Tschechien in der EU: Europa als Aufgabe

Gedenkfeier für Václav Havel
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Der erste tschechische Präsident Václav Havel verstand Europa immer als Aufgabe, sich selbst als Europäer. Heute will die Mehrheit der Tschechinnen und Tschechen zu Europa dazugehören. Das Foto zeigt die Prager Gedenkfeier für den Menschenrechtler Havel im Dezember 2011

Lange war wenig vom EP-Wahlkampf in Tschechien zu spüren. Erst in den letzten zwei Wochen bekommt man zunehmend Plakate mit Wahlkampfslogans zu sehen, die sich u.a. mit der Frage beschäftigen, wo Tschechien als EU-Mitgliedsland heute eigentlich steht. Die Stimmung im Land bringt ein Slogan der tschechischen Sozialdemokraten (ČSSD) auf den Punkt: "Wir möchten in Europa in der 1. Liga spielen". Aus diesem Satz spricht der Wunsch dazuzugehören, mitreden zu dürfen und respektiert zu werden. Auf der anderen Seite lässt er auch die Befürchtung erkennen, dass man in die 2. Liga abrutschen könnte oder, schlimmer noch, sich heute schon in der 2. Liga befindet.

Diese Befürchtung ist für ein kleineres und junges Mitgliedsland wie Tschechien verständlich. In den letzten Jahren waren zudem wenige tschechische Politikerinnen und Politiker zu hören, die sich offen zum europäischen Projekt bekennen. Tschechien machte nicht mit konstruktiven Politikvorschlägen zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise Schlagzeilen, sondern vor allem durch das Aushandeln von Ausnahmeregeln. Man wurde das Gefühl nicht los, dass die EU in der Wahrnehmung der politischen Elite des Landes zu einer Art Selbstbedienungsladen degradiert wird. Tschechien war außerdem weitaus mehr mit sich selbst als mit der Zukunft Europas beschäftigt, stolperte von einer politischen Krise in die nächste und erlebte einen Korruptionsskandal nach dem anderen.

Vom "Schwarzfahren" in der EU

Während außerhalb Tschechiens kritisiert wurde, dass Angela Merkel in der EU immer am Steuer sitze und anderen Ländern nur die Rolle des Beifahrers bleibe, machte in Tschechien der Witz die Runde, dass das Land den Beifahrersitz meide und nicht einmal die Rolle eines Trittbrett-, sondern eher eines Schwarzfahrers einzunehmen drohe.

Dabei lehnen tschechische Bürgerinnen und Bürger das "Schwarzfahren" in der EU eigentlich ab: Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des tschechischen Fernsehens zur 100-tägigen Amtszeit der Regierung zeigt, dass ihr pro-europäischer Kurs von den Befragten sehr positiv beurteilt wird. Die Werte Demokratie und Freiheit zählten bei knapp der Hälfte der Befragten (45 Prozent) einer Eurobarometer-Umfrage von 2013 zu den wichtigsten Grundlagen für die Herausbildung einer europäischen Identität (EU-27: 40 Prozent). Eine Umfrage der Akademie der Wissenschaften zeigt auch, dass Befragte die Auswirkungen der europäischen Integration in verschiedenen Bereichen eher positiv bewerten (CVVM, April 2014).

In einer Erhebung des tschechischen Meinungsforschungsinstitut STEM gaben allerdings mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie unzufrieden oder eher unzufrieden mit der EU-Mitgliedschaft sind (STEM, März 2014). Fügt man bei der Antwort weitere Möglichkeiten hinzu, sehen die Zahlen etwas anders aus, wie die schon erwähnte Umfrage der Akademie der Wissenschaften verdeutlicht. 28 Prozent sind in dieser Umfrage mit der EU-Mitgliedschaft zufrieden bis sehr zufrieden, 31 Prozent unzufrieden bis sehr unzufrieden und 38 Prozent waren weder unzufrieden noch zufrieden.

Auffallend ist in der tschechischen Bevölkerung außerdem die Skepsis in Bezug auf die Frage, ob die eigene Stimme in der EU Gewicht hat: Nur 25 Prozent der in Tschechien Befragten sehen dies positiv (Eurobarometer-Umfrage 2013). 42 Prozent finden, dass die Stimme des eigenen Landes in der EU zählt (EU-27: 62 Prozent).

Eine Erklärung für die Skepsis der tschechischen Bevölkerung auf der einen und die positive Beurteilung pro-europäischer Politik auf der anderen Seite könnte sein, dass sich tschechische Bürgerinnen und Bürger eine aktivere Rolle ihres Landes in der EU wünschen und diese bisher vermissen.

