Einschätzungen zur politischen Lage im Osten der Ukraine und Russlands Forderungen

Straßenschild in Charkiv, Ukraine
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Straßenschild in Charkiv, Ukraine



Im Gespräch: Mykola Rjabtschuk

Mykola Rjabtschuk



Wie schätzen Sie die Lage im Osten der Ukraine ein – wie stabil oder instabil? Ist es leicht, Menschen in Donezk, Luhansk oder Charkiw für pro-russische Proteste auf die Straße zu bekommen?



Die Lage im Osten der Ukraine, in Grenznähe zu Russland, ist instabil, aber grundsätzlich hat Kiew sie im Griff, besonders nachdem angesehene, örtliche Geschäftsleute in Donezk, Dnipropetrowsk und anderswo zu Gouverneuren ernannt worden sind. Der pro-russische Aufschrei in diesen Gebieten, die Krim inbegriffen, rührt nicht so sehr von örtlicher Mobilisierung her, hat kaum Wurzeln dort, sondern entsteht durch Einmischung von außen – durch fanatische Medienpropaganda und den starken Zustrom russischer paramilitärischer „Touristen“, die über die offenen Grenzen in die Ukraine eindringen (siehe z.B. diesen Bericht aus Charkiw). Meinungsumfragen, die zwischen dem 8. und 18. Februar durchgeführt wurden, ergaben, dass selbst auf der Krim nur 41 Prozent aller Befragten eine Vereinigung mit Russland befürworten. In anderen Gegenden im Südosten des Landes ist die Unterstützung noch geringer: In Donezk waren es 33 Prozent, 24 Prozent in Luhansk, 15 Prozent in Charkiw und 14 Prozent in Dnipropetrowsk. Das bestätigt im Wesentlichen die Ergebnisse einer Meinungsumfrage von 2012, in der 70 Prozent der Befragten im Osten der Ukraine angaben, sich als „ukrainische Patrioten“ zu begreifen (siehe S.8).



Welche Interessen Russlands in der Ukraine würden Sie als „legitim“ bezeichnen? Und wie ließen sich solche Interessen am besten schützen?



Diesen Ausdruck halte ich für äußerst dubios und zudem durch Hitler, Stalin usw. kompromittiert, soll heißen, er bezieht sich auf bestimmte Einflusssphären und soll die verdeckte oder offene Aggression gegen andere Staaten rechtfertigen. Im Prinzip können „legitime Interessen“ eines Staates oder eines anderen Gemeinwesens sich nur von rechtlich bindenden, bi- oder multilateralen Vereinbarungen zwischen diesen Staaten herleiten – oder von anderen internationalen Übereinkünften, die der fragliche Staat unterzeichnet hat. Andere „legitime Interessen“ jenseits dem was bi- oder multilateral vereinbart wurde, gibt es nicht. Wenn die russische Regierung glaubt, dass die Ukraine ein bilaterales Abkommen mit Russland verletzt hat, beziehungsweise gegen internationale Verpflichtungen verstoßen hat, die die beiden Nationen eingegangen sind, und dadurch Russlands „legitime Interessen“ verletzt, sollte sie zuallererst auf diplomatischem Wege – bilateral und international – versuchen, die strittige Frage zu klären. Alle anderen Arten, das Problem zu lösen, sind nichts als Banditentum.



Worum dreht sich im Kern der Streit um das Gesetz über die offizielle Landessprache der Ukraine? Welche Rolle spielt die russische Sprache heute in der Ukraine? Und wie und wo plant die neue Regierung, den Gebrauch des Russischen einzuschränken?



Sprecher des Ukrainischen und des Russischen in der Ukraine verstehen einander problemlos. Fast alle Bürger sprechen in gewissem Maße beide Sprachen. Der Sprachenstreit ist eher symbolischer Natur, da Russisch im Zaren- wie im Sowjetreich jahrzehntelang bevorzugt wurde. Ukrainisch hingegen war entweder verboten oder es wurde an den Rand gedrängt und verachtet. Sprecher des Ukrainischen wurden entweder als tumbe Landeier verspottet und gedemütigt oder, waren sie gebildet, als „bourgeoise Nationalisten“ unterdrückt. Diese mehr oder weniger rassistische Einstellung wurde speziell im Südosten von vielen Russischsprachigen verinnerlicht, die aber tatsächlich nicht ihr Recht verteidigten, Russisch zu sprechen (niemand hat es ihnen je verboten), sondern ihr altes Recht aus sowjetischen Zeiten, Ukrainisch auf keinen Fall lernen oder benutzen zu müssen.



