Was bedeutet internationale Verantwortung Deutschlands?

Heinrich August Winkler
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Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Professor em. für Neueste Geschichte, Humboldt-Universität Berlin

Das „Zeitalter der Extreme“: So lautet der einprägsame Titel von Eric Hobsbawms Buch über das 20. Jahrhundert.[1] Über dieses Zeitalter nachzudenken hat kein Land soviel Anlass wie Deutschland. Denn in seiner ersten Hälfte trug das vergangene Jahrhundert einen deutschen Stempel. Das liegt nicht nur an dem maßgeblichen Anteil, den das Deutsche Reich an der Auslösung des Ersten Weltkriegs, der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, hatte.[2] Es liegt auch daran, dass es ohne aktive deutsche Hilfe die Machtergreifung der russischen Bolschewiki im November 1917 nicht gegeben hätte – ein epochales Ereignis, das aus der Vorgeschichte zweier anderer Machtergreifungen totalitärer Bewegungen, derjenigen der italienischen Faschisten 1922 und jener der deutschen Nationalsozialisten 1933, nicht wegzudenken ist. Dass auf den Ersten Weltkrieg ein Vierteljahrhundert später der Zweite folgte, war durchaus nicht zwangsläufig. Aber auch hier gilt: Ohne die Urkatastrophe von 1914 sind die Folgekatastrophen nicht zu erklären.

Deutschland war kulturell ein Land des Westens. Es hatte die großen europäischen Emanzipationsprozesse seit dem Mittelalter mitvollzogen, ja im Fall der Reformation in Gang gesetzt und Teil gehabt an der europäischen Aufklärung. Wesentlichen politischen Konsequenzen der Aufklärung aber in Gestalt der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie hatten sich die herrschenden Eliten Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert hinein verweigert. Der Erste Weltkrieg wurde von den deutschen Kriegsideologen als Kampf der „Ideen von 1914“ gegen die Ideen von 1789 geführt. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fanden ihr Gegenstück im Bekenntnis zu einem starken Staat, zur Volksgemeinschaft und zu einem „deutschen Sozialismus“. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, galt der politischen Rechten als Produkt der Niederlage, als Staatsform der Sieger und damit als „undeutsch“. Die höchste Steigerung des deutschen Ressentiments gegen den Westen und sein normatives Projekt, die Ideen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, war die Herrschaft des Nationalsozialismus – die „deutsche Katastrophe“, von der der Historiker Friedrich Meinecke 1946 sprach.[3]

Erst nach der zweiten, diesmal totalen Niederlage Deutschlands im 20. Jahrhundert konnte sich die westliche Demokratie in Deutschland, genauer gesagt, in einem Teil Deutschlands, dem westlichen, durchsetzen. Dass es dazu kam, war ein Gemeinschaftswerk der westlichen Alliierten, an ihrer Spitze der Vereinigten Staaten, und der weise gewordenen Weimarer, der Väter und Mütter des Bonner Grundgesetzes, die das „Dritte Reich“ überlebt und aus dem Scheitern der Demokratie von 1918/19 Schlussfolgerungen für den Aufbau einer abwehrbereiten und funktionstüchtigen parlamentarischen Demokratie gezogen hatten. Die anfangs höchst umstrittene Westbindung mitsamt dem Beitrag der Bundesrepublik zum westeuropäischen Einigungsprozess, das Werk einer Koalition der rechten Mitte unter Konrad Adenauer, hörte seit der historischen Kurskorrektur der Sozialdemokraten von 1959/60 auf, Gegenstand innenpolitischer Kontroversen zu sein.