Ein historisches Ereignis - das Hissen der EU-Flagge auf der Prager Burg

Brüssel – das sind in der Darstellung vieler Politikerinnen und Politiker "die anderen". Die ODS, die in der Tradition des ehemaligen Präsidenten Václav Klaus nicht müde wird, vor dem Verlust tschechischer Souveränität durch Brüssel zu warnen und im Europäischen Parlament neben den britischen Tories und der polnischen PiS (Recht und Gerechtigkeit) in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) sitzt, fasst ihr Programm auf Plakaten wie folgt zusammen: "Für die tschechische Krone. Gegen den Euro." Die ODS ist mit ihrem Kurs allerdings weit von politischen Erfolgen entfernt. Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2013 verlor sie im Vergleich zu 2010 über 12 Prozentpunkte, bei den EP-Wahlen wird es für die ODS, die 2009 noch über 30 Prozent erzielte, voraussichtlich wieder zu erheblichen Verlusten kommen. In allen Umfragen liegt sie deutlich unter 10 Prozent.

Im Gegensatz zur ODS macht ihr ehemaliger Regierungspartner, die TOP 09, mit Slogans wie "Pfeift nicht auf die EU" sowie einer Abbildung des Parteivorsitzenden und ehemaligen Außenministers Karel Schwarzenberg mit seinem Ausruf "Ich bin Europäer" Wahlkampf. Das Wahlprogramm der TOP 09 trägt den Titel "Europa sind wir, nicht sie".

Schon vor einem Jahr ließ eine politische Geste erkennen, dass die betont integrationsfeindliche Haltung des ehemaligen Präsidenten Václav Klaus, der dem Land das Label "EU-skeptisch bis EU-feindlich" einhandelte, in Tschechien keine Zukunft hat: Als eine seiner ersten Amtshandlungen hisste der Anfang 2013 direkt gewählte Präsident Miloš Zeman auf der Prager Burg gemeinsam mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso die EU-Flagge, was sein Vorgänger Václav Klaus entschieden ablehnte. Das Hissen der Flagge wurde zu einem historischen Ereignis. Bei vielen Staatsbesuchen in Prag ist die Tatsache, dass die EU-Flagge 10 Jahre nach dem EU-Beitritt des Landes endlich über der Burg weht, Gegenstand von Gesprächen und Diskussionen – zuletzt wurde Zeman dafür Anfang Mai von Bundespräsident Joachim Gauck gelobt.

Tschechiens Zukunft in der EU

Das Hissen einer Flagge zieht allerdings nicht unbedingt weitere, konkrete und zukunftsorientierte Handlungen mit sich. Einige Kommentatoren betonen, dass sich das Land intensiver mit der Frage beschäftigen sollte, welche Rolle es in zehn Jahren für und in Europa spielen möchte. Die tschechischen Grünen haben diesen Gedanken aufgenommen und für ihre Kampagne das Motto "Tschechien vorwärts – eine grüne Stimme nach Europa" gewählt. Das Zukunftsthema hat Priorität im grünen Wahlkampf: Ohne Europa, so die Grünen, kann es kein prosperierendes Tschechien geben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die tschechischen Grünen dieses Jahr mit einem Mandat ins Europäische Parlament einziehen werden. In einer Umfrage der Firmen Herzmann und Data Collect, die am 16. Mai 2014 veröffentlicht wurde, kamen die Grünen auf 4,9 Prozent.  

Auch der Regierungspartner der ČSSD, die Bewegung ANO des Großunternehmers und Finanzministers Andrej Babiš, spricht auf den Wahlplakaten von der Zukunft Europas: "Damit auch unsere Kinder in Europa eine Chance haben". Bewusst spielt ANO mit dem Raum, den dieser Satz für Interpretationen lässt. Die Frage, die sich hier nämlich stellt, ist: Meint ANO, dass die Elterngeneration in Tschechien schon eine Chance in Europa hatte und geht es ANO ganz allgemein um die Notwendigkeit, als EU-Mitglied die Zukunft Europas mitzugestalten? Oder spricht ANO hier eher von der Notwendigkeit, dass tschechische Kinder in der EU die gleichen Chancen wie Kinder anderer Mitgliedsländer haben sollten? Geht es also darum, in der EU "tschechische Interessen" durchzusetzen, wie es der Junior-Koalitionspartner, die Christdemokraten, vehement betont ("Wir verteidigen tschechische Interessen")?