In dem umstrittenen Sprachgesetz von 2012 geht es denn auch nicht um den offiziellen Gebrauch der russischen Sprache, denn den garantiert die Verfassung der Ukraine. Das Gesetz wurde im Entwurf von Fachleuten stark kritisiert, darunter auch von der Venedig-Kommission der EU, vom Parlament aber dennoch abgesegnet, wobei es zu mehreren verfassungsrechtlichen Verstößen kam. Das Gesetz war stark umstritten, ließ es doch den offiziellen Gebrauch des Russischen nicht neben dem Ukrainischen zu (wie zuvor der Fall), sondern anstatt des Ukrainischen. Das erlaubte es Regierungsvertretern, kein Ukrainisch zu lernen und zu verwenden, etwas das viele ukrainischsprachige Menschen im Südosten als Beleidigung und Benachteiligung ansahen – sowie als Gefahr für die ukrainische Sprache, die dadurch vom Verschwinden bedroht sein könnte (etwas was mit dem Weißrussischen in Weißrussland bereits geschehen ist). Über das Gesetz sollte also neu verhandelt werden, aber in einer Art und Weise, die der russischen Propaganda keine Angriffsfläche bietet.



Glauben Sie nicht, dass man die Bedrohung, welche die Rechtsradikalen in der neuen ukrainischen Regierung darstellen, unterschätzt? Vertreter der Partei Swoboda nehmen in der neuen Regierung wichtige Posten ein, und Swoboda ist offen nationalistisch, fremdenfeindlich und anti-liberal – allesamt Positionen, die nicht zu den europäischen Kernwerten passen.



Rechte Parteien sind überall in Europa auf dem Vormarsch, und Swoboda, mit einem Stimmanteil von 10 Prozent ist wohl kaum die stärkste solche Partei. Der wesentliche Unterschied ist aber nicht die Zahl der Wählerstimmen, sondern liegt im Wesen dieser Partei. Man kann Swoboda nicht im Rahmen westeuropäischer Vorstellungen sehen (wo rechte Parteien vor allem gegen Einwanderung mobil machen). Swoboda hingegen gehört eher in einen Zusammenhang der nationalen Befreiung und des Anti-Kolonialismus (der Hauptfeind ist der russische Imperialismus und Neokolonialismus – aber, wie sie ständig betonen, es sind nicht die Russen an sich). Swoboda ist in der Tat nationalistisch und intolerant, man kann die Partei aber kaum antisemitisch nennen (so sehen sie in Israel das Paradebeispiel einer ethnischen Demokratie und sagen, dass sie die ukrainischen Juden lieben, da sie zu „uns“ gehören, nicht aber die sowjetischen Juden, die, ihrer Meinung nach, imperialistische Lohnschreiber sind).

Es mag für Liberale ungemütlich sein, mit Swoboda zusammenzuarbeiten, aber ich stehe ganz und gar hinter dem, was Josef Zissels, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden in der Ukraine und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses sagte, als er die sehr gemischten Bündnisse auf dem Maidan mit der Volksfront Frankreichs im Zweiten Weltkrieg verglich, in denen Kommunisten, Sozialdemokraten, Monarchisten, Anarchisten und andere Kräfte sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschlossen. In seinen Worten: „Das Hauptproblem der Ukraine ist nicht Swoboda, obwohl Swoboda in der Tat ein gewisses inneres Problem der Ukraine darstellt. Das Hauptproblem ist die Regierung, ihre Korruptheit und es sind ihre Versuche, dem Land eine autoritäre – oder, wie die Angriffe auf dem Maidan gezeigt haben, sogar eine totalitäre – Herrschaftsform aufzuzwingen. In diesem Konflikt hat sich die Opposition mit der Regierung zusammengeschlossen. Ist die Regierungskrise überwunden und kommt es zu den ersten nicht manipulierten Wahlen im Lande, dann ist die Zeit gekommen, sich mit unseren „Rechts- und Linksextremisten“ auseinanderzusetzen. Gegenwärtig aber stehen wir alle zusammen gegen einen sehr mächtigen Feind.



Persönlich bereitet mir Swoboda keine großen Sorgen, und die Partei scheint sich allmählich in eine honorige Mitte-Rechts-Partei zu verwandeln (seit Euromaidan haben sie auf radikale Äußerungen verzichtet und versuchen, Extremisten aus der Partei zu drängen). Mehr Sorge machen mir einige Splittergruppen aus dem sogenannten „Rechten Sektor“, deren Herkunft und Verbindungen unklar sind, und die von verschiedenen Kräften, darunter auch dem russischen Geheimdienst, für Provokationen und Manipulationen benutzt werden können. Es gibt Anzeichen, dass sich die ukrainischen Sicherheitskräfte dieses Problems angenommen haben, aber hier ist nach wie vor Achtsamkeit gefragt.