Ein Vierteljahrhundert später, während des „Historikerstreits“ von 1986 um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes, wertete Jürgen Habermas die „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“ als diejenige intellektuelle Leistung der westdeutschen Nachkriegszeit, auf die gerade seine Generation stolz sein könne.[4] Das Verdikt des Philosophen wurde zur Geburtsstunde einer posthumen Adenauerschen Linken – einer informellen Koalition, der sich im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch die Grünen anschlossen.[5]

Bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit waren die beiden deutschen Staaten nur beschränkt souverän gewesen. Mit der Wiedervereinigung hörten die alliierten Vorbehaltsrechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes zu bestehen auf. Mit der wiedergewonnenen Souveränität aber tat sich das vereinte Land schwer. Das zeigte sich bereits im Golfkrieg von 1991 und erst recht bei den jugoslawischen Nachfolgekriegen der neunziger Jahre. Das „Out-of-area“ Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 schuf dann juristische Klarheit, unter welchen Bedingungen humanitäre und/oder militärische Einsätze der Bundeswehr auch außerhalb des Bündnisgebiets zulässig waren.

Im Jahr darauf, am 30. Juni 1995, stimmte der Bundestag einem Einsatz der Bundeswehr zum Schutz und zur Unterstützung der „Schnellen Eingreiftruppe“ in Bosnien-Herzegowina mit den Stimmen der christlich-liberalen Koalition zu. Die Mehrheit der SPD, die meisten Grünen und die PDS lehnten ihn ab. Den 45 sozialdemokratischen Abweichlern, die für den Einsatz stimmten, hielt der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, entgegen, Deutschland könne auch nach der großen Wende in Europa „nicht in dem Sinne ein normales Land werden …, wie andere ohne eine so anomale Geschichte es sind. Wer es immer noch nicht glaubt, sollte sich einmal fragen, was das erst jüngst eröffnete Washingtoner Holocaust-Museum bedeutet.“[6]

Abermals drei Jahre später wurde Deutschland erneut mit dem Problem seiner internationalen Verantwortung konfrontiert. Wenige Tage vor der Bildung der ersten rot-grünen Bundesregierung stimmte der Bundestag am 16. Oktober 1998 mit großer Mehrheit, darunter den Stimmen der meisten Sozialdemokraten und Grünen, einer Beteiligung der Bundeswehr an einem möglichen Einsatz des Atlantischen Bündnisses gegen die aggressive Politik Serbiens im Kosovo zu. In den Begründungen dieser humanitären Intervention spielte der Holocaust erneut eine große Rolle, aber jetzt als Argument für einen Einsatz, der einen Völkermord an den Kosovo-Albanern verhindern sollte. Die Berufung auf das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten mochte mitunter auch dazu dienen, verbliebenen Zweifeln der regierenden Linken entgegenzuwirken, ob eine Befriedung der umkämpften Region mit militärischen Mitteln möglich sein würde. Aber anders als 1995 waren 1998/99 auch die Abgeordneten der Sozialdemokraten und der Grünen nahezu geschlossen bereit, die Konsequenzen mitzutragen, die sich aus dem Souveränitätszuwachs von 1990 ergaben. Deutschland handelte wie alle Demokratien des Westens. Es blieb kleinen Minderheiten überlassen, unter Hinweis auf die deutsche Vergangenheit auf einer deutschen Sonderrolle zu beharren.[7]

Auschwitz als Argument in aktuellen deutschen Debatten ist seit der Jahrtausendwende seltener geworden, und das ist gut so. Denn jede tagespolitische Bezugnahme auf die Ausrottung der europäischen Juden gerät in die Gefahr einer Instrumentalisierung und damit einer Banalisierung des schrecklichsten Ereignisses der deutschen und der europäischen Geschichte. Die Berufung auf die Einzigartigkeit der Judenvernichtung zu dem Zweck, andere, neuere Verbrechen nicht zu verurteilen oder sie zu relativieren, bedeutet nichts anderes, als dass der Hinweis auf Auschwitz als Vorwand einer Entsensibilisierung gegenüber der Missachtung von Menschenrechten herhalten muss. Wenn eine solche Argumentation ernst gemeint ist, ist sie der Ausdruck eines pathologischen Lernprozesses.

