
Am 7. Mai 2014, dem Wahltag mit dem gleichzeitig 20 Jahre Demokratie in Südafrika begangen wurden, haben 18,6 Millionen Südafrikanerinnen und Südafrikaner im In- und Ausland ihre Stimme abgegeben.
Die fünfte Parlamentswahl des Landes wurde als "wichtigste Wahl seit 1994" bezeichnet. Und tatsächlich: Als erste Wahl, an der die erste Generation der "born frees" – die nach dem Ende der Apartheid Geborenen – sich beteiligen würde, musste sie bedeutend sein, egal welche Botschaft von ihr ausgehen sollte.
Für viele jedoch signalisierte die Redewendung "die wichtigste Wahl seit 1994" eine Erwartung oder vielmehr eine Hoffnung: nämlich auf einen Wandel. Medienberichte legten nahe, dass ein Wahlergebnis unter 60 Prozent für den regierenden African National Congress (ANC, Afrikanischer Nationalkongress) ein Signal für die ANC-Führung sein würde, sich gegen Präsident Jacob Zuma zu wenden. Obgleich niemand am Sieg des ANC zweifelte, schien ihr Abgleiten um 3 Prozentpunkte, von 65,9 Prozent auf 62,15 Prozent, lediglich wie ein kurzzeitig erhobener Zeigefinger für eine Regierungspartei, die in den vergangenen fünf Jahren in verschiedenste Probleme verstrickt war: von Sexskandalen bis hin zu umfangreicher Korruption, von einer unverzeihlichen Tragödie ganz zu schweigen. Drei Prozentpunkte für das Massaker der Polizei an 34 Bergarbeitern in Marikana? Wirklich? Mehr nicht? Drei Prozentpunkte für das nonchalante Schulterzucken zu "Nkandlagate", dem Missbrauch öffentlicher Gelder durch den Präsidenten für ein verschwenderisches "Sicherheits-Upgrade" seines privaten Anwesens in Nkandla? "Nach all diesen Skandalen haben wir ihnen jetzt eine Bescheinigung ausgestellt, sich weiterhin bei den Armen zu bedienen", stellte ein Aktivist resigniert fest.
Noch überraschender waren diese enttäuschenden drei Prozentpunkte angesichts der turbulenten politischen Umwälzungen der vergangenen 12 Monate: Im Dezember 2013 hat die größte Gewerkschaft des Landes, die National Union of Metal Workers (Numsa, Nationale Metallarbeitergewerkschaft), bekanntgegeben, dass sie entgegen ihrer üblichen Praxis seit 1994 weder den ANC unterstützen noch für ihn Wahlkampf betreiben noch zum Wahlkampf des ANC finanziell beitragen würde. Sie gab ebenfalls bekannt, dass sie möglicherweise eine politische Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Teilnahme an zukünftigen Wahlen gründen würde. Der Schritt war ein erheblicher Schlag für den Congress of South African Trade Unions (COSATU, Dachverband südafrikanischer Gewerkschaften), der größten Gewerkschaftsvereinigung des Landes und Verbündeter des ANC, und stellte deren unmittelbar bevorstehende Spaltung in Aussicht. Im August 2013 hat der "Unruhestifter" Julius Malema die Partei der Economic Freedom Fighters (EFF, Kämpferinnen und Kämpfer für wirtschaftliche Freiheit) gegründet. Innerhalb weniger Monate wurden rote Baskenmützen, das Markenzeichen der Partei, an Universitäten, in Townships und bei öffentlichen politischen Debatten ein vertrauter Anblick geworden.
Aus einer nüchternen politischen oder statistischen Perspektive betrachtet ist das Wahlergebnis jedoch nicht überraschend (und tatsächlich hat es der Wissenschaftsrat Südafrikas fast auf den Prozentpunkt genau vorhergesagt). In einer Pressekonferenz im Vorfeld der Wahl hat Erzbischof Desmond Tutu die Südafrikanerinnen und Südafrikaner daran erinnert, dass der Staat keine Spione mehr auf Bäume klettern oder durch Fensterscheiben spähen lässt, um intime Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Rassen zu verhindern. Und er sprach über seine Freude, dass schwarze und weiße Kinder 20 Jahre später gemeinsam Mittelschichtschulen besuchten. Dank des ANC bietet Südafrika für die Mehrheit eine bessere Lebensqualität. Es gibt wahrscheinlich keinen einzigen armen Menschen in Südafrika, dessen Leben nicht – in welcher Weise auch immer – vom Zugang zu Wasser, von Elektrizität, Wohnraum oder sozialen Zuwendungen durch die ANC-Regierung berührt worden ist. Außerdem ist es den Oppositionsparteien nicht gelungen, Vertrauen zu wecken. Die einzige Ausnahme: die größte Oppositionspartei, die Democratic Alliance (DA), die allerdings noch das Image hat, die Interessen weißer Eliten zu schützen. Obwohl also für die Mehrheit, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen ist, die Lage nicht richtig gut ist, so bleibt doch der ANC immer noch für die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler das geringere Übel.