Viele Menschen in Deutschland denken, dass die EU Russland ohne Not provoziert hat, als sie der zerrissenen Ukraine die EU-Assoziation anbot, und dass die EU deshalb eine Mitschuld an der aktuellen Krise trägt. Wie sehen Sie das?



Ich finde die Frage an sich schon falsch, geht sie doch davon aus, dass die Ukraine kein souveräner Staat mit einer unabhängigen Außenpolitik ist, sondern ein Anhängsel und Machtgebiet Russlands. Das entspricht genau Putins Neokolonialismus, wenn er von „legitimen Interessen“ spricht. Es ist recht zynisch, zu behaupten, die Beziehungen der EU zur Ukraine (und umgekehrt) sollten von den Launen Russlands (oder einer anderen Macht) abhängig sein. Folgt man dieser Logik, dürfte niemand Russland irgendwo in der Welt „provozieren“ – sei es im Baltikum, in der Arktik, in Syrien, Libyen oder Venezuela. Die Welt hat 1938 die Tschechoslowakei geopfert, um Hitler nicht unnötig zu provozieren. Das hat ihr aber nicht viel genützt. Putin betreibt ein Nullsummenspiel – er sieht im Westen seinen Hauptfeind, und der Westen kann diesem Spiel einfach nicht ausweichen.



Wie andere Länder auch, ist die Ukraine in vielen Fragen gespalten. Aber das ist die Sache der Ukraine, nicht die Russlands. Je nach Region sagen zwischen 75 und 95 Prozent der Ukrainer, sie seien Patrioten und zwischen 100 und 55 Prozent unterstützen die territoriale Einheit des Landes.



Die EU ist nur in einer Hinsicht für die aktuellen Krise mitverantwortlich: Sie hat die Ukraine von Beginn an nie als Teil des europäischen Projekts gesehen und hat dem Land nach der Orangenen Revolution weder Schutz noch den Aussicht auf EU-Mitgliedschaft geboten, wo doch seinerzeit die Hoffnungen groß und unter weiser Führung eine umfassende Transformation durchaus möglich gewesen wäre. Das ukrainische Projekt kann mit einem imperialen Russland nicht überleben, deshalb werden sich die Ukrainer immer in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Mit Zustimmung der EU oder nicht. Diese Bewegung kann jedoch, je nachdem wie sie ausfällt, einen unterschiedlichen Preis haben. Darüber sollte die EU nachdenken, und nicht darüber, wie man es Putin Recht machen kann (soll heißen, wie man ihn am wenigsten provoziert).

 

Mykola Rjabtschuk, geboren 1953, ist Schriftsteller und Journalist sowie Mitbegründer der Kiewer Monatszeitschrift Krytyka. Er lebt in Kiew und ist einer der einflussreichsten politischen Kommentatoren der Ukraine. Für seinen Einsatz für die Menschenrechte in der Ukraine wurde er 2003 mit dem Antonovych-Preis gewürdigt. Im Suhrkamp-Verlag veröffentlichte er in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung 2006 „Die reale und die imaginierte Ukraine – Essay

 


 

Serhij Zhadan



Im Gespräch: Serhij Zhadan, Schriftsteller und Rockmusiker aus Charkiv

 

Wie schätzen Sie die Lage im Osten der Ukraine ein – wie stabil oder instabil? Ist es leicht, Menschen in Donezk, Luhansk oder Charkiw für pro-russische Proteste auf die Straße zu bekommen?



Natürlich ist die Situation nicht stabil. Die Demonstrationen, die im Osten der Ukraine stattgefunden haben, zeugen auf der einen Seite von einer gewissen Aktualität der „prorussischen Frage“ für einen Teil der Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind sie Resultat einer geschickten und rationalen Vorbereitungsarbeit, um diesen „politischen Anspruch“ zu organisieren. Es ist nicht leicht zu sagen, wie weit diese prorussischen Ideen irgendjemanden ernsthaft mobilisieren können. Ich habe eine Demonstration in Charkiv erlebt, an der mehr als 20.000 Leute teilgenommen haben. Selbst wenn man die „Demonstranten“, die aus dem benachbarten russischen Belgorod engagiert wurden, abzieht, sind das nicht wenige. Ob diese Leute sich erneut zu Demonstrationen in großer Anzahl einfinden, bezweifle ich, ehrlich gesagt. Mir kommt es vor, als sei der „russische Frühling“ schon vorbei. Eigentlich weiß die Mehrheit der Bevölkerung, dass es irgendwie unlogisch ist, für die Ukraine unter russischen Flaggen aufzutreten. Allerding muss man sich bewusst machen, dass die russische Karte im Osten auch weiterhin ausgespielt werden wird, weil es eben einen Teil der Bevölkerung gibt, die einen solchen Vektor außenpolitischer Entwicklung unterstützen. Man darf die Idee des Separatismus nicht unterschätzen – unter den geschickten Fingern des Puppenspielers fangen die Marionetten plötzlich an, sich leicht und sicher zu diesem Ziel hin zu bewegen.



