
Auch nach einem halben Jahr seit der Bundestagswahl 2013 und etwas über 100 Tagen Amtstätigkeit der neuen Bundesregierung ist die strategische Lage der Bundespolitik gekennzeichnet durch drei zentrale Probleme: das Mehrheitsproblem, das Lagerproblem und das Große Koalitionsproblem.
1) Das Mehrheitsproblem
Die Große Koalition ist eine Notlösung unseres Parteiensystems. Die erdrückende Mehrheit der jetzigen Regierungskoalition zeigt, dass das Parteiensystem Probleme mit der Mehrheitsbildung hat. Große Koalitionen entstehen aus dem Fehlen einer genuin demokratischen Mehrheit. Für diese gilt das Wechselspiel der Kräfte, die reale Alternative zwischen Regierung und Opposition und die minimal winning coalition, d.h. die kleinstmögliche Mehrheitskoalition. Bisher waren Große Koalitionen im Bund stets Koalitionen des Übergangs. Sie bildeten den Vorlauf für neue, kleinere Mehrheitskoalition, 1969 die einer sozialliberalen, 2009 die einer schwarz-gelben Koalition. Heute sind solche Perspektiven nicht erkennbar. Deshalb haben wir ein Mehrheitsproblem, dessen Ausdruck die gegenwärtige, übergroße Mehrheit ist.
Weil ganz besonders unklar ist, wo die Mehrheit liegt, verschärfen sich die Konkurrenzverhältnisse. Jeder zieht gegen jeden zu Felde. Eine präformierte Mehrheit, sich herausbildende und abzeichnende Bündnisse existieren nicht.
Die Parteien der Großen Koalition werden vor der nächsten Bundestagswahl nicht für eine Fortsetzung ihres jetzigen Bündnisses werben – dieser jederzeit möglichen, aber jederzeit schlechtesten Lösung des Mehrheitsproblems. Die Kleinparteien Grüne und FDP können vielleicht nach der nächsten Wahl über die Mehrheit entscheiden, zugleich aber – aus unterschiedlichen Gründen – vor der Wahl nicht für eine bestimmte Mehrheit werben und beteiligen sich deshalb am Kampf aller gegen alle. Die Linkspartei in ihrer heutigen Form ist ein Notnagel, nicht ein Katalysator für eine Mehrheitsbildung.
Im Dreiparteiensystem war die Mehrheitsbildung einfach. Für jede der drei Parteien gab es zwei Optionen. Das war schwierig genug, aber das konnte man schaffen.
Im Vierparteiensystem bildeten sich zwei Lager heraus. Seit 1983 regierte das schwarz-gelbe Lager, anfangs mit 12 Prozent Vorsprung vor Rot-Grün. 1998 war Rot-Grün dran, der Vorsprung vor Schwarz-Gelb betrug aber nur 6 Prozent. Seit 2005 haben wir ein etabliertes Fünfparteiensystem und seither auch zweimal eine Große Koalition. Beide Male wurde dieser Ausweg gesucht, weil die vorhandene, rechnerische rot-rot-grüne Mehrheit nicht als tragfähig galt. 2009 wanderte die Mehrheit an Schwarz-Gelb zurück – die beiden bürgerlichen Parteien waren stärker als das gesamte linke Spektrum. 2013 blieb vom bürgerlichen Lager im Bundestag nur die Union übrig. Sie ist heute zwar schwächer als ein Linksbündnis, das aber verfügt auch über keine politisch realisierbare Mehrheit. Im so strukturierten Fünfparteiensystem ist es schwer, eine plausible und tragfähige Mehrheitskoalition zu benennen.
2) Das Lagerproblem
Die Mehrheitsfrage wäre weniger problematisch, wenn es nicht das Lagerproblem gäbe. Über Lager kann man viel Gutes oder Schlechtes sagen. Sie haben aber unbestreitbar zwei positive Funktionen: sie helfen Wählerinnen und Wählern bei ihrer Orientierung und sie dienen einer koalitionspolitischen Vorstrukturierung.
Die Existenz politischer Lager lässt sich über Indikatoren wie die Zweitpräferenz, die Koalitionspräferenz und das Stimmensplitting von Wählerinnen und Wählern messen. Das bürgerliche Lager zeigte sich bei der Bundestagswahl 2013 mit 46,3 Prozent nach wie vor mehrheitsfähig. Nur waren die Stimmen falsch verteilt. Der FDP fehlten bei 4,8 Prozent nur etwa 90.000 Stimmen (z.B. von CDU-Wählerinnen und Wählern), dann hätte das bürgerliche Lager weiter regieren können.
