Ende der Erfolgsgeschichte? Proteste und Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien

Auf dem Plakat der Demonstrantin steht: "Wenn dein Kind krank ist, bring es in ein Stadion"
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Auf dem Plakat der Demonstrantin steht: "Wenn dein Kind krank ist, bring es in ein Stadion"

Was bringt eigentlich so eine Fußballweltmeisterschaft? Die Antwort auf diese Frage hängt sehr von der Gegenfrage ab: "Wem bringt sie etwas?" Den Zwangsgeräumten hat sie den Verlust ihres Heimes und zumeist auch ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage gebracht. Ihre Häuser und Hütten mussten neuen Straßen, neuen Stadien oder neuen Apartments und Shoppingcentern für Besserverdienende weichen. Und nur in wenigen Fällen hielten sich die Verantwortlichen an die internationalen Normen für Zwangsräumungen wie rechtzeitige Information und Beteiligung der Betroffenen, angemessene Entschädigung oder gleichwertiger Ersatz, wenn irgend möglich in der Nähe der alten Wohnung. Diese Normen finden sich auch in brasilianischen Gesetzen. Etwa 170.000 Menschen, so schätzt der Dachverband der brasilianischen WM-Volkskomitees, wird dies nicht helfen.

Auch für die Allgemeinheit ist die Bilanz fragwürdig. Die Regierung verspricht erhebliche direkte und indirekte Effekte auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, die von Ökonomen mehrheitlich bezweifelt beziehungsweise widerlegt werden. Die WM in Deutschland hat etwa drei Milliarden Euro gekostet, die in Südafrika 2010 vier Milliarden und in Brasilien sind es offiziell derzeit 8,5 Milliarden, davon bringt die öffentliche Hand mehr als 80 Prozent auf. Allein die Stadien verschlingen voraussichtlich knapp drei Milliarden Euro; die Aussicht auf eine sinnvolle Nutzung nach der WM ist bei der Hälfte sehr gering bis ausgeschlossen. Gewinner der WM sind schon jetzt die FIFA – voraussichtlich vier Milliarden Euro wird der Weltfußballverband in Brasilien einnehmen, steuerfrei! – und die großen Baufirmen; die Tourismusbranche dagegen hat erhebliche Zweifel, dass die WM für sie lukrativ sein wird.

Was bleibt, sind im besten Fall die Imagegewinne, die sich mittelfristig kapitalisieren sollen. Das deutsche Sommermärchen von 2006 wird hier gern genannt, und nach offiziellem Willen soll es 2010 auch Südafrika gelungen sein, sich als moderne und tolerante "Regenbogennation" zu präsentieren. Die Brasilianer müssen der Welt nicht erst beweisen, dass sie feiern können und ein umgängliches Volk sind. Aber gerade, was das Image angeht, fürchtet die Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff ein Eigentor. Denn die Chancen stehen gut, dass sich Bilder wiederholen, die seit Juni 2013 um die Welt gehen: Bilder von aufgebrachten Demonstranten, Tränengasschwaden, brennenden Barrikaden und einer hilflos brutal agierenden Polizei. Mit Prügel und Gummikugeln gehen die Sicherheitskräfte gegen Brasilianerinnen und Brasilianer vor, die die Weltmeisterschaft im eigenen Land kritisieren. Nicht, weil sie Fußball nicht mögen oder der Seleção nicht die Daumen drücken, das tun die meisten sehr wohl; sondern weil die von Regierung und Medien – nicht zuletzt ausländischen – beharrlich wiederholte Erfolgserzählung immer weniger mit den Alltagserfahrungen der Großstadtbrasilianer und damit der Mehrheit der Bevölkerung in Einklang zu bringen war.