Die Westbindung Deutschlands schloss immer eine enge Verbindung mit der westlichen Führungsmacht, den Vereinigten Staaten, ein. Eine bedingungslose Unterwerfung unter das, was Washington jeweils unter westlichen Interessen versteht, bedeutet die Westbindung nicht. Das rot-grüne Nein zum Irakkrieg von 2003 war völkerrechtlich und politisch wohlbegründet und ein Akt der Emanzipation von einem Amerika, das unter George W. Bush seine eigenen Werte fundamental in Frage stellte. Eine Aufkündigung der westlichen Wertegemeinschaft aber folgt aus diesem transatlantischen Konflikt nicht. Wenn Europäer und Amerikaner sich über grundsätzliche Fragen streiten, handelt es sich fast immer um unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer Werte. Das gilt für die Kontroversen über die Todesstrafe und das staatliche Gewaltmonopol, über das Verhältnis von Religion und Politik, über die soziale und ökologische Verantwortung des Staates und nicht zuletzt, wie bei den globalen Abhöraktionen der NSA, über den Vorrang von individueller Freiheit oder nationaler Sicherheit. Die politische Kultur des Westens ist immer auch eine Streitkultur. Sie beruht auf der Einsicht, dass die Gemeinsamkeiten des Westens stark genug sind, um Differenzen auszuhalten, ja als Chance zur Weiterentwicklung des normativen Projekts des Westens zu begreifen.

Auch nach dem Ende der Präsidentschaft des jüngeren Bush kam es immer wieder zu Spannungen zwischen den USA und Teilen von Europa. In einem Fall, der Auseinandersetzung um eine humanitäre Intervention im libyschen Bürgerkrieg, begab sich Deutschland durch seine undurchdachte Stimmenthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 nicht nur in einen Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, sondern auch zu zwei seiner westeuropäischen Verbündeten, Frankreich und Großbritannien – eine bisher noch nicht dagewesene Selbstisolierung Deutschlands.

Das im Juli 1994 von dem damaligen freidemokratischen Außenminister Klaus Kinkel geprägte Wort von der „bewährten Kultur der Zurückhaltung“ bei Militäreinsätzen,[8] auf das sich auch der liberale Außenminister der schwarz-gelben Koalition der Jahre 2009 bis 2013, Guido Westerwelle, gern berief, gewann bei dieser Gelegenheit eine neue Bedeutung: Wichtige westliche Alliierte sahen darin immer mehr eine beschönigende Umschreibung einer innenpolitisch motivierten Flucht aus der außenpolitischen Verantwortung, ja einen neuen, diesmal mehr oder minder pazifistischen deutschen Sonderweg. Vor diesem Hintergrund sind auch die wiederholten, wohlbegründeten Mahnungen von Bundespräsident Joachim Gauck zu verstehen, Deutschland müsse mehr internationale Verantwortung übernehmen – eine Verantwortung, die dem wirtschaftlichen und politischen Gewicht der Bundesrepublik in Europa und der Welt entspricht. Wenn es um die Verteidigung von Frieden und Menschenrechten geht, kann das als ultima ratio auch Einsätze der Bundeswehr einschließen.

Zu den Belastungen des transatlantischen Verhältnisses ist schon vor geraumer Zeit eine dreifache Krise des europäischen Einigungsprozesses hinzugekommen. Die erste dieser Krisen, die der Eurozone, mag ihren Höhepunkt inzwischen überschritten haben, überwunden ist sie noch längst nicht. Die zweite Krise resultiert aus der Gefährdung der Demokratie in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, obenan Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Das Ausmaß dieser Bedrohung des Zusammenhalts der EU wird noch immer unterschätzt, und das auch deshalb, weil der konservative Budapester Regierungschef Viktor Orbán den Rückhalt der in der Europäischen Volkspartei vereinigten konservativen und christdemokratischen Parteien genießt, während der Sozialdemokrat Victor Ponta in Bukarest sich über die verständnisvolle Haltung der europäischen Sozialisten freuen kann. „Haust Du meinen Viktor (Victor), hau ich deinen Victor (Viktor)“: Das scheint bisher die unausgesprochene Devise der beiden größten Parteifamilien zu sein. Daher spricht alles für den Vorschlag des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller, eine unabhängige „Kopenhagen-Kommission“ einzusetzen, die im Vorfeld möglicher Sanktionen auf Antrag der Europäischen Kommission oder auf der Grundlage einer Petition tätig wird, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass ein Mitgliedstaat die Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 verletzt.[9]

