmer beendet. Diese zogen sich in die Dschungelgebiete an der Grenze zu Thailand zurück, von wo aus sie noch lange einen Guerillakrieg führten und bis zum Tod Pol Pots 1998 die kambodschanische Politik mit beeinflussten.

Obwohl sie 1979 von der Macht verdrängt worden waren, hatten die Roten Khmer noch bis 1991 den UN-Sitz Kambodschas inne - einer der großen Skandale des Kalten Krieges. Weil der Westen die vietnamesisch gestützte Regierung Kambodschas nicht anerkennen wollte, blieben die Schlächter der Roten Khmer das internationale Gesicht Phnom Penhs bei der UN.

Die Opfer lebten Jahrzehnte neben den Tätern


Gerade diese Unterstützung der UN für die Roten Khmer hat viele Kambodschaner/innen zu der Überzeugung gelangen lassen, dass die UN nicht das Recht haben, einen Gerichtshof in Kambodscha einzurichten. Die Ausgangslage für das Kambodscha-Tribunal war damit denkbar schlecht. Das Gericht hatte mit vielfachen Problemen zu kämpfen. Allein die Tatsache, dass es 25 Jahre dauerte, bis das kambodschanische Parlament die Einsetzung eines Tribunals beschloss, bedeutete ein fortgesetztes Leiden der Opfer, die vor allen in ländlichen Regionen neben den Tätern wohnten.

Erst 2006 nahmen die Außerordentlichen Kammern an den Gerichten Kambodschas (ECCC) ihre Arbeit auf. Allerdings kann der ECCC qua Mandat nur die Zeit der Khmer Rouge- Herrschaft von 1975 bis 1979 untersuchen, womit sowohl die Verbrechen des Indochinakrieges vorher als auch des nachfolgenden Bürgerkrieges bis heute ungesühnt blieben.

Das erste Verfahren des ECCC konnte relativ schnell beendet werden, vor allem weil der Angeklagte, der ehemalige Vorsteher des berüchtigten Foltergefängnisses S-21 Kaing Guek Eav alias „Duch“, geständig war und Reue zeigte. In S-21 in Phnom Penh waren schätzungsweise 17.000 Menschen ermordet worden. Nur sieben Menschen überlebten.

Der ECCC: Gerichtshof mit Konstruktionsmängeln


Doch das zweite Verfahren gegen vier Hauptverantwortliche der Roten Khmer offenbarte die Konstruktionsmängel des Gerichtshofs. Die quälend langsamen Prozeduren des ECCC führten dazu, dass der angeklagte ehemalige Außenminister der Demokratischen Republik Kampuchea und Bruder Nr. 3, Ieng Sary, im Laufe des Verfahrens verstarb, ohne dass das Urteil gesprochen worden war. Seine mitangeklagte Frau Ieng Thirit, Sozialministerin der Roten Khmer, musste wegen Demenz vom Verfahren eingestellt werden. Beides resultierte in großer Unzufriedenheit innerhalb der kambodschanischen Bevölkerung.

Dazu kommt, dass in einem Entwicklungsland wie Kambodscha, in dem immer noch viele Menschen ein monatliches Einkommen unterhalb der Armutsgrenze haben, die über 200 Millionen Dollar, die das Tribunal bis heute gekostet hat, für lediglich drei Urteile verschwendet scheinen. Doch Gerechtigkeit lässt sich nicht mit Geld aufwiegen, und im Vergleich mit anderen internationalen Gerichtshöfen ist das Kambodschatribunal keineswegs überfinanziert.

Allerdings machte die in Kambodscha endemisch vorkommende Korruption auch vor den Toren des ECCC nicht Halt. Es führte zu einem großen Skandal, als 2009 berichtet wurde, dass Angestellte einen Teil ihres Gehalts an die Vorgesetzten abgeben mussten, um überhaupt eine Stelle zu erhalten. Interne Prüfungen ergaben ebenfalls, dass einige Angestellte Positionen innehatten, für die sie gar nicht qualifiziert waren. Die internationale Gebergemeinschaft, in der neben Japan und Australien auch Deutschland als wichtiger Finanzier vertreten ist, verlor langsam die Geduld mit dem Tribunal, das ursprünglich auf drei Jahre angesetzt war, aber nun schon acht Jahre andauert und immer noch keinem Ende entgegensieht.