Der Abstand des bürgerlichen zum rot-grünen Lager beträgt mehr als 12 Prozent. Noch gravierender ist allerdings: Rot-Grün scheiterte seit 2005 bei drei Anläufen, eine Mehrheit zu gewinnen. Drei ist eine magische Zahl mit einem rationalen Kern. Beim ersten Scheitern hält man es für einen Unfall. Beim zweiten Scheitern wundert man sich nachhaltig. Beim dritten Scheitern wird zur Gewissheit, dass man etwas grundlegend ändern muss. Das rot-grüne Lager wird auf Bundesebene mangels Praxis vergilben. Das schwarz-gelbe Lager behält seine Mehrheitschance. Zur Asymmetrie der Lager kommt eine Asymmetrie der Lagerhoffnungen.
Nachdem das bürgerliche Lager beim Regieren erodiert und eine Lagerbildung links von der Mitte nicht vorangekommen ist, zeigt sich die Lagerdynamik erstmal abgeschwächt. Die vielleicht nur vorübergehende Abschwächung der Lager erklärt sich aus dem Leistungsversagen der FDP in der Regierung, ihrem Ausscheiden aus dem Parlament und durch die Blockierung eines rot-rot-grünen Lagers, das weder eine Mehrheit noch Kohärenz aufweist. Starke Minderheiten bei SPD und Grünen würden ihre Partei nicht mehr wählen, wenn sie in eine rot-rot-grüne Koalition gingen.
Geht der Trend weg von der Lagerorientierung? Es sieht erst einmal so aus, muss aber nicht irreversibel sein. Möglich sind unterschiedliche Entwicklungen:
- Das Lagermuster wird reaktiviert. Das hängt vor allem von zwei Faktoren ab: den Entwicklungen der FDP und der Linkspartei. Wenn sich die Linkspartei nicht wandelt, gibt es 2017 zwar möglicherweise noch einmal (wie 2005) eine rot-rot-grüne Mehrheit, aber kein regierungsfähiges Mitte-Links-Bündnis. Das erneute Aufleben eines bürgerlichen Lagers mit einer Wiedererstarkten FDP und der Chance auf eine zurückgewonnene Regierungsmehrheit dagegen ist nicht aus der Welt.
- Die Orientierung auf Lager wird von einer Mitte-Orientierung abgelöst. Das ist die These von Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen (Angela Merkels Sieg in der Mitte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48–49/2013, S. 9-20). Danach seien die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Mitte-Orientierung schon weiter als die ideologisch aufgeladenen Parteien, die noch zu sehr in Lagern dächten. Die Wählerinnen und Wähler müssten die widerspenstigen Parteien erst durch ihr Votum in die gewollte Mitte-Regierung zwingen.
- Es bilden sich neue Lager. Addiert man die AfD, die bei der letzten Bundestagswahl auf 4,7 Prozent kam, zu Schwarz-Gelb hinzu, wäre das bürgerliche Lager schon 2013 auf 51 Prozent gekommen. Falls die AfD nach erfolgreicher Europawahl und in Ostdeutschland gewonnenen Landtagswahlen Aussichten auch für den Bundestag hätte, ständen sich im Sechsparteiensystem zwei hoch fragmentierte Lager mit je drei, ziemlich unverträglichen Parteien gegenüber. Rechte und linke Flügelparteien sowie zwei unvollständige Lager würden den Trend zur Koalitionsbildung in der Mitte verstärken – aber gleichzeitig das Lager-Potential vergrößern.
Das sind drei mögliche Szenarien einer weiteren Entwicklung. Am wahrscheinlichsten ist, dass sich bis 2017 das Orientierungs- und Beobachtungsschema "Mitte" durchsetzt. Ungestört dadurch – sozusagen im Rücken der Mitte-Rhetorik – könnte 2017 das Lager wieder aufleben, das aus heutiger Sicht die strukturell besten Voraussetzungen dafür hat: das schwarz-gelbe, bürgerliche Lager.
3) Das Große-Koalitionsproblem
Das Große-Koalitionsproblem erweist sich zunächst einmal als ein Problem für die beteiligten Hauptakteure. Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, in der Regierung gemeinsam etwas Vorzeigbares herzustellen, gleichzeitig aber eine Erfolgs- und eine Exitstrategie zu entwickeln.