Die dritte Krise des europäischen Einigungsprozesses ist die Legitimationskrise des Projekts Europa, wie sie sich auch in den Stimmengewinnen rechts- und linkspopulistischer Parteien bei der Wahl zum Europäischen Parlament von Ende Mai 2014 spiegelt. Die Kritik an der wachsenden Verselbstständigung der Exekutivgewalt in Brüssel ist nicht neu, und sie ist zu erheblichen Teilen gerechtfertigt. Allzu lange sind Entscheidungen über Zukunftsfragen der Gemeinschaft, auch im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess, hinter verschlossenen Türen getroffen und der Öffentlichkeit als „fait accompli“ präsentiert worden. Der Ausgang des derzeitigen Machtkampfes zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat ist offen. Im Prinzip wäre eine Parlamentarisierung der Kommissionsspitze ein Schritt nach vorn, weil sie das Gewicht des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat stärken würde. Das gilt trotz verbreiteter Zweifel, ob der konkrete Personalvorschlag des (alten) Parlamentspräsidiums geeignet ist, die EU politisch voranzubringen: Der konservative „Spitzenkandidat“ (ein deutscher Begriff, der sich unübersetzt im Englischen durchzusetzen beginnt), gilt bis weit in die eigenen Reihen hinein als Verkörperung des „Elitenprojekts Europa“ und des „Weiter so“ einer Politik, die in fortschreitender Integration einen nicht mehr begründungsbedürftigen Selbstzweck zu sehen scheint.

In einem Gespräch mit Nils Minkmar hat Jürgen Habermas (in der FAZ vom 30. Mai) die Staats- und Regierungschefs, die Jean-Claude Juncker an der Spitze der Kommission sehen wollen, aufgefordert, den Ländern, die sich dieser Lösung entgegenstellen, den Austritt aus der Europäischen Union nahezulegen. Andernfalls würden die Unterstützer des erfolgreicheren unter den beiden aussichtsreichsten „Spitzenkandidaten“ ihren eigenen Ruf als Demokraten aufs Spiel setzen. „Im Fall eines unlösbar zugespitzten Konflikts bliebe immer noch die Möglichkeit einer Neugründung der Europäischen Union in ihren bisherigen Institutionen – eine Drohung, der auch Herr Cameron kaum widerstehen dürfte.“[10]

Über den Widerspruch von Viktor Orbáns Ungarn gegen einen Kommissionspräsidenten Juncker kann sich die Mehrheit des Europäischen Rats in der Tat hinwegsetzen. Der Fall des widerstrebenden Großbritannien liegt anders, und die Vorstellungen seines Premierministers von einer Rückübertragung von Aufgaben von Brüssel auf die Nationalstaaten sind sehr viel diskussionswürdiger als alles, was der Budapester Regierungschef von der EU erwartet. Deutschland und Europa können kein Interesse daran haben, den ohnehin möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu provozieren. Ebenso wenig kann Deutschland daran liegen, die Niederlande und Schweden, die ebenfalls Bedenken gegen einen Kommissionspräsidenten Juncker geäußert haben, nachhaltig zu verprellen. Eine EU ohne diese drei Staaten wäre illiberaler, protektionistischer und krisenanfälliger als die EU der 28, und allein das Ausscheiden Großbritanniens würde die Gemeinschaft als globalen Akteur nachhaltig schwächen. Ein Konfliktkurs, der eine solche Umgründung der EU zur Folge hätte, ist nichts, worauf sich die deutsche Politik einlassen darf. Schon der Eindruck, Deutschland wolle der Europäischen Union im Eilverfahren eine von ihm für richtig gehaltene institutionelle Neuordnung aufdrängen, wäre kontraproduktiv.

