
Die elfjährige Solaf lacht, wenn sie gefragt wird, was sie an Syrien vermisst. Die anderen Kinder in ihrer Klasse, einer übergangsweise von der gemeinnützigen Organisation Jusoor errichteten Schule in Beirut, sagen, dass sie ihre Viertel, ihre Schulen, ihre Freunde vermissen. Aber Solaf erscheint diese Frage ein bisschen absurd. Unsere Häuser gibt es nicht mehr, sagt sie. Da ist nichts, was man vermissen könnte.
Es ist vielleicht schon ein gewisser Erfolg, dass Solaf überhaupt in die Zukunft schauen kann. Denn jetzt konzentriert sie sich wie ihre Mitschüler/innen darauf Englisch zu lernen, damit sie auf eine öffentliche libanesische Schule gehen kann. Das Schuljahr beginnt bald, aber nicht für die meisten Kinder hier, die entweder keinen Schulplatz finden konnten oder die Auswahlprüfungen nicht bestanden haben, weil die Tests Abschnitte in Englisch und Französisch beinhalten, Sprachen, die in syrischen Schulen nicht gelehrt werden.
Der Libanon beherbergt heute 748.000 registrierte syrische Flüchtlinge, bei einer Gesamtbevölkerung von nur knapp über 4 Millionen. Unter ihnen sind 400.000 Kinder im Schulalter, von denen nur ca. 100.000 eine Schule besuchen, wie Unicef angibt. „Wir stehen vor einer Bildungskrise“, sagt Hani Jesri, Koordinator für das Flüchtlingsbildungsprogramm bei Jusoor. Er glaubt, es sei noch zu früh zu sagen, was die Auswirkungen auf eine ganze Generation von Syrer/innen mit minimaler Bildung sein werden, da keiner sagen kann wie lange die Krisensituation noch anhalten wird.
Belastung durch Trauma
Einige der direkteren Auswirkungen sind allerdings schon jetzt sichtbar. Alle syrischen Kinder, die im Libanon ankommen, haben den gewaltsamen Umbruch erlebt. Viele sind Zeugen von Gewalt aus nächster Nähe geworden, ausgeübt auf Familienmitglieder oder sogar sie selbst, und jetzt sehen sie einer ungewissen Zukunft entgegen. In diesem Kontext bietet die Schule eine lebenswichtige Struktur und Stabilität in ihren Leben.
„Wenn diese Kinder irgendeine Hoffnung haben sollen, dann ist es Bildung“, sagt Ketty Sarufim, eine Kinderpsychologin an der libanesischen amerikanischen Universität. „Kinder, die in schwierigen Umständen leben, werden dadurch meistens stärker. Wir erkennen ihnen das eigentlich nicht genug an. Sie brechen nicht zusammen, wie wir vielleicht denken würden.“
Aber um diese Belastbarkeit auszubauen, müssen die Kinder wieder zur Normalität, zu ihrem alltäglichen Leben zurückkehren können. In der unsicheren Situation, in der sich Libanons syrische Flüchtlinge befinden, ist Bildung der einfachste Weg, dies zu erreichen. Schule bietet Beständigkeit in ihren Leben und den Raum zu spielen. Im Grunde gibt Schule ihnen ihre Kindheit zurück und hilft ihnen, den Kreislauf der Gewalt, in dem sie sich ansonsten befinden, zu durchbrechen. Es wurde festgestellt, dass Kinder mit höheren IQs besser in der Lage sind, mit traumatischen Situationen umzugehen.
„Manche der Schüler sind aggressiv, insbesondere wenn sie zum ersten Mal zu uns kommen“, sagt Jesri. „Manchmal waren sie ein oder zwei Jahre nicht mehr in der Schule und ihre einzige Option ist es, raus auf die Straße zu gehen.“
„Wir sehen Bildung als unerlässlich an, um Kriminalität, Terrorismus, Armut usw. vorzubeugen“, sagt Soha Bou Chabke, eine Programmassistentin im libanesischen Bildungsministerium. Das Ministerium hat alle öffentlichen Schulen angewiesen, syrische Schüler/innen anzunehmen und hat für einige Gebiete mit hohen Flüchtlingszahlen Nachmittagsunterricht eingerichtet. Aber die Ressourcen gehen zur Neige. Im letzten Jahr waren 30.000 syrische Kinder in libanesischen öffentlichen Schulen angemeldet, was die Regierung 27 Millionen Dollar zusätzlich gekostet hat, so Chabke. Selbst wenn sich nur ein Viertel der Flüchtlingskinder im Schulalter in Schulen anmelden, „werden wir nicht in der Lage sein die Kosten zu decken, weil wir einfach nicht das Geld haben“, sagt sie.
