Deutschland, Deutschland… Die Nabelschau der übergroßen Koalition

Der bis Mitte Dezember geschäftsführende deutsche Außenminister zeigte, je mehr seine Amtszeit zu Ende ging, immer deutlicher Symptome eines außenpolitischen ADS-Syndroms. Je weniger Deutschland hinter ihm stand, desto ungebremster bewegte er sich als Verkörperung der deutschen Rolle auf die außenpolitische Bühne. Kein Ereignis, zu dem er nicht seinen Kommentar abgab, kein Anschlag, den er nicht mit größtem Abscheu verurteilte. Überall war er der erste Besucher, wenn die Sache gelaufen war. Immer war er schnell bei der Hand, ambivalente Ereignisse, mit einem eindeutigen Etikett zu versehen, so etwa wenn er  nach den Massenprotesten in Ägypten gegen den schleichenden Putsch der Muslimbrüder das Eingreifen der Armee unbesehen als Militärputsch verurteilte. In Syrien sah er die Tage des Regimes gezählt, ehe er auch nur einen ersten Überblick über die Kräfte der Opposition und ihre Zusammensetzung haben konnte. Das mochte man als verspäteten Reflex auf die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat sehen, als über die Einrichtung einer Flugverbotszone  für Bengasi abgestimmt wurde. Ganz zuletzt mischte sich Westerwelle unter die Demonstranten auf dem Kiewer Maidan, um sich von Vitali Klitschko auf die Schulter klopfen zu lassen und in die Kameras zu lächeln. Die Sache in der Ukraine war da noch nicht gelaufen. Aber Guidos Fall war beendet.

Aus mit dem Getänzel

Jetzt tritt Frank-Walter Steinmeier das Amt des Außenministers an. Nimmt man seine erste Amtszeit in einer großen Koalition als Muster für sein zu erwartendes Vorgehen, dann ist mit Hyperaktivität und leichtsinnigem Gerede nicht zu rechnen. Nachdem die Regierung nun steht, können aber die Schwierigkeiten, denen sich die deutsche Außenpolitik gegenüber sieht, nicht länger in inhaltsleeren Koalitionsvereinbarungen verborgen werden. Nun muss sich der neue Außenminister diesen Schwierigkeiten stellen.

Deutsche Außenpolitik war in den letzten Jahren  eine Marginalie des Merkelschen politischen Gesamtkunstwerks. Das hatte immer die Deutschen, also die Innenpolitik, und die deutsche Wirtschaft, also die Handelspolitik, im Zentrum: die vermeintlichen deutschen Interessen und die tatsächlichen Ressentiments. Frau Merkel ist mit dieser Politik gut gefahren. Der Außenminister wurde zur Randfigur. Das hatte was mit Westerwelle zu tun, aber nicht nur. Es hatte auch damit zu tun, dass Deutschland unter Frau Merkel selten von außen auf sich in der Welt sah. Außenpolitik wurde für den inneren Gebrauch kleingehäckselt.

Nimmt man den Koalitionsvertrag  zwischen CDU, CSU und SPD zur Hand, dann folgt er genau diesem Muster. Deutschlands Zukunft gestalten ist er überschrieben. Dann folgen Innereien über Innereien. Als hätte Deutschlands  Zukunft nicht von vornherein Rahmen. Der allgemeinste sind die UN. Erst in diesem Rahmen verlor Deutschland praktisch seinen Nachkriegsstatus als Feindmacht einer internationalen Friedensordnung. Lange Zeit hatte die deutsche Außenpolitik ihr wichtigstes Ziel darin, in diesem Rahmen als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden. Das ist schon eine Weile der Fall. Aber müssten dann dieser Rahmen und  seine Verteidigung  nicht der Ausgangspunkt aller außenpolitischen Überlegungen sein? In Wahrheit spielen die UN für die Koalitionsvereinbarung keine Rolle. Sie kommen ganz zum Schluss ins Spiel, als eine Institution unter anderen. Sicher gibt es Deutschland schon länger, als es diesen Rahmen gibt, aber die Bundesrepublik Deutschland gibt es nur in diesem Rahmen. Der Weg nach Westen führte in die UNO und die ist mehr als der Westen.