Wenn die Parlamentarisierung der Kommissionsspitze ohne negative Folgen für den Zusammenhalt der EU gelingen sollte, wäre sie ein Fortschritt, aber noch nicht das, was seit langem ein Ziel der deutschen Politik ist und bleiben muss: die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Politischen Union, also eine grundlegende Reform der EU. Dieses Ziel ist jedoch an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden. Eine der Vorbedingungen ist eine gemeinsame politische Kultur, und zwar die politische Kultur des Westens, zu der sich die EU in den Kopenhagener Beitrittskriterien und in der Europäischen Grundrechtecharta von 2000 bekannt hat. Die Fälle Ungarn, Rumänien und Bulgarien zeigen, dass von einem solchen Konsens im Rahmen der EU der 28 zurzeit nicht gesprochen werden kann. Eine Politische Union bedürfte überdies einer grundlegenden Übereinstimmung der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Grundzüge einer wirtschaftlichen und fiskalischen Reformagenda – einer Übereinstimmung, die nur in einem europaweiten öffentlichen Diskurs erzielt werden könnte. Einen solchen reformpolitischen Gleichklang gibt es aber nicht einmal da, wo er am nötigsten wäre: innerhalb der Währungsunion und zwischen ihren beiden größten Mitgliedern, Deutschland und Frankreich.

Einen engeren Zusammenschluss der reformbereiten Mitgliedstaaten der EU, eine Art „Union in der Union“, ohne Frankreich kann Deutschland aber nicht anstreben, weil ein solches Gebilde auf fatale Weise jenem „Mitteleuropa“ ähneln würde, das der liberale Politiker und Publizist Friedrich Naumann, nach damaligen Begriffen ein moderater wilhelminischer Imperialist, 1915, also fast genau vor hundert Jahren, in einem Buch unter ebendiesem Titel propagiert hat:[11] Es wäre der Weg von der halben zur ganzen Hegemonie Deutschlands in Europa. Solange es einen belastbaren deutsch-französischen Reformkonsens nicht gibt (und er ist nach dem Sieg des Front National bei der Europawahl noch unwahrscheinlicher geworden), bleibt infolgedessen nur die Option der verstärkten intergouvernementalen Zusammenarbeit auch in den bisher nicht vergemeinschafteten Bereichen der Politik und namentlich in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das letzte Wort der europäischen Politik kann diese Art der Kooperation gewiss nicht sein. Aber solange der Vertrag von Lissabon gilt, ist die EU auf sie geradezu existenziell angewiesen.

Wie wichtig ein Europa wäre, das in wichtigen Fragen mit einer Stimme spricht, zeigt die Ukrainekrise. Vermutlich werden spätere Historiker zu dem Schluss gelangen, dass im Jahre 2014 eine Zwischenphase zu Ende ging – jene Zeit, die vor einem Vierteljahrhundert mit den friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa begann, im Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ihr historisches Symbol fand und die Welt mit der Hoffnung erfüllte, dass sich die Ideen der atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts wenn nicht global, so doch im gesamten Bereich der damals noch existierenden Sowjetunion durchsetzen würden.

Von dieser Hoffnung muss sich der Westen bis auf weiteres verabschieden. Vierzehn Jahre, nachdem er erstmals zum russischen Präsidenten gewählt wurde, hat Wladimir Putin Klarheit geschaffen. Er sieht in der Russischen Föderation den Gegenpol des vermeintlich dekadenten Westens, die Sprecherin aller Kräfte der multipolaren Welt, die sich gegen die universale Geltung der Menschenrechte auflehnen, die Freundin der Homophoben auf allen Kontinenten und in Europa eine verlässliche Bundesgenossin der Anti-EU-Parteien von links und rechts sowie all derer, die Europa von Amerika abkoppeln, das Atlantische Bündnis also sprengen wollen.