"Wir wollen Hospitäler und Schulen nach FIFA-Standard"

Am 21. Juni 2013, einen Tag, nachdem mehr als eine Million Menschen landesweit auf die Straße gegangen waren, sagte Rousseff: "Die Straße sendet uns eine direkte Botschaft. Es geht um die Ausübung staatsbürgerliche Rechte, um bessere Schulen und Krankenhäuser, um das Recht auf Beteiligung … um öffentlichen Nahverkehr von Qualität und zu gerechten Preisen, um das Recht, Entscheidungen aller Regierungen sowie der Legislative und Judikative zu beeinflussen.“ Die Präsidentin war damit so nahe dran an den Motiven wie andere Interpreten, die von einer allgemeinen Krise der politischen Legitimation sprachen. Tatsächlich war die Motivgemengelage komplex. Es begann mit dem Protest gegen Fahrpreiserhöhungen. Mobilisiert von der seit 2005 aktiven „Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr" hatten viele endgültig genug von überfüllten Bussen, langen Wartezeiten und noch viel längeren Fahrzeiten zur Arbeit, vom täglichen Verkehrskollaps der auf Individualverkehr setzenden Stadtpolitik. Gleichzeitig rühmte die Regierung, Brasilien sei nun die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt und mittlerweile eine Mittelklassegesellschaft. Aber dass Wirtschaftswachstum allein noch keine zivilisatorische Entwicklung bedeutet, können die Brasilianer jeden Tag in ihren Schulen und Krankenhäusern beobachten, vor allem diejenigen, denen das Geld für Privatschulen und private Krankenversicherungen fehlt. Zudem brach das Wirtschaftswachstum ein und erreichte 2012 nur 0,9 Prozent. "Wir wollen Hospitäler und Schulen nach FIFA-Standard", war während der Proteste eine der Lieblingsparolen auf den handgemalten Plakaten in den Straßen. Auch die kaum verhehlte Korruption und Selbstbereicherung der politischen Klasse schürte die Unzufriedenheit. Immerhin entließ Präsidentin Dilma Rousseff allein in ihrem ersten Amtsjahr sieben Bundesminister, sechs davon wegen Korruption. Die Verflechtungen der großen Baufirmen mit der Politik sind ein offenes Geheimnis, und Meldungen von Abgeordneten, die die Flugbereitschaft der Luftwaffe kostenlos nutzten, um mit ihrer Familie während des Confederation Cups ein Spiel zu sehen, rundeten das Bild ab. Folgerichtig hielten alle Parteien und Politiker wochenlang still, erklärten sich allenfalls solidarisch mit den Protestierenden. Sie wussten genau, dass sie alle gemeint waren.

Es war eine gemischte Bewegung, die da plötzlich die Straße als öffentlichen und demokratischen Raum entdeckte: Studentinnen und Studenten vor allem aus der alten Mittelklasse, neben ihnen die dunkelhäutigen Kommilitonen der neuen Mittelklasse, darunter viele, die als Erste ihrer Familien ein Hochschulstudium absolvieren. Auch die Favelas gingen auf die Straße. Mobilisation per Facebook, Anonymous-Masken, Ocupa Copa: In Form und Symbolik reihten sie sich ein in die Bewegungen von Tunis bis zur New Yorker Wall Street. Ergänzt, wie oft in Brasilien, durch einen trotzig-militanten Nationalismus: "Ich bin stolz, ein Brasilianer zu sein!" skandierend und die Nationalhymne singend, fanden sich viele zusammen, Nationalflaggen als Umhang wurden zum Verkaufsschlager. Auch einige rechte Schlägertrupps marschierten mit, griffen Gewerkschafter und Linke an. Und viele Zivilpolizisten, die zum Beispiel versuchten, Demonstranten illegale Wurfgeschosse in den Rucksack zu schmuggeln.

Regierungen und Parlamente reagierten überraschend schnell mit dem Versuch, der Bewegung die Dynamik zu nehmen. Umgehend nahmen zahlreiche Stadtregierungen Fahrpreiserhöhungen zurück. Die Regierung versprach ein Plebiszit über eine "politische Reform". Die zentralen systemischen Fehler jedoch blieben unangetastet: die Klientelpolitik, die ins Absurde wuchernden Kosten der Staatsmaschinerie und die fehlende Programmatik und Fraktionsdisziplin der sogenannten Parteien. Um Wahlkampffinanzierung soll es gehen, um Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht und die Frage, ob ein Senator zwei Stellvertreter haben muss.