Der Mangel an Schulplätzen und die Bildungseinschränkungen sind aber nicht die einzigen Dinge, die syrische Kinder von Schulbildung fernhalten. Viele Familien sehen es nicht als ökonomisch machbar an, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
„Vor zwei Tagen habe ich mit dem Vater eines Kindes gesprochen und ihm gesagt, dass sein Sohn einen Platz erhalten hat. Er musste nur die Anmeldegebühr von 60 Dollar zahlen, die ihm von UNHCR erstattet werden. Er sagte, er bräuchte dieses Geld für die Miete. Er hätte keine 60 Dollar auszugeben“, sagt Jesri.
Die düstere ökonomische Situation syrischer Flüchtlinge hat einen schlechten Einfluss auf die nächste syrische Generation. Kinderarbeit ist auf dem Vormarsch innerhalb der Flüchtlingsgemeinde. Jesri sagt, sie würden gerne eine Schule für Kinder über 14 Jahren einrichten, aber die Realität ist, dass „viele der Familien darauf angewiesen sind, dass diese Kinder arbeiten“. In Beirut sieht man jetzt Kinder, nicht älter als sechs oder sieben Jahre, auf jeder Hauptstraße Kaugummi, Rosen oder Nüsse verkaufen, Schuhputz anbieten oder manchmal einfach nur betteln.
Ein Zufluchtsort für Kinder
Home of Hope ist Libanons einziger Zufluchtsort für Straßenkinder. Zurzeit leben hier um die 70 Kinder. Ihre Anzahl hat sich während des letzten Jahres verdoppelt, vornehmlich durch den Zulauf syrischer Kinder. Die Kinder kommen auf Gerichtsbeschluss, nachdem sie von der Polizei auf der Straße aufgegriffen wurden. Die meisten werden letztendlich von ihrer Familie abgeholt, aber dem Heimleiter zufolge werden die Kinder immer mehr von Kinderhändlern, die ihre Pässe fälschen, um die Kinder einzufordern, anvisiert. Diese schicken die Kinder wieder zurück auf die Straße, damit sie für sie arbeiten. Kinderarbeit ist schon lange ein Problem im Libanon, aber durch die aktuelle Flüchtlingskrise verschlimmert sich die Situation weiter.
Das Home of Hope liegt in einer kleinen Stadt in den Bergen kurz vor Beirut und ist nicht ganz so einladend wie der Name klingt. Eine verschlossene Eingangstür führt in einen heruntergekommenen Empfangsbereich, die Wände sind mit Kunst und Zitaten aus der Bibel bedeckt – das Haus wird von der libanesischen evangelischen Gesellschaft geleitet und unterrichtet das Christentum, obwohl die meisten Kinder, die dort leben, Muslime sind. Die Treppe runter, hinter einer weiteren verschlossenen Tür befinden sich die Schlafsäle, in denen sich die Kinder für einen Ausflug vorbereiten. An einem normalen Tag gehen die Kinder von 8 bis 15 Uhr zur Schule. Die meisten kommen als Analphabeten ins das Zentrum.
Die Kinder gehören zu den gefährdetsten syrischen Kinderflüchtlingen, insbesondere während sie noch auf der Straße sind. Sie sind anfällig für Misshandlungen, müssen stets um Nahrung und Unterschlupf kämpfen. Manche durchleben ernsthafte Traumata. Maher Tabarani sagt, er sei gezwungen sich von den extrem gewalttätigen Kindern abzuwenden, die in der Regel älter sind, da sie ein Risiko für die Anderen im Heim darstellen. „Ich kann extrem gewaltbereite Kinder nicht hierbehalten. Wenn ich so etwas sehe, und das tue ich jeden Tag, dann können sie einfach nicht hier bleiben“, sagt er.
„Kinder brauchen etwas, das sie ihr Zuhause nennen können.“ Sie brauchen einen Ort, über den sie sagen können ‚Das ist mein Zuhause, mein Bereich‘, insbesondere nachdem sie die gewalttätigen Umbrüche mitbekommen haben“, sagt Sarufim.
Die libanesische Regierung hat sich bislang geweigert, Flüchtlingslager für die ständig wachsende syrische Bevölkerung zu errichten, zum Großteil wegen ihrer Erfahrungen mit palästinensischen Camps während des Bürgerkrieges. Deswegen haben sich Behelfsunterkünfte in und um die Dörfer und Grenzstädte ausgebreitet. Die provisorische Natur dieses Lebens ist insbesondere für Kinder schwierig auszuhalten und wird durch die Nähe zum Krieg und die Instabilität des Libanons selbst noch zusätzlich verschlimmert.