Die erste Frage lautet, was das Vorzeigbare und besondere Leistungsprofil der Großen Koalition sein könnte. Heißt die Gleichung "Große Koalition löst große Aufgaben" oder doch eher "Große Koalition ist der kleinste gemeinsame Nenner von zwei Großparteien"? Bislang ist das nach außen sichtbare Anspruchsniveau allenfalls "mittelhoch". Außer bei der Energiewende arbeitet die Große Koalition zwar an vielen Baustellen, aber nicht an einem zweiten Großprojekt. Fast sieht es so aus, als hoffe man, dass sich die Regierungsleistung am Schluss aus der Addition vieler kleiner Bauteile ergibt.
Zum zweiten Punkt: Wie sehen die Erfolgsstrategien der Koalitionspartner aus?
Es sind zwei Parteien mit latenter, im Wahlkampf 2017 wieder manifester Konkurrenz. Man könnte denken: Wer von beiden in der Großen Koalition mehr Leistung bringt, habe am Ende auch den größeren Erfolg. Da das mit wirklich erbrachten und den von Wählerinnen und Wählern zugerechneten Leistungen immer problematisch bleibt, lautet unsere These: Aufs Ganze gesehen ist Strategiefähigkeit, also geklärte Führung und Richtung sowie Strategiekompetenz, noch wichtiger als Leistung. Nur wer strategiefähig ist, kann seine Linie in der Koalition dauerhaft durchhalten und erscheint am Ende als der einflussreichere und stärkere Partner – dafür wird er von den Wählerinnen und Wählern mit zusätzlichen Stimmen belohnt.
Für die Kanzlerin Merkel ist die Große Koalition das ideale Bündnis. Sie scheint für eine solche Konstellation geboren zu sein. Ihr Motto lautet: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch die Mitte." Die Führungsfrage ist in der Union geklärt, solange sie regiert. Die Richtung markiert Merkel durch eine vollständig entideologisierte Mitte – ähnlich wie Helmut Kohl, aber ohne dessen Polarisierung aus der Mitte heraus. Strategiekompetenz hat Angela Merkel selbst, unterstützt von einem verschwiegenen Stab und dem von ihrem Vertrauten Peter Altmaier geführten Kanzleramt, gegen das man auch in einer Großen Koalition kaum ankommt. Die schwach gewordenen CDU-Sozialausschüsse werden quasi durch die SPD ersetzt. Die stärkste der Oppositionsparteien, die SPD, wird in die Kabinettspolitik eingebunden und schon allein dadurch domestiziert. Die Poleposition der Kanzlerschaft erlaubt – wenn es einem nichts ausmacht – sich mit fremden Federn zu schmücken, sich die sozialdemokratischen Regierungsleistungen als die eigenen anzueignen. Konflikte werden ignoriert, absorbiert, integriert.
Und die SPD? Die zweite, kleinere Partei in einer Großen Koalition ist strukturell immer unterlegen. Man brauchte einen hohen Grad an Strategiefähigkeit, um dieses Handicap zu überwinden. Das gelang der SPD nur 1969, gegenüber dem vergleichsweise schwachen Kanzler Kiesinger und einer erschöpften CDU. Wie ist es um die Strategiefähigkeit der SPD bestellt? Die Führungsfrage der SPD scheint zugunsten von Sigmar Gabriel geklärt. Niemand weiß, ob das stabil bleibt oder mit alten Stereotypen von außen wieder angreifbar wird. Eine strategische Reserve für die Spitzenposition hat die SPD nicht. Die Richtungsfrage wirkt mit Mitte-Links umrissen und beruhigt, kann aber über die Fragen alternativer Koalitionsoptionen oder weggedrückter Sachthemen (z.B. Steuer- und Finanzpolitik) wieder aufbrechen. Dann könnten sich die alten Positionen von sozial-liberal (mit der Ampel als Wunschkoalition) und links-sozialdemokratisch (mit dem Bündniswunsch Rot-Rot-Grün) erneut gegenüberstehen. Bei der Strategiekompetenz fehlt natürlich ein "Vizekanzleramt", offen bleibt, wie sich die Leistungsfähigkeit des Willy-Brandt-Hauses entwickelt. Die Sozialdemokraten können sich unter der Kanzlerin Merkel nicht darauf verlassen, dass ihre Regierungsleistungen auch ihnen zugerechnet werden. Ihr wichtigster Mann in der Regierung, der Vizekanzler Gabriel, ist auf dem Kompetenzfeld der Union tätig (Wirtschaftspolitik). Formen des begrenzten Konflikts, die es bedarf, um die SPD wirtschaftspolitisch zu profilieren, sind, wenn sie in der Regierung ausgetragen werden, in Deutschland sehr unbeliebt. Sie brauchen populäre Themen und Akteure.