Pauschale Kriminalisierung des Protests

Knapp ein Jahr später redet von diesem Plebiszit niemand mehr. Brasilien braucht dringend eine Politik- und Parteienreform, aber viele der Protestierenden stellten das Format Partei schlechthin infrage. Rousseff reagiert mit einer Koalition aus 14 Parteien, die anderen bilden keine echte Opposition. Alle befinden sich auf der Innenseite des Systems, wie es Marcos Nobre, Philosophieprofessor in Campinas, formuliert hat. Doch nicht nur Parteipolitiker, auch traditionelle soziale Bewegungen wie Gewerkschaften und NGOs haben den jungen Protestierenden zufolge als Vermittler politischer Inhalte ausgedient. Die Krise der Repräsentation ist auch ein Generationenkonflikt.

Nach Juli 2013 verloren die Proteste an Beteiligung, gewannen aber an Breite und Vielfalt – und auch an Militanz. Nachbarn trafen sich auf den Plätzen und diskutierten Probleme wie Lärmbelästigung und Müllentsorgung. Unterdessen besetzten andere das Landesparlament und belagerten über Wochen die Privatwohnung des Gouverneurs Sergio Cabral. Taxifahrer streikten, ebenso die Lehrer. Viele mussten lernen, was es heißt, einer kaum ausgebildeten, aber auf gewaltsame, ja tödliche Unterdrückung trainierten Polizei gegenüberzustehen: massenhafter Einsatz von Tränengas- oder "Moraleffekt"-Bomben auch mitten in Wohnvierteln voller Restaurants und Geschäfte, Gummikugeln-Streufeuer, Pferde- und Schlagstockeinsatz.

Eine längst überfällige Polizeikritik begann sich zu etablieren, nicht zuletzt, wie es schien, weil regelmäßig Journalisten von der Polizei misshandelt wurden. Doch je öfter radikalere Gruppen das mediale Protestbild bestimmten, desto weniger wurde das Polizeiverhalten problematisiert. Und immer weniger wurde differenziert: Aus Demonstranten wurden nun "Vandalen", das ist ähnlich pauschal, wie Favela-Bewohner grundsätzlich als Drogenhändler zu sehen.

Mindestens 13 Menschen sind einer Zählung des Unabhängigen Medienzentrums Rio zufolge während der Proteste an den Folgen von Tränengas oder auf der Flucht vor der Polizeigewalt gestorben. Zahlreiche wurden verletzt, vor allem durch Gummigeschosse. Vier Tage nach den Massenprotesten erschoss die Sondereinheit der Polizei BOPE im Favela-Komplex Maré als Reaktion auf eine Raubserie in einer Nacht zehn Menschen. Das Massaker fand außerhalb der Favela kaum Beachtung – zu normal ist es, dass die Polizei dort nicht mit Gummi, sondern mit Blei schießt. Die Gewalt durchsetzt den öffentlichen Raum und führt zu permanenten Spannungen. Fälle von Selbstjustiz vor allem gegen Armutskriminelle häufen sich, unlängst wurde ein schwarzer Junge, der ein Handy geklaut hatte, auf offener Straße nackt mit einem Fahrradschloss um den Hals an einen Laternenpfahl gekettet.

Neue Akteure der Protestbewegung: "Ninja" und "Black Blocs"

Die Proteste haben für Brasilien zwei neue Akteure hervorgebracht: "Ninja" und die "Black Blocs". Ninja – das steht für "Unabhängige Narrative, Journalismus und Aktion" – berichtet von der Mitte der Bewegung, nutzt die Netzwerke, über die etwa ihr Ableger "Post-TV" Livebilder streamt. Ninja steht auf Seiten der Protestierenden, wie die herrschenden Medien auf der Seite der alten Ordnung stehen. Ohne Ninja wäre der Student Bruno Teles ins Gefängnis gewandert; ihre Aufnahmen konnten beweisen, dass nicht er einen Molotowcocktail geworfen hatte, wie Polizisten bezeugten. Ninja filmt willkürliche Festnahmen und schützt die Verhafteten durch öffentliche Aufmerksamkeit.