Geschickt spricht ANO sowohl die oben erwähnten Wünsche als auch Befürchtungen an und punktet so bei einer breiten Wählerschaft. Es zeichnet sich ab, dass ANO bei den EP-Wahlen die Sozialdemokraten überholen wird. Nach einer aktuellen Umfrage, die vom tschechischen Fernsehen in Auftrag gegeben wurde, hätte ANO gegenüber den Sozialdemokraten bei Parlamentswahlen heute einen Vorsprung von zehn Prozent und könnte über 28 Prozent erzielen. Zum Vergleich: Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2013 erhielt die CSSD 20,5 Prozent, ANO 18,7 Prozent. Auch die Umfragen zu den EP-Wahlen bestätigen diesen Trend.

Europa als Aufgabe

Die Ukraine-Krise hat in Tschechien u.a. dazu geführt, dass die EU wieder verstärkt als Friedensprojekt wahrgenommen wird, dem man selbst viel zu verdanken hat. Die tschechischen Grünen betonen in ihrem Programm, dass sie sich ein selbstbewusstes Europa wünschen, das sich nicht von Diktatoren erpressen lässt. Auch im Kontext der Ukraine-Krise, so die Grünen, werde immer deutlicher, warum es wichtig ist, ein fester Bestandteil der Europäischen Union zu sein und warum Europa vereint und aktionsfähig sein muss.

Anknüpfen kann Tschechien bei der Beantwortung der Frage nach dem eigenen Beitrag zur Zukunft der EU am geistigen Erbe des ersten tschechischen Präsidenten Václav Havel. 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sagte Havel bei seiner Rede im Europäischen Parlament 2009: "Die Frage ist natürlich, was wir Europa bieten können. Ich glaube schon lange, dass wir nach dem, was wir in der Zeit des totalitären Systems auf uns genommen haben, diese Erfahrung den anderen überzeugend erklären und alles, was aus ihr folgt, in konkrete Impulse verwandeln müssen – wir sind dazu geradezu verpflichtet. Das ist nicht einfach und ich bin nicht sicher, dass es uns bisher gelungen ist."[1]

Die historische Erfahrung, so Havel, verpflichte zu besonderer Vorsicht. Eine klare und eindeutige Solidarität mit allen, die heute totalitären oder autoritären Regimen die Stirn bieten, helfe auch uns, die Werte mit konkretem Inhalt zu füllen, zu denen wir uns im Allgemeinen bekennen. Havel verstand Europa immer als Aufgabe, sich selbst als Europäer: "Wenn ich mich als Europäer fühle, heißt das doch nicht, dass ich aufhöre, Tscheche zu sein. Es ist genau umgekehrt: als Tscheche bin ich auch Europäer. Etwas poetisch sage ich, dass Europa die Heimat unserer Heimaten ist."[2]

Man kann Havels Rede auch heute als eine Nachricht und Kritik an allen Parteien verstehen, die immer wieder davon sprechen, in Brüssel nationale Interessen verteidigen zu müssen. Auf die Spitze treibt den Ruf nach der "Wahrung nationaler Interessen" derzeit die Bewegung Úsvit přímé demokracie (Morgendämmerung der direkten Demokratie) mit ihrer rechtsradikalen Rhetorik. Schon bei den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2013 schürte Úsvit mit rassistischen, vor allem antiziganistischen Äußerungen Hass und schaffte den Einzug ins Parlament. Bei den EP-Wahlen stehen xenophobe Slogans gegen Migration im Mittelpunkt der Kampagne dieser Partei. Die Partei teilt die Gesellschaft dabei in, "anständige tschechische Bürger" auf der einen und "Nichtanpassungsfähige" auf der anderen Seite.

Havel sagte vor fünf Jahren: "Wir sind in einem Boot, und das Boot hat eine gute Richtung. Und diese wird es haben, solange alle Passagiere eine geteilte Verantwortung tragen und solange nicht jeder für sich allein sein eigenes Spiel spielt. Bei der Gestaltung der Gemeinschaft erhalten wir keine Bedeutung oder Einzigartigkeit durch das Geschrei nach unseren weiter nicht spezifizierten nationalen Interessen, das nur den Mangel an innerem Selbstvertrauen maskiert, sondern nur durch […] unsere Beteiligung an dem gemeinsamen Werk."[3]

Wenn man die Rede Havels heute liest, wünscht man sich sehnlichst eine aktivere und konstruktivere Rolle Tschechiens in der EU. Havel vermochte in Worte zu fassen, warum dies nicht nur für Tschechien als ein postkommunistisches Land, sondern auch für die Zukunft des europäischen Projekts wünschenswert ist.

 

Referenzen

[1] Václav Havel: Evropa jako úkol. Výber z projevu 1990-2009 (Europa als Aufgabe. Auswahl aus den Reden 1990-2009), Václav Havel Library, Prag, 2012, S. 174 f.

[2] ebd., S. 176

[3] ebd., S. 177