Bleibt der dritte Punkt des Große-Koalitionsproblems: Haben die beteiligten Akteure eine Exitstrategie? Genauer gesagt: In welchem Zustand und mit welchen Optionen kommt man als Partei 2017 aus der Großen Koalition heraus? Die Schlüsselfrage liegt hier vor allem bei der Linkspartei. Ist sie bis dahin (außen- und innenpolitisch) nicht regierungsfähig, verfügt die Union über die strategische Mehrheit, kann also keine Mehrheit jenseits von ihr gebildet werden. Der SPD droht nach wie vor ein Ende wie nach der Großen Koalition von 2005-2009. Sie würde dann ohne anerkannte Erfolge und ohne alternative Bündnismöglichkeit aus der GK heraus kommen. Also als Verliererin.
4) Ausblick
Am Ende sollen die Überlegungen zur Problem-Republik nochmal kurz aus der Optionsperspektive der beteiligten Akteure reflektiert werden. Wie viele strategische Optionen hat jede Partei und vor allem: wer hat die besten?
Die CDU hat drei Optionen und muss sich als Mehrheitspartei nur bereithalten, um im Lichte der nächsten Wahl eine der drei Handlungsmöglichkeiten zu ergreifen. Vor ihr liegen am wenigsten Aufgaben, sie hat die beste Ausgangsposition.
Die SPD, die auf Rot-Grün in der nächsten Zeit nicht rechnen kann und für die eine Fortsetzung der GK wahrscheinlich nicht attraktiv ist, muss sich umsehen nach den schwierigen Dreierkoalitionen, jeweils mit einer Randpartei. Sie kann als Partei der GK nicht ernsthaft und offen an einem alternativen Bündnis, das sie braucht, arbeiten. Deshalb geht die Koalitionsfrage für sie in die Latenz über. Im Stillen etwas dafür tun, ohne den Wählern eine klare Alternative bieten zu können. Es gibt schönere Lagen.
FDP und Linke, die beiden Flügelparteien, müssen ihre Optionen aktiv erhöhen, um ins Spiel zu kommen. Die Linkspartei hat eine, die FDP zwei Optionen. Die Linkspartei kann den Status quo ihrer Selbstblockade nur durch ernsthafte Öffnung zu einem Mitte-Links-Bündnis überwinden. Die FDP kann sich immerhin auf zwei Optionen vorbereiten: die Erneuerung eines Lagerbündnisses mit der Union und die lagerübergreifende Ampelkoalition.
Während FDP und Linkspartei über zu wenige Optionen verfügen, haben die Grünen eher zu viele. Um genau zu sein vier, inklusive Rot-Grün. Das grüne Problem heißt nicht: Optionen vermehren, sondern Optionen kontrollieren. Die Partei am Ende überzeugend in eine der Optionen einbringen, ohne sie vorher innerlich zu zerreißen und von ihren Wählerinnen und Wählern abgestraft zu werden.
Die ungleiche Verteilung von Optionen – CDU, SPD und Grüne mehr, FDP und Linke weniger – hängt mit der Architektur unseres Parteiensystems zusammen. Die drei Großthemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Soziales, Ökologie) sind den beiden Großparteien und den Grünen zugeordnet (Kernkompetenzführerschaft). Hauptvertreter des Sozialen ist nach wie vor die SPD, Hauptvertreter der Ökonomie die CDU, die Grünen haben ihr Alleinstellungsmerkmal bei der Ökologie. FDP und Linke erfüllen bei diesen Kompetenzzuordnungen nur eine begrenzte Funktion. Sie radikalisieren jeweils das, was als Großthema schon besetzt ist: die Position des Marktes (FDP) und die des Sozialen (Linkspartei). Vom Zentrum her gibt es mehr, von der Peripherie her weniger Optionen.
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Die Grünen nach der Wahl.