„Letztendlich wird nichts mehr so wie vorher sein – das an sich ist schon traumatisch. Sie verlieren ihre Identität, wissen nicht mehr, was es heißt ein/e Syrer/in zu sein“, sagt Sarufim. „Das Beste für sie wäre ein neues Zuhause, das es ihnen ermöglicht, in einer normalen Situation zu leben. Aber das existiert nicht im Libanon.“
Abdallah: Keine Erinnerung mehr an vor dem Krieg
Abdallah weiß nicht ganz genau wie lange er schon im Libanon war bevor er zu Beginn dieses Jahres ins Home of Hope kam. Der Neunjährige flüchtete mit seinem Onkel, dem letzten übriggebliebenen Mitglied seiner Familie, aus Idlib nachdem sein Haus beschossen und zerstört und seine beiden Eltern und der jüngere Bruder getötet worden waren. Er erinnert sich, dass ihn sein Onkel danach bei entfernten Verwandten irgendwo außerhalb von Beirut zurückließ und dass diese ihn zu lokalen Hilfsorganisationen brachten, um Unterstützung zu verlangen. Dann sagten sie ihm, er sei nicht mehr willkommen und er landete auf der Straße.
Er verkroch sich in ein nahegelegenes Restaurant, um zu schlafen und blieb dort, bis einer der Restaurantmitarbeiter ihn zum Home of Hope brachte. Jetzt ist er glücklich, so sagt er. Er trägt ein Home of Hope T-Shirt, das ihm bis zu den Knien reicht und sagt mit einem schüchternen Lächeln, dass es ihm in dem Heim gefällt, „weil mir hier niemand weh tut“.
Als er ankam, war er Analphabet, doch jetzt, sagt Abdallah, liebt er es, lesen zu lernen. Er möchte Mechaniker werden, wenn er groß ist, „weil mein Vater Mechaniker war und er mir beigebracht hat, wie man Autos repariert bevor er gestorben ist“.
Abdallahs Erinnerungen an Syrien sind ein bisschen schwammig. Er erinnert sich an keine Zeit vor dem Krieg, obwohl er sich ganz deutlich daran erinnert, Orangen und Äpfel von den umliegenden Bäumen gepflückt und das Zuckerfest in einer Moschee in der Nachbarschaft gefeiert zu haben. Er hat sich offensichtlich angestrengt, einige der schmerzhafteren Erinnerungen zu verdrängen: Er sagt seine schlimmste Erinnerung an Syrien sei, dass sein Vater einmal in einen Streit über eine unbezahlte Rechnung geriet.
Da er keine Familie hat, die ihn abholen könnte, wird Abdallah wahrscheinlich bis er 18 Jahre alt ist im Home of Hope bleiben. Er möchte nicht zurück nach Syrien, weil er das Land fast vollständig mit Krieg assoziiert. Auf eine eigenartige Weise hatte er eigentlich Glück: Da er noch sehr jung ist, wird es für ihn einfacher sein, sich von seiner Vergangenheit zu entfernen, besonders jetzt, da er sich in einem stabilen Umfeld befindet.
Ahmed: Zu früh erwachsen geworden
Der dreizehnjährige Ahmed musste schnell erwachsen werden als seine Familie das palästinensische Khan Eshieh Camp in Syrien zu Beginn des letzten Jahres verließ. In den Tagen bevor sie gingen hatten er und seine drei Schwestern unter den Stufen des Elternhauses geschlafen, aus Angst vor den Bombardements.
Damals waren seine einzigen Themen das Spielen mit Freunden und die Hausaufgaben. Heute spricht er von den steigenden Mietpreisen im Libanon; von den Nachteilen, denen er hier als Palästinenser begegnet; von den Auswirkungen, die das überfüllte Burj el Barajneh Lager im Süden Beiruts auf sein Gemüt hat.
„In Syrien würde ich jetzt mit meinen Freunden spielen und alle Probleme abschütteln. Hier gibt es keinen Ort zum spielen und ich kann das nicht mehr tun“, sagt er. Raum ist ein Thema für alle Bewohner von Burj el Barajneh und Libanons anderen palästinensischen Lagern, verstärkt durch den Zuwachs um zehntausende syrische Flüchtlinge, aber für die Neuen ist es noch schlimmer und ein harter Kontrast zu dem, was sie zurückgelassen haben.