Macht ist immer noch stärker als das Recht


Der kambodschanischen Regierung dürfte es nur recht sein, wenn entweder die Angeklagten wegsterben oder der Geldhahn zugedreht wird. Premierminister Hun Sen, selbst ein ehemaliger Khmer Rouge-Offizier, der zu den Vietnamesen übergelaufen war, hat mehrfach betont, dass es nach den jetzigen zwei Fällen keine neuen Fälle mehr geben wird. Zwar laufen derzeit Ermittlungen in einem dritten und vierten Fall, doch die betreffen u.a. einen erfolgreichen Geschäftsmann und einen Provinzgouverneur, die beide so nah an Hun Sen dran sind, dass er seine schützende Hand über sie hält. Die Unabhängigkeit des Gerichts ist Premierminister Hun Sen dabei egal; in Kambodscha gilt immer noch das Sprichwort, dass die Macht stärker ist als das Recht.

Khmer Rouge Case 002/01 video highlights from the trial judgement - Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia

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Und schon jetzt gibt es Ärger über die Fortführung des Verfahrens im so genannten Fall 002/02. Die Anwält/innen von Nuon Chea haben bei Prozesseröffnung beantragt, drei hochrangige Politiker als Zeugen vorzuladen: Parlamentspräsidenten Heng Samrin, den Senatspräsidenten Chea Sim und Senator Ouk Bunchoeun. Sie waren führende Kader der Roten Khmer, bis sie vor den Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen geflohen und zur vietnamesischen Armee übergelaufen sind. Frühere Versuche von Verteidiger/innen, Politiker/innen in den Zeugenstand zu rufen, haben schwere Verwerfungen verursacht und sind eingestellt worden. Auch dies hat dazu geführt, dass gleich reihenweise internationales Personal am ECCC die Unabhängigkeit nicht gewahrt sah und das Handtuch geworfen hat.


Weitgehende Opferbeteiligung am Prozess


Sicherlich ist das Urteil gegen Nuon Chea und Khieu Samphan trotz aller Fehlentwicklungen am ECCC als wichtiger Beitrag im Kampf gegen Straflosigkeit zu beurteilen. Es sendet ein starkes Signal aus, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord auch noch viele Jahre nach ihrem Verüben geahndet werden können und auch hochrangige Verbrecher/innen davon nicht ausgeschlossen sind.
Vor allem bei den Opfern der Khmer Rouge wird sich Genugtuung einstellen, dass durch das Urteil ihr Leiden anerkannt wird.

Der Gerichtshof hat den Opfern weitgehende Beteiligung am Verfahren ermöglicht. Einige konnten nicht nur als Zeug/innen aussagen, sondern auch als Nebenkläger/innen auftreten und erhielten das Recht auf Akteneinsicht und Befragung der Angeklagten. Auch die teilweise mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen umgesetzte Öffentlichkeitsarbeit des ECCC ist positiv zu bewerten: Die Anhörungen wurden soweit es ging im Fernsehen live übertragen, Radiosendungen wurden produziert, die Presse berichtete ausführlich.

In ländlichen Regionen wurden Informationsmaterialien verteilt und Diskussionsrunden organisiert. Junge Menschen erhielten die Möglichkeit, ein Praktikum im Gerichtshof zu absolvieren und es gab Trainingsmaßnahmen für die Angestellten des Tribunals. Ob sich daraus langfristig quasi als trickle-down-Effekt eine Verbesserung im notorisch korrupten und politisch gelenkten Justizwesen Kambodschas einstellt, muss abgewartet werden.

Allerdings ist der Prozess mit dem Schuldspruch vom 7. August 2014 noch nicht beendet. Berufung ist bereits angekündigt, das Verfahren wird sich deshalb wahrscheinlich noch bis 2016 hinziehen. Ob die beiden hochbetagten und altersschwachen Angeklagten dies noch erleben werden, ist fraglich.

Die Heinrich Böll Stiftung Kambodscha wird am 12. August eine Expert/innen-Anhörung durchführen, um das Urteil sowohl aus juristischer Sicht als auch aus der Opferperspektive zu beleuchten.