Das wohlwollende Verständnis, das Putin nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, einem Akt des völkischen Nationalismus, nicht nur auf dem linken und rechten Rand, sondern auch beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, bei aktiven Politikern der CSU, bei einigen „elder statesmen“ der SPD und nicht wenigen einflussreichen Journalisten gefunden hat, empfinden einige ostmitteleuropäische Mitgliedstaaten der EU und der NATO zu Recht als beunruhigend. Mitunter wird bereits gefragt, wie tief die Westbindung Deutschlands eigentlich geht und ob Berlin bei einer Zuspitzung der Krise loyal zu seinen Bündnisverpflichtungen stehen würde. Der Kult um die angeblich gute Tradition deutsch-russischer Sonderbeziehungen, wie er im Umfeld der Alternative für Deutschland, aber nicht nur dort, betrieben wird, ist geeignet, in Polen eine ganz andere Erinnerung wachzurufen: die an die Geschichte deutsch-russischer Gemeinsamkeiten von den polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert bis zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939.

Die deutsche Politik tut gut daran, die Sicherheitsinteressen ihrer ostmitteleuropäischen Nachbarn, ihrer Partner im Rahmen von NATO und EU, mindestens so ernst zu nehmen wie die Russlands. In Ostmittel- und Südosteuropa wäre, wenn das Atlantische Bündnis nach 1991 die Aspiranten einer Mitgliedschaft zurückgewiesen hätte, eine Zone der Unsicherheit und der Instabilität entstanden – ein neues „Zwischeneuropa“ wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in dem fast überall nationalistische und antidemokratische Kräfte die Oberhand gewannen. Deutschland hat keinen Anlass, von seinem Bemühen abzulassen, die neue Ost-West-Konfrontation diplomatisch zu entschärfen, in der Ukraine auf einen nationalen Dialog und in Moskau auf die Rückkehr zu einer Politik des friedlichen Interessenausgleichs zu drängen. Doch zugleich dürfen deutsche Regierungen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass deutsche Alleingänge und eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost keine Optionen für Deutschland sind – dass die Westbindung also unwiderruflich ist.

Die deutsche Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die wichtigste Lehre aus dem Jahrhundert der Extreme. Das Bekenntnis westlicher Demokratien zum normativen Projekt des Westens ist freilich nur dann glaubwürdig, wenn es einhergeht mit der Bereitschaft zu historischer Selbstkritik. Die Ideen von 1776 und 1789 beschrieben nicht die Wirklichkeit von damals, aber sie lieferten die Maßstäbe, an denen sich der Westen fortan abarbeiten und messen lassen musste. Das Projekt wurde dadurch zum Korrektiv einer Praxis, die den proklamierten Werten oft genug strikt widersprach. Es entfaltete eine Dynamik, die aus dem Projekt einen Prozess machte. Dieser Prozess ist solange nicht abgeschlossen, als die unveräußerlichen Menschenrechte nicht weltweit gelten. Der Westen gäbe sich selbst auf, wenn er von dieser Forderung abließe. Das gilt auch für Deutschland, das, historisch gesehen, noch immer eine der jungen westlichen Demokratien ist.

 

Endnoten:

[1] Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (engl. Orig.: London 1994), München 1995.
[2] George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890 (amerik. Orig.: Princeton 1979), Frankfurt 1982, S. 12.
[3] Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 19473.
[4] Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 62-76 (75).
[5] Heinrich August Winkler, „Anschluß an den Westen“. Adenauer und der deutsche Sonderweg, in: ders., Auf ewig in Hitlers Schatten? Über die Deutschen und ihre Geschichte, München 2007, S. 119 – 128 (127f.).
[6] Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: „Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung“, München 20105, S. 629f.
[7] Ebd., S. 630.
[8] Ebd., S. 629.
[9] Jan-Werner Müller, Wo Europa endet. Ungarn, Russland, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie, Berlin 2013, S. 59ff.
[10] Europa wird direkt ins Herz getroffen (Jürgen Habermas im Gespräch mit Nils Minkmar), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 5. 2014.
[11] Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915.