Aber handelte es sich tatsächlich um eine Wahl ohne Überraschungen? Eine Wahl, die zeigt, dass alles einfach mehr oder weniger unverändert geblieben ist? Es gibt zwei Hinweise darauf, dass die Antwort darauf möglicherweise "nein" sein könnte.
Erstens, obwohl der Verlust des ANC tatsächlich insgesamt lediglich 3 Prozentpunkte betrug, zeigen sich bei genauerer Betrachtung wichtige Anzeichen möglicher künftiger Entwicklungen. Die Stimmenzuwächse der DA (von 16 Prozent im Jahr 2009 auf jetzt 22 Prozent) sowie das erfolgreiche Abschneiden der EFF bei ihrer ersten Wahl (6 Prozent) sind von Bedeutung, auch wenn sie hinter den Hoffnungen der jeweiligen Parteien zurückgeblieben sind. Nach Provinzen und Ortschaften aufgeschlüsselt wird deutlich, dass der Stimmenanteil der DA insbesondere in den Metropolen signifikant gestiegen ist, teilweise um bis zu 10 Prozentpunkte. Die Unterstützung des ANC ist hingegen fast überall zurückgegangen, in manchen Städten um 10 Prozentpunkte. Die Lage in den Provinzen spiegelt dieselbe Entwicklung wider. Während die DA in jeder Provinz signifikante Gewinne verzeichnen konnte, hat der ANC beträchtliche Stimmenanteile verloren, mit Ausnahme von Ostkap und KwaZulu-Natal (KZN), wo er etwa einen Prozentpunkt hinzugewinnen konnte. Obwohl die DA wichtiges Neuland betritt, indem sie die Möglichkeit aufzeigt, den ANC herauszufordern, sind weitere Stimmengewinne momentan unwahrscheinlich, es sei denn, die Partei wird sowohl in ethnischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht tatsächlich integrativer und schafft es, die Mehrheit der armen Südafrikanerinnen und Südafrikaner anzusprechen. Obwohl die EFF 2019 unter Umständen der wirkliche Herausforderer des ANC sein könnte, muss sie noch ihr Durchhaltevermögen beweisen und vermeiden, wie frühere Abspaltungen des ANC in sich zusammenzufallen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen früheren Abspaltungen und der EFF ist jedoch, dass die EFF tatsächliche politische Alternativen anbietet. Unzufriedenheit mit sämtlichen Parteien ist an der Wahlbeteiligung zu erkennen: Wieder einmal haben sich nur 56 Prozent der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt.
Zweitens, Marikana, Nkandlagate, öffentliche Empörung über die Einführung der E-Maut auf Autobahnen und vielleicht vor allem die abschätzige Reaktion des ANC darauf (die fast so weit ging, so zu tun, als hätte es keine Proteste gegeben bzw. wenn doch, dann sei das kein Problem bzw. der ANC habe keine Schuld daran) erzwangen eine entscheidende Veränderung in der Zivilgesellschaft. Die Stimmung eingefangen hat am besten die Kampagne "Sidikwe! Vukani! (Wacht auf! Wir haben die Schnauze voll!) Wählt Nein!", die von einer Reihe unerschütterlicher Kämpferinnen und Kämpfer – u.a. ehemalige Ministerinnen und Minister, Vizekanzlerinnen und Vizekanzler von Universitäten und gegenwärtigen Mitgliedern der Nationalen Planungskommission – lanciert wurde. Die Kampagne rief Bürgerinnen und Bürger dazu auf, in "liebevoller Strenge" gegen den ANC zu stimmen, entweder durch "taktisches Wählen" (Unterstützung einer kleinen Oppositionspartei) oder durch Abgabe einer ungültigen Stimme. Obwohl es sich dabei nicht um die ersten ANC-Veteraninnen und -Veteranen handelte, die eine solche Aktion unternahmen, spiegelt die Kampagne sowohl die wachsende Bereitschaft in der ganzen Gesellschaft wider, sich gegen die Partei zu wenden, als auch die nachlassende Tragfähigkeit des ANC als lebenslange politische Heimat.
