"Herr Premierminister, liefern Sie!"

Das indische Parlament Sansad Bhavan in Delhi

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, die Haupthalle des indischen Parlamentsgebäudes zu besuchen und war ungeheuer beeindruckt: Jeder Stein schien Geschichte zu atmen. Nachdem die Briten 1911 ihre Hauptstadt von Kalkutta nach Delhi verlegt hatten, wurde das Gebäude, damals Central Legislative Assembly genannt, 1927 von Lord Irwin, dem Generalgouverneur von Britisch-Indien, eingeweiht. Hier übergaben die Kolonialherren die Macht an die provisorische Regierung unter Jawaharlal Nehru, unserem ersten Premierminister, wo die verfassungsgebende Versammlung unsere Verfassung formulierte und Nehru sein erste (und wahrscheinlich beste) Rede im unabhängigen Indien hielt: "Vor vielen Jahren schlossen wir einen Bund mit dem Schicksal und heute ist der Tag gekommen, an dem wir unser Versprechen einlösen – nicht vollständig, aber doch zu einem großen Teil. Schlag Mitternacht, wenn die Welt schläft, wird Indien zum Leben und zur Freiheit erwachen. Es kommt der Moment, der so selten ist in der Geschichte, wenn das Alte abgeschlossen wird und das Neue beginnt, wenn eine Ära zu Ende geht und wenn die Seele einer Nation, so lange unterdrückt, endlich einen Ausdruck findet."

Heute ist die Haupthalle des indischen Parlaments der Ort an dem zu Beginn jeder Legislaturperiode der indische Präsident eine Rede vor beiden Kammern des Parlaments hält. Diese Rede im Namen der neuen Regierung skizziert traditionell die politische Agenda und die Entwicklungsstrategien der neuen Regierung. Auch sie hat eine lange Geschichte: Zum ersten Mal wurde sie 1921, nach der Gründung des Zentralparlaments unter dem Government of India Act 1919, gehalten. Gefolgt wird sie von einer interessanten Debatte, Motion of Thanks genannt, die der Opposition Gelegenheit gibt, die Regierung zu kritisieren.

In seiner Rede am 9. Juni deckte Präsident Pranab Mukherjee eine breite Palette an Themen ab und unterstrich insbesondere jene Bereiche, in denen die neue Regierung unverzüglich anpacken muss. In erster Linie ist dies die Ankurbelung der stagnierenden indischen Wirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen für Jugendliche, der Kampf gegen Inflation und Armut, Null-Toleranz gegenüber Gewalt gegen Frauen, die Verbesserung der Landwirtschaft, die Prüfung der Forderungen der in Indien lebenden Minderheiten, die Eindämmung der Gefährdungen der inneren Sicherheit, sowie die Verbesserung der Beziehungen zu unseren Nachbarn und zu den USA. Über diese Themen hinaus betonte der Präsident, wie wichtig die Zusammenarbeit der Zentralregierung und der Bundesstaaten bei der Lösung dieser Probleme sei. Nicht zuletzt wurde die Bedeutung einer sauberen und korruptionsfreien Verwaltung, sowie einer transparenten und rechenschaftspflichtigen Verwaltung zur Erreichung dieser Ziele explizit hervorgehoben.

Die Reaktionen auf die Rede waren wenig überraschend. Die Hindustan Times, eine der führenden Tageszeitungen, fasste Rede und Reaktionen wie folgt zusammen: "Die Opposition kritisierte die Regierung scharf für die Rede des Präsidenten und warf ihr das Fehlen 'frischer Ideen' vor, während die CPI-M sie als eine 'Anhäufung von Wahlkampfslogans und aufgewärmtes BJP-Manifest' bezeichnete."[1] Manche Oppositionsparteien, etwa die Bahujan Samaj Party und die Communist Party of India (Marxist), bezweifelten, dass die Regierung die Ideen der BJP, so wie sie im Parteiprogramm formuliert sind, umsetzen kann. Sitaram Yechury, einer der führenden Köpfe der CPI-M, bezeichnete die Rede des Präsidenten in diesem Zusammenhang als reine Absichtserklärung, die keine einzige Lösung für die vielen Herausforderungen liefere vor denen das Land stehe. Etwas anders sah die Bewertung der Economic Times, aus: "Es ist begrüßenswert, dass die Vision der Modi-Regierung, wie sie sich in der Rede des Präsidenten spiegelte, eine starke politische Kontinuität darstellt, auch wenn sie in eine neue politische Sprache gekleidet und mit dem zusätzlichen Versprechen von Effizienz und Integrität dekoriert ist."[2]

