Notizen aus Charkiv und Donezk

Kundgebung
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Kundgebung in Charkiv, Ukraine, am 23. März 2014

Die Krise ist noch lange nicht vorbei. Putins Plan A war, Janukowitsch in 2015 zur Wiederwahl zu verhelfen und dafür den Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union zu fordern. Plan B ist die Spaltung des Landes: Ein Krim-Szenario für den Südosten der Ukraine. Viele rechnen damit, dass Putin versuchen wird, Vorwände für eine militärische Intervention in der Südost-Ukraine zu fabrizieren. Die Truppen dafür stehen schon bereit, auf der Krim wie an der Ostgrenze der Ukraine. Man lebt in Erwartung eines Erdbebens.

Auch wenn die russische Armee haushoch überlegen ist: Eine militärische Invasion im Kerngebiete der Ukraine wäre kein Spaziergang. Die ukrainische Armee könnte ihr wenig entgegensetzen. Aber eine russische Besatzungsmacht müsste mit anhaltendem bewaffneten Widerstand rechnen. In Gesprächen fiel das Stichwort „Partisanenkrieg“. Anders als auf der Krim würde nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine russische Militäraktion begrüßen.

Die „Operation Destabilisierung“ ist bereits im Gang. In den letzten drei Wochen fanden sechs russisch-nationalistische Kundgebungen in Charkiv statt. Allerdings geht die Beteiligung zurück. Am 22. März waren es vielleicht noch dreihundert Demonstranten in Charkiv, einen Tag später etwa 2000 in Donezk. Transparente „Putin rette uns“, „Russland, Russland“-Parolen, russische Fahnen. An den militanten Aktionen der letzten Wochen waren „Polittouristen“ aus Russland, bezahlte Hooligans und ‚Tituschki‘ (Kriminelle) beteiligt. Der Sturm auf die Bezirksverwaltung wurde von radikalen Nationalisten aus Russland angeführt.

Viele befürchten die Inszenierung gewaltsamer Zusammenstöße durch Provokateure. Sie könnten als Brandbeschleuniger eingesetzt werden. Russische Fernsehsender sind stets an Ort und Stelle und senden alarmistische Berichte über „Bedrohung russischer Patrioten durch ukrainische Faschisten“. Am 5. März wurde in Donezk eine pro-ukrainische Kundgebung von russisch-nationalistischen Ultras angegriffen. 35 Menschen wurden verletzt, ein Demonstrant erstochen. Als mutmaßlicher Täter wurde ein Krimineller aus Russland mit dem Spitznahmen "der Vollstrecker" identifiziert (Bericht von NGO-Aktivisten aus Donezk). Er ist abgetaucht.

Die russischen Fernsehsender (werden auch in der Ostukraine gesehen) trommeln gegen den vermeintlichen Aufmarsch von „Bandera-Faschisten“ aus dem Westen des Landes. Das zielt auf die Mobilisierung kollektiver Gefühle aus dem „großen vaterländischen Krieg“ gegen den Nationalsozialismus: russische Angst und russischer Stolz. Internetaktivisten sprechen von einem Propagandakrieg, der auch in den sozialen Netzwerken ausgetragen wird.

Von der unvollendeten Nation zur multiethnischen Republik

Entgegen dem Bild, das häufig bei uns gezeichnet wird, spielt "ethnische Identität" in der Südost-Ukraine keine dominante Rolle. Die Bevölkerung ist multiethnisch und multikulturell: seit Jahrhunderten mischen sich in diesem Landstrich russische, ukrainische, jüdische und polnische Einflüsse, dazu kommen Tataren, Ungarn, Bulgaren und Rumänen. In den großen Städten finden sich Menschen aus aller Welt. Russisch zu sprechen ist selbstverständlich, sagt aber noch lange nichts über politische Loyalitäten. Mit Russland bestehen verwandtschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen. Besucher aus Russland kaufen in Charkiv ein, besuchen Theateraufführungen und Konzerte. Zahlreiche Arbeitsplätze in der Metall- und Rüstungsindustrie hängen am Export nach Russland.