Trotzdem sorgte die Abahlali baseMjondolo (AbM), die größte Bewegung in Südafrika von sogenannten "shack dwellers" (also Leuten die in mehr oder weniger provisorischen Siedlungen leben), für eine große Überraschung, als die nach links tendierende Bewegung nur Tage vor der Wahl mit Tausenden von Anhängerinnen und Anhängern ihre Unterstützung der DA verkündete – ein Schritt, der auf Erschütterung und Entsetzen von links stieß. Nicht nur wird die DA gemeinhin als "anti-Arme" und "pro-Weiße" Partei charakterisiert, sondern die AbM boykottierte zudem seit 2006 Wahlen und bestand auf "Kein Land! Kein Haus! Keine Stimmabgabe!" Zwei Wochen zuvor hatte die AbM allerdings die politischen Parteien "mit Ausnahme des ANC" aufgefordert, um ihre Stimmen zu werben und behauptet, "wir sind uns bewusst, dass der ANC eine ernsthafte Bedrohung der Gesellschaft geworden ist" und dass "es nicht mehr genügt, dem ANC unsere Stimmen vorzuenthalten". Die AbM-Regionalgruppen Westkap und KwaZulu-Natal und die DA unterzeichneten schließlich nach Verhandlungen Vereinbarungen bezüglich der Bereitstellung von Land und Wohnraum. In einem Land, in dem die Politik von Identitätsfragen bestimmt wird, ist die Bereitschaft der AbM, ihre Ideologie zeitweilig hintan zu stellen und ihre Stimmen dafür einzusetzen, tatsächliche Versprechen einzufordern, von großer Tragweite. Zum ersten Mal seit 1994 hat eine soziale Bewegung ihre Stimmen taktisch eingesetzt, um ihren politischen Einfluss zu stärken. Ob die DA ihre Versprechen einhält, ist eine andere Frage. Es handelt sich aber um eine einmalige Gelegenheit zu zeigen, dass sie sich auf eine integrative und gerechte Gesellschaft verpflichtet haben.
Nun, was hat das alles zu bedeuten?
Identität spielt in der ganzen Welt eine schwierige Rolle in der Politik. Aber in einer zersplitterten Gesellschaft wie der Südafrikas, wo "Rasse" und Klasse sich überlagern und wo historisches Misstrauen weiter besteht, ist sie ausschlaggebend. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass die DA jemals diejenige Partei sein wird, die den ANC ablöst, wird die Bereitschaft zu politischen Schachzügen und dem strategischen Einsatz von Wahlen als Instrumenten des Wandels – mit anderen Worten, die Identitätspolitik zur Disposition zu stellen – eine notwendige, wenn auch ungenügende Maßnahme sein, um eine stärker rechenschaftspflichtige politische Elite Wirklichkeit werden zu lassen.
Es ist ebenfalls positiv zu bewerten, dass die Wahl 2014 größeren politischen Wettbewerb ins politische System eingeführt hat. Aus der Perspektive derjenigen, die die Wurzel des südafrikanischen Demokratiedefizits in der vorherrschenden Stellung des ANC bei den Wahlen sehen, ist die politische Landschaft vielfältiger geworden. Ob die gestärkte Präsenz der Opposition die Autorität und den Einfluss des Parlaments aufwerten wird, bleibt abzuwarten, aber es steht außer Frage, dass die Legislative des Landes politisch betrachtet an Relevanz gewinnen wird. Es ist auch positiv, dass trotz des schwierigen Dilemmas, mit dem sich desillusionierte ANC-Unterstützerinnen und -Unterstützer konfrontiert sahen, die recht geringe Wahlbeteiligung stabil geblieben und nicht gesunken ist, was andeutet, dass Südafrikanerinnen und Südafrikaner Wahlen doch anerkennen und ihnen als wichtiges (wenn auch noch unzureichendes) Instrument für die demokratische politische Partizipation vertrauen.
Was die Wirtschaft betrifft: Wenn die EFF ihre Präsenz im Parlament effektiv nutzt (und alles deutet darauf hin, dass sie kompetent genug ist, um dies zu tun), dann wird sie Diskussionen über ökonomische Alternativen erzwingen. Sollte die Partei in den Kommunalwahlen 2016 gut abschneiden, ist es wahrscheinlich, dass sowohl die DA als auch der ANC Themen der Umverteilung sowie des Zugangs zu Land und Ressourcen entschiedener aufgreifen müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Für die Medien, die politischen Parteien, die Zivilgesellschaft – und die politischen Stiftungen – wird es eine Herausforderung sein, sachkundige und ehrliche Diskussionen über ökonomische Optionen zu fördern. In der Tat eröffnen die Gleichzeitigkeit des Zusammenbruchs des COSATU und der Niedergang der "alten" Bewegung, wie durch Marikana signalisiert, Räume für den "Aufbau neuer Bewegungen".
Alles in allem verbergen sich hinter marginalen Veränderungen im Wahlergebnis doch bedeutsame politische Verlagerungen nach 20 Jahren Demokratie in Südafrika. Ein sichtbarerer Wandel wird noch Zeit brauchen.
Nächste Veranstaltung zu Südafrika:
3. Juni 2014 "Miners Shot Down - Arbeitskämpfe und Bürgerproteste in Südafrika"