Globalisierung nur ökonomisch verstanden

In der Koalitionsvereinbarung ist viel von der Globalisierung die Rede. Weil der politische Rahmen, in dem sie sich entwickelt, kaum bedacht ist, wird sie so gut wie ausschließlich unter ökomischen Gesichtspunkten beschrieben. Also ist viel von Wettbewerbsfähigkeit die Rede, aber fast gar nicht von den politischen Bedingungen, die der Wettbewerb voraussetzt, den Regeln und den Organisationen, die ihn im Rahmen halten. Viel Weltwirtschaft, wenig Staatenwelt.

Wenn die Globalisierung fast ausschließlich ökonomisch verstanden wird, kann Außenpolitik auch nur ökonomistisch verkürzt verstanden werden. All die strategischen Partnerschaften, von denen in den letzten Jahren die Rede ist, sind in der Hauptsache ökonomisch definiert.

Daraus ergibt sich aber  ein falsches Verständnis wichtiger Mächte, vor allem Russlands und Chinas. Beide sind als Ständige Mitglieder des Sicherheitsrates entscheidende Bestandteile der globalen Ordnungsmacht, als der Sicherheitsrat in der Charta der UN gedacht ist. Auch wenn Russland und China nicht besonders entschlossen sein mögen, den „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“ zu bekräftigen, wie es in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen heißt, sind sie doch unerlässlich dafür, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ und die „Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Auch das steht in der Präambel der Vereinten Nationen.

Als Ständige Mitglieder des Sicherheitsrates sind Russland und China, ebenso wie die USA, Großbritannien und Frankreich in der Charta der Vereinten Nationen namentlich genannter, konstitutiver Bestandteil der  Vereinten Nationen. Die Sowjetunion vom Juni  1945 war relativ mächtiger als das heutige Russland, aber den „Grundrechten des Menschen“ sicher nicht stärker verpflichtet als Russland heute. Die damalige Republik China war abhängiger vom Westen, als die Volkrepublik China jetzt, Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates wurde China aber wegen seines potentiellen Gewichts in einem Konzert der Mächte, das gemeinsam den Weltfrieden sichern sollte. Diese Mächte bekamen innerhalb des Sicherheitsrats ein Vetorecht eingeräumt, weil jede, noch so gut gemeinte Aktion gegen den ausdrücklichen Willen einer von ihnen einen friedensgefährdenden Charakter annehmen musste. Das ist immer noch so. Ganz unabhängig von ihrem inneren Zustand.

Für Russland und China gibt es keine „unipolaren“ Momente

Die USA können in ihren unipolaren Momenten glauben, sich um den Sicherheitsrat nicht scheren zu müssen. China und vor allem Russland können das nicht. China ist noch keine Weltmacht, Russland ist keine Weltmacht mehr. Ihre weltpolitische Stellung hängt essentiell von ihrer Rolle im Sicherheitsrat der UN ab. Die Bedeutung des Sicherheitsrates als globale Ordnungsmacht wirkt direkt auf ihr weltpolitisches Gewicht. Steigt die Bedeutung des Sicherheitsrates, wächst ihr Gewicht, und umgekehrt. Wer also seine Politik an der Charta der Vereinten Nationen ausrichten will, wird die Zusammenarbeit mit Russland und China suchen müssen. In dieser Charta sind die Werte und Ziele einer internationalen Ordnungs- und Friedenspolitik verankert und die Zusammensetzung der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Es wird immer Spannungen geben zwischen diesen Festlegungen der Charta, zwischen den Zwecken der Charta und den politischen Motiven einzelner ständiger Mitglieder des Sicherheitsrates. Das gilt auch für die westlichen Mitglieder. Deutschland sollte seine Politik gegenüber Russland und China immer im Rahmen der UN und ihrer Charta bestimmen. Dann kann es gelingen, die Kluft zwischen verbalen Höhenflügen in Sachen Moral und mickrigen Geschäftsinteressen klein zu halten.