Modis erster Redebeitrag vor dem Parlament (Modi schaffte es interessanterweise im ersten Anlauf zum PM gewählt zu werden) im Rahmen der Motion of Thanks wurde gelobt. Er vermittelte den Eindruck eines konsensbereiten Staatsmannes, der die Feindseligkeiten des Wahlkampfes hinter sich gelassen habe. Der Indian Express schrieb: "Die Replik von Premierminister Narendra Modi auf die Rede des Präsidenten vor beiden Kammern des Parlaments zeichnete sich durch das vollständige Fehlen von Triumphgesten aus. Ganz in Einklang mit seiner Haltung nach den Wahlen schien er entschlossen, die nationalen Themen sehr konsensorientiert anzugehen. Sein Wunsch, die Opposition mit einzubeziehen, zeigte sich in seiner Forderung nach parteiübergreifender Zusammenarbeit."[3]

Die neue Regierung setzte mit der Wahl, der seit acht Legislaturperioden fungierenden Abgeordneten Sumitra Mahajan zur Sprecherin des Unterhauses, ein klares Signal, dass sie Frauenthemen als wichtig erachtet. Und dies zu einem Zeitpunkt, als Nachrichten über neue Gruppenvergewaltigungen in Uttar Pradesh die Schlagzeilen beherrschen. Nach der schrecklichen und brutalen Vergewaltigung eines Mädchens in Delhi im Jahr 2012 ist die Diskriminierung von Frauen in Indien national und international ins Bewusstsein gedrungen. Diese Diskriminierung ist meines Erachtens jedoch keine Frage die isoliert als law and order-Thema behandelt werden kann, vielmehr ist sie im breiteren Kontext der Ungleichheit der indischen Gesellschaft und ihrer Stratifizierung nach Kaste, Klasse und Geschlecht zu sehen. Die neue Regierung muss das Problem ganzheitlich angehen, das heißt, sie muss sowohl kurz- als auch langfristig mehrgleisige Lösungsansätze für dieses sehr komplexe Problem finden.

Die Unerfahrenheit mancher neuen Minister zeigte sich in einigen peinlichen Aussagen und Tweets. So kritisierte Ex-General VK Singh, ehemals Oberbefehlshaber der indischen Armee und jetzt Staatsminister im Kabinett Modi, den designierten Oberbefehlshaber der Armee, dessen Gegenspieler er während seiner Militärzeit gewesen war. Der Verteidigungsminister verteidigte umgehend die Ernennung des neuen Oberbefehlshabers der Armee, auch wenn die Personalie noch von der alten UPA-Regierung stammte. Die indische Armee dagegen hat sich völlig aus der Politik herausgehalten, was von allen Parteien begrüßt wurde. Denn genau das ist der Grund, warum sich in Indien die Demokratie halten konnte, anders als in den meisten Nachbarstaaten in denen man häufiger Militärdiktatoren als demokratisch gewählte Regierungen sieht. Ich bin sicher, dass das Militär seine politische Neutralität auch in Zukunft wahren wird und dass die neue Führungsgeneration denselben Grad an Überparteilichkeit zeigen wird wie ihre Vorgänger.

Der neuen Regierung steht ein hartes Stück Arbeit bevor. Wenn sie ihre Versprechen halten will, muss sie unverzüglich loslegen. Sie wird einige unpopuläre und harte Entscheidungen treffen müssen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik. Die Zeitschrift Tehelka brachte die Erwartungen auf den Punkt: "Herr Premierminister, liefern Sie!"


Referenzen

[1] HT Correspondent: "President's speech lacked originality, say opposition parties", Hindustan Times, 9. Juni 2014, IANS, New Delhi

[2] ET Bureau: "President Pranab Mukherjee's speech outlines broad continuity", The Economic Times, 10. Juni 2014

[3] The News Indian Express: "New Team India Must Forge ahead together", The Indian Express, 14. Juni 2014


Lesen Sie auch die bereits erschienenen Beiträge von Avani Tewari: "Gedanken einer Erstwählerin" und "Die Modi-Regierung: Kann sie die Erwartungen erfüllen?".