„In Syrien waren die Straßen breit, da waren Bäume und Gärten“, erinnert sich Ahmed. Während der ersten Monate hier war er einsam, weil er alle seine Freunde zurückgelassen hatte und sein Zuhause und zunächst auch seine Familie vermisste. Jetzt geht er in eine Schule, die von der UNRWA geführt wird und hat Freunde in seinem Alter. Nichtsdestotrotz besucht er wöchentlich einen Psychologen und sein Vater, der Geschichtsprofessor in Syrien war, aber jetzt als einfacher Arbeiter tätig ist, sagt, dass das Leben im überfüllten Lager in hohem Maße aufreibend ist. Während die Familie früher in einer 7-Zimmer-Wohnung lebte, teilen sie sich nun ein Zimmer, eine Betonkonstruktion auf dem Dach eines anderen Wohnhauses. Der Mangel an Privatsphäre macht dem Teenager zu schaffen, besonders bei den vielen Schwestern, sagt sein Vater.
Ahmed ist sich außerdem der zweitrangigen Behandlung von Palästinenser/innen im Libanon sehr bewusst. Sein Traum ist es Zahnarzt zu werden, wie sein Onkel, aber er weiß, dass er das nicht erreichen kann, wenn er im Libanon bleibt, wo Palästinenser/innen von vielen Berufen ausgeschlossen sind. „Die Situation für Palästinenser ist definitiv schlimmer als in Syrien. Es gibt keine sozialen Aufstiegschancen“, sagt er. Er ist sich bewusst, dass dies eine gezielte Politik der libanesischen Regierung ist und denkt, die Menschen sollten sich dagegen einsetzen.
Aber Ahmed ist optimistisch und denkt an die Zukunft. Er plant, eines Tages nach Syrien zurückzukehren und blüht auf, wenn er die regelmäßigen Telefonate mit seiner dort zurückgebliebenen Familie beschreibt. In der Zwischenzeit allerdings „versuche ich zu vergessen. Ich spreche mit meinen Freunden und meiner Familie nicht [über den Krieg]. Wir versuchen alle zu vergessen.“
Miriam: Noch nicht mal hier sicher
Selbst im Libanon fühlt sich die vierzehnjährige Miriam nicht sicher. Sie hat Angst vor Kämpfen im Umkreis ihres Hauses in der Nähe des Chatila Flüchtlingslagers für Palästinenser/innen. Sie hat Angst, weil die Armee jeden Freitag die Hauptstraße schließt, als Sicherheitsmaßnahme gegen Gewalt. Sie hat Angst wegen der Autobomben, die vor kurzem im Libanon hochgegangen sind.
„Ich gehe nur zu bestimmten Orten“, von denen sie weiß, dass sie sicher sind, sagt sie. „Das ist fast genauso wie in Syrien“. Sie kam vor acht Monaten aus Syrien, nachdem sie ihr Zuhause in Jowbar, Damaskus mit ihren Eltern und älteren Brüdern verlassen hatte und begann im Sommer den Unterricht bei Jusoor. Nach ihrer Flucht aus Syrien und bevor sie Jusoor fand verpasste sie mehrere Monate Schulunterricht. „Ich war froh als ich kam und die Lehrer und Schüler sah“, sagt sie. „Ich habe die ganze Zeit nach einer Schule gesucht nachdem ich meine Schule in Syrien verlassen hatte.“
Obwohl sie die Zugangsprüfung, die ihr erlaubt, eine öffentliche Schule zu besuchen, bestanden hat, waren ihre Eltern bisher nicht in der Lage eine Schule zu finden, die sie annimmt. Aber Miriam ist fest entschlossen.
“Wenn es keine Schule für mich gäbe, wäre ich traurig, aber ich muss es weiter versuchen. Vielleicht könnte ich eine Sprachschule finden und Englisch lernen“, sagt sie.
Wie Ahmed sagt auch Miriam, dass sie der Erinnerung an die Vergangenheit müde geworden ist. „Was damals war und was seitdem passiert ist, daran möchte ich mich nicht erinnern.“ Irgendwann möchte sie nach Syrien zurückkehren und helfen, ihre Heimat und die Schulen dort wieder aufzubauen. Sie hofft, eines Tages Ärztin zu werden, um Kindern und anderen zu helfen.
Sie mag den Libanon nicht besonders. Ihre Familie lebt in einer Ein-Zimmer-Wohnung, in einem Haus, in dem noch andere syrische Familien wohnen. Sie teilen sich drei Badezimmer mit sechs Familien. „Ich bin mir nicht so sicher, ob Libanesen Syrer mögen“, sagt sie.
In der syrischen Krise wird nur wenig langfristig geplant, auch nicht die Zukunft der 400.000 Kinder, die alleine im Libanon gestrandet sind. Die langfristigen Folgen der Flüchtlingskrise sind immer schlechter abzusehen. Sicher ist: In Syrien und in den umliegenden Ländern, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, droht eine ganze Generation junger Syrerinnen und Syrer verloren zu gehen.