Welche Interessen Russlands in der Ukraine würden Sie als „legitim“ bezeichnen? Und wie ließen sich solche Interessen am besten schützen?



Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, auf diese Frage zu antworten. Wenn die Rede ist von der Verteidigung der Rechte der russischen Bevölkerung (oder wie soll man diesen Teil ukrainischer Bürger korrekt bezeichnen?), so bin ich sicher, dass ihre Hauptanliegen – nämlich das Misstrauen gegenüber der neuen Regierung, die Verteidigung der russischen Sprache, die Ablehnung nationalistischer Konzepte - von der ukrainischen Gesellschaft zu Recht selbst aufgenommen und eingelöst werden sollen und können – ohne Einmischung des Nachbarstaates.



Worum dreht sich im Kern der Streit um das Gesetz über die offizielle Landessprache der Ukraine? Welche Rolle spielt die russische Sprache heute in der Ukraine? Und wie und wo plant die neue Regierung, den Gebrauch des Russischen einzuschränken?



Mir scheint, dass jedwede Spekulation um die Sprachenfrage eine Dummheit ist – so etwa die Aufhebung des Sprachengesetzes. Mir gefällt dieses (unter Janukowitsch verabschiedete, hbs) Gesetz selbst nicht, ich habe seinerzeit dagegen demonstriert. Aber jetzt ist meiner Ansicht nach die falsche Zeit, um sich mit dem Sprachenstreit zu beschäftigen. Ein Sprachenstreit ist sowieso eine Dummheit. Eine Dummheit, die von allen bisherigen Regierungen provoziert wurde. Es gibt wesentlich ernstere Probleme, zum Beispiel soziale Probleme.



Glauben Sie nicht, dass man die Bedrohung, welche die Rechtsradikalen in der neuen ukrainischen Regierung darstellen, unterschätzt? Vertreter der Partei Swoboda nehmen in der neuen Regierung wichtige Posten ein, und Swoboda ist offen nationalistisch, fremdenfeindlich und anti-liberal – allesamt Positionen, die nicht zu den europäischen Kernwerten passen.



Einverstanden. Solange der Maidan stand, gab es für die meisten seiner Teilnehmer ein gewisses Tabu in Bezug auf interne ideologische Gegensätze. Auf dem Maidan wehrten sich alle gemeinsam gegen die Regierung – Linke, Rechte und Liberale. Bei uns, auf dem Charkiver Maidan, vertrugen sich Nationalisten und Anarchisten. Wahrscheinlich muss man heute, nach dem Wechsel der Zentralregierung und dem Eintritt in eine neue Phase, mehr Aufmerksamkeit auf Probleme richten, die in den letzten drei Monaten als zweitrangig angesehen wurden. Mir scheint, dass gerade jetzt eine echte Diskussion über die von Ihnen angesprochenen europäischen Werte begonnen werden sollte und darüber, ob diese Werte für die ukrainische Gesellschaft akzeptabel sind oder nicht.



Viele Menschen in Deutschland denken, dass die EU Russland ohne Not provoziert hat, als sie der zerrissenen Ukraine die EU-Assoziation anbot, und dass die EU deshalb eine Mitschuld an der aktuellen Krise trägt. Wie sehen Sie das?



Eigentlich war es eine Provokation, diese Frage auf der Ebene von Hinterzimmerdeals zu behandeln, ohne Einbezug der öffentlichen Meinung. Im gegebenen Fall war die größte Provokateurin die Regierung von Janukowitsch. Ich hoffe sehr, dass die neue Regierung diese Fehler erkennt und vermeidet. Unser Land ist heute wirklich weit von einem politischen Grundkonsens entfernt, und es ist sehr wichtig, diesen Konsens zu erreichen.



 

Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er ist Schriftsteller und Musiker. U.a. veröffentlichte Suhrkamp 2012 seinen Roman „Die Erfindung des Jazz im Donbass