Die Black Blocs reagieren auf die Brutalität und Maßlosigkeit der Polizei; ähnlich wie in Deutschland ist das anarchistische Widerstandskonzept der Kerngruppen auf symbolische Gewalt gegen die Zeichen der Unterdrückung begrenzt. Diese Beschränkung wollen die meist Jugendlichen auch gar nicht akzeptieren. Die Black Blocs dominieren seit einigen Monaten die Proteste in den größten Städten Rio und São Paulo, mit zwei Effekten: Gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei sind vorprogrammiert; und das wiederum hält weniger gewaltbereite Menschen davon ab, auf die Straße zu gehen. Black Blocs liefern den Regierungen den ersehnten Anlass, massiv gegen die Protestbewegung vorzugehen. Bei einem Protest in Rio im Februar 2014 gegen die erneut angehobenen Busfahrpreise verletzte ein vermutlich fehlgeleiteter Feuerwerkskörper einen Kameramann tödlich am Kopf. Der führende Medienkonzern Globo entfachte daraufhin eine beispiellose Kampagne; die Proteste wurden nun pauschal als kriminell und terroristisch bewertet. Die Berichterstattung ging so weit, mit der Protestbewegung sympathisierende Figuren des öffentlichen Lebens als Unterstützer von Terroristen zu denunzieren, allen voran den Landtagsabgeordneten Marcelo Freixo, der vor seiner politischen Karriere als Menschenrechtsaktivist Amnesty Deutschland zwei Mal besuchte und sich als Initiator und Vorsitzender einer Untersuchungskommission gegen Privatmilizen in Rio de Janeiro einen Namen gemacht hat.

Die jüngste Urgent Action der jungen Sektion von Amnesty International in Brasilien richtet sich gegen eine pauschale Kriminalisierung der Protestbewegung. Denn Brasilien soll nun auch eine Antiterrorgesetzgebung bekommen. Nach 2011 liegt dem Senat nun ein zweiter Gesetzentwurf vor, der Terrorismus zu definieren sucht und Strafmaße festsetzt. Die Definitionen sind nach Einschätzung von Amnesty Brasilien "extrem vage und können dazu verwendet werden, Menschenrechte einzuschränken". Unter anderem ist der Tatbestand "Terrorismus gegen Sachen" vorgesehen. Ähnliche Besorgnis ruft – nicht nur bei Menschenrechtlern – eine andere Gesetzesinitiative hervor, die "Unordnung auf öffentlichen Plätzen" bestrafen will, und sei es nur denjenigen, der daran mittelbar beteiligt ist. Vermummung soll verboten werden (ist sie bisher nicht), Demonstrationen müssen mindestens 48 Stunden vorher angemeldet werden, das Strafmaß für Sachbeschädigung, Plünderung und den Gebrauch von Feuerwerkskörpern (sonst jedem Fußballfan vor seiner Wohnung das ganze Jahr lang unbenommen) wird verschärft. Auf Landes- und kommunaler Ebene verschärfen die Parlamente Gesetze zu Sachbeschädigung oder Körperverletzung oder planen, Demonstrationen nur noch zu genehmigen, wenn sie den Verkehrsfluss nicht behindern.

Präsidentin Rousseff hat vor kurzem einen neuen Kommunikationsminister ernannt und ihn beauftragt, der Bevölkerung schnellstmöglich zu erklären, warum die WM gut für sie sei. Und sie ließ einen Twitter-Account einrichten: #VaiTerCopa – #DieWMFindetStatt.

Eine längere Fassung dieses Textes erschien unter dem Titel :"Die Stunde der Unzufriedenen" im Amnesty Journal vom April/Mai 2014.