All das spricht gegen eine harte Grenze zwischen der Ukraine und dem großen Nachbarn im Osten. Dennoch hält sich die Begeisterung über einen Beitritt zur „Eurasischen Union“ auch dort in Grenzen. Die Mehrzahl der russischsprachigen Ukrainer will keineswegs von Putin „gerettet“ werden (auf dem Maidan wurde mindestens so viel Russisch wie Ukrainisch gesprochen). Auch in der Ost-Ukraine ist zumindest die jüngere Generation "pro-europäisch", wenn damit Lebensgefühl, Werte und Zukunftshoffnungen gemeint sind. Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen denen, die Veränderung wollen und jenen, die einem idealisierten Mythos der Sowjetunion als Hort der Stabilität, sozialen Sicherheit und imperialen Größe anhängen.

Wer demonstriert jetzt unter russischen Fahnen? Soweit diese Leute aus der einheimischen Bevölkerung kommen, zählen sie in der Regel zu den Verlierern der sozialen Turbulenzen, die mit dem Zerfall der Sowjetunion einhergingen. Industriearbeiter erhoffen sich von Russland sichere Arbeitsplätze, Rentnerinnen eine Aufbesserung ihrer Pensionen. Nicht sie sind eine Gefahr für die Einheit des Landes, sondern diejenigen, die systematisch versuchen, einen ethno­nationalistischen Konflikt in der Ukraine zu inszenieren. Und die sitzen, sorry to say, in Moskau (mit Alliierten vor Ort). Swoboda, um auch das noch zu bemerken, arbeitet dieser Propaganda in die Hände - es gibt Leute, die Swoboda als nützliche Idioten Putins bezeichnen. Der Nationalismus Svobodas (die Ukraine als Staat der ethnischen Ukrainer) ist das Spiegelbild des großrussischen Nationalismus.

Bisher war die Ukraine eine unvollendete Nation. Der Maidan und die russische Annexion der Krim könnten zum Katalysator für die Konstituierung einer politischen Nation werden, die sich nicht mehr ethnisch definiert, sondern als politische Gemeinschaft freier Bürger. Es gibt hoffnungsvoll-spöttische Stimmen, die Putin den großen vaterländischen Verdienstorden der Ukraine verleihen wollen: für den Schub, den er einem post-ethnischen ukrainischen Patriotismus verliehen hat.

Machtwechsel oder Systemreform?

Die bisherige Partei der Macht, Janukowitschs „Partei der Regionen“, wurde von Timoschenkos „Vaterlandspartei“ abgelöst. Sie hat in kürzester Frist alle politischen Kommandohöhen besetzt: Parlamentspräsident, Interimspräsident, Premierminister. Kritische Geister befürchten, dass Timoschenko lediglich das alte Regime übernehmen will, statt es zu reformieren: Neue Machthaber, alte Strukturen. Das gilt auch für die korrupte Klientelwirtschaft: Besetzung möglichst vieler Posten mit eigenen Anhängern, Begünstigung von Unternehmern, die loyal zu Timoschenko sind, Zahlung von „Provisionen“ für öffentliche Aufträge an die Parteikasse.

Die Partei Klitschkos, UDAR, hat keine Ministerposten übernommen, gehört aber der neuen Parlamentsmehrheit an, auf die sich die Regierung stützt. Man wahrt eine Halbdistanz zur viel besser aufgestellten Vaterlandspartei. Klitschko, so hören wir, habe sich auf dem Maidan wacker geschlagen, auch mit unpopulären Botschaften. Er sei jedoch auf Allianzen mit anderen demokratischen Kräften angewiesen, um erfolgreich zu sein. Allein aus eigener Kraft wird er wohl nicht Präsident.

Der „orangene Oligarch“ Poroshenko, der den Maidan unterstützte, könnte eine interessante Alternative für die Präsidentschaftswahl werden. Er hat zwar keine eigene politische Hausmacht, verfügt jedoch über eine gewisse Reputation im Osten wie im Westen. Das könnte ihn am Ende zu einem Kompromisskandidaten machen.

Noch hat sich die neue Macht nicht fest etabliert. Das eröffnet Möglichkeiten, integeres und kompetentes Personal in Regierung, Verwaltung und Justiz zu bringen. Personelle Erneuerung, effektive Gewaltenteilung und öffentliche Kontrolle der Macht sind essentiell, um zu verhindern, dass es auch diesmal (wie 1994) zu einem bloßen Austausch von mehr oder weniger korrupten Machtgruppen kommt. Es gibt eine neue, gut ausgebildete und europäisch orientierte Generation in der Ukraine. Wir werden schon bald sehen, ob sie jetzt bei der Besetzung von Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung zum Zuge kommt oder ob die alten Funktionseliten sich gegen Veränderung von unten abschotten werden.

Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, die politischen Strukturen vor Ort haben sich seit dem Umsturz in Kiew kaum geändert, die korrupten Seilschaften bestehen fort. Aber die Zivilgesellschaft ist selbstbewusster geworden, es wird mehr politisch diskutiert, es gibt Hoffnung, dass es diesmal nicht bei einem bloßen Wechsel der Machtgruppen bleibt. Dazu die unvermeidliche Fundi-Realo-Debatte, ob man sich in Parteien engagieren und öffentliche Ämter übernehmen oder lieber im Status der reinen Opposition bleiben soll.

Von der EU erwartet man eine klare Haltung, politische Solidarität und wirtschaftliche Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist allerhöchste Zeit, dass sie in der Ostukraine Präsenz zeigt: mit Kontaktbüros, Informationen und Gesprächsangeboten. Sechs Jahre wurde über ein Assoziationsabkommen verhandelt, dessen Inhalt und Bedeutung kaum jemand kennt. Dabei gibt es ein breites Spektrum für praktische Kooperation: von der Modernisierung des Gesundheitswesens und der Sanierung der heruntergekommenen Plattenbauten bis zur energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Wenn die Ukraine der Abhängigkeit von russischem Gas entkommen will, muss sie die Energieeffizienz in der Industrie und im Gebäudebereich verbessern und ihre regenerativen Energiequellen (Wind, Biogas, Holz) erschließen. Das Potential dafür ist groß. Die EU sollte ein spezielles Programm zur Förderung von Investitionen und Kooperationen in diesem Sektor auflegen.

Dass man auf militärischen Beistand des Westens nicht hoffen kann, haben alle verstanden. Ministerpräsident Jazenjuk hat seine Ankündigung, den Beitritt zur NATO zu beantragen, rasch wieder in der Versenkung verschwinden lassen: weder Washington noch Berlin oder Paris möchten jetzt mit heiklen Fragen konfrontiert werden.

Vorläufiges Fazit

Russland ist militärisch in der Vorhand. Die Gefahr einer Intervention über die Krim hinaus ist noch lange nicht gebannt. Auch die Präsenz einer OSZE-Mission in der Ukraine ist keine Schutzgarantie. Zwar kann von einem ethnonationalen Konflikt in der Ukraine nicht die Rede sein, aber es gibt Kräfte, die an einem solchen Szenario arbeiten. Man muss damit rechnen, dass die russische Führung alles daran setzen wird, den Erfolg der ukrainischen Revolution zu verhindern. Eine demokratische und prosperierende Ukraine ist ein Albtraum für Putin.

Deshalb kommt es entscheidend auf die Stabilisierung des Landes an: faire Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, Neuwahl des Parlaments, Abwendung des Staatsbankrotts, Investitionen in die marode Infrastruktur und Gebäudesubstanz, Kampf gegen die Korruption. Visafreies Reisen in die EU wäre ein prima Signal, dazu Stipendien, Berufspraktika und Kulturaustausch. Das lässt sich kurzfristig machen, kostet nicht viel und hätte große Wirkung.

Dagegen sollten wir vorsichtig mit dem Ruf nach „Föderalisierung“ der Ukraine sein. Er mag für unsere Ohren plausibel klingen, öffnet aber in der jetzigen Lage das Einfallstor für eine Ethnisierung der ukrainischen Politik und eine faktische Spaltung des Landes: Bosnien statt Schweiz. Eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und eine faire Finanzverteilung zwischen Zentralregierung und Regionen stehen auf einem anderen Blatt.

Damit die Ukraine die Zeit bekommt, die sie braucht, um sich zu erneuern, muss der Westen eine klare Botschaft an Putin schicken: jede weitere Militäraktion gegen die Ukraine wird nachhaltige wirtschaftliche und politische Sanktionen nach sich ziehen. Man muss hoffen, dass es in der russischen Machtelite noch genügend Leute gibt, denen die langfristige Zukunft ihres Landes wichtiger ist als kurzfristige nationale Triumphe.



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