Ratgeberliteratur

In Deutschland gibt es einen Beratungsjournalismus. In der Politik ist die Zeit seine wichtigste Plattform. Als sich die Bildung der Großen Koalition abzeichnete, lobte Jörg Lau dort (2.10.) Frank-Walter Steinmeier über den grünen Klee. Er sei einer der „besten Politiker Deutschlands“. Er könne Fraktionschef, Arbeits- oder Finanzminister sein, „Außenminister besser nicht“. Denn in der Außenpolitik habe er sich verrannt. Also lass die Finger davon, lautete der Ratschlag.

Dieses Urteil stützte Jörg Lau auf Steinmeiers Politik in der letzten großen Koalition. Seine wichtigsten Initiativen hätten Russland und Syrien gegolten. „Moskau hat Steinmeier eine ,Modernisierungspartnerschaft‘ angeboten. Zugleich betrieb er Entspannungspolitik gegenüber Damaskus. Bei einer Rückkehr ins Auswärtige Amt würde er beide Themen wieder vorfinden.“ Bei beiden Themen sei er seinerzeit gescheitert. „Seine beiden Vorstöße sollten antiwestlich orientierte Mächte durch freundschaftliche Umarmung und stille Diplomatie zur Kooperation ermuntern. Aus ,Störern‘ sollten Gestaltungsmächte werden. Steinmeiers Kalkül war, dass beide Regime sich auch innerlich öffnen würden, wenn man ihnen die Hand reichte.“

Seine Avancen gegenüber Syrien brachten nach Lau  „nichts außer Renommee für eine Diktatur, deren Brutalität schon damals kein Geheimnis war.“ Im Mai 2008 habe er im großen Auditorium der Ural-Universität Jekaterinenburg das „Zeitalter der Konfrontation für beendet erklärt“. Nur drei Monate später sei Russland in Georgien einmarschiert.

 Als „Störer“ wurde Russland auch bezeichnet, als es sich einer einseitigen Verurteilung des Assadregimes im Sicherheitsrat widersetzte. Heute muss man feststellen, dass Russland mit dieser Weigerung den USA die Tür offengehalten hat, gemeinsam den Syrischen Bürgerkrieg als Vermittlungsaufgabe in den Sicherheitsrat zurückzubringen. Was den Georgienkrieg betrifft, gibt es heute weitgehend Übereinstimmung, dass ihn der damalige georgische Ministerpräsident vom Zaun gebrochen hat. Inzwischen wurde seine Regierungsmannschaft und dann auch er selbst von den georgischen Wählerinnen und Wählern - nicht zuletzt wegen dieses Abenteuers - aus dem Amt verwiesen.

Langfristig den UN-Rahmen verteidigen

Es kann nicht darum gehen, gegenüber der entschlossen autoritären Wendung der russischen Innenpolitik die Augen und den Mund zu schließen. Aber es ist klar, wenn man langfristig den UN-Rahmen verteidigen und innerhalb dieses Rahmens den Sicherheitsrat als globale Ordnungsmacht stärken will, darf man weder Russland noch China außenpolitisch zu isolieren versuchen. Langfristig kommt es angesichts der wachsenden Unruhe in der Welt darauf an, nicht auch noch die UN zu gefährden. Das heißt aber auch, gerade unter globalen Gesichtspunkten die Verständigung mit Russland und China zu suchen. Dafür, so kann man hoffen, hat Franz-Walter Steinmeier den langen Atem. Wenn man aber die Globalisierung einseitig ökonomisch versteht und Politik auf deutsche Wettbewerbsfähigkeit reduziert, erkennt man diese Aufgabe nicht einmal. Die Außenpolitik Steinmeiers kann sich nicht auf die Ausführung des Koalitionsvertrags beschränken.

Ceterum  censeo

Die Ukraine darf die innere Auseinandersetzung um Demokratie und Rechtstaatlichkeit, gegen Korruption und kleptokratische Oligarchen nicht der äußeren Auseinandersetzung um Einfluss in der Ukraine ausliefern. Die orangene Revolution hat nicht die Kraft entfaltet, gegenüber der äußeren Einflussnahme einen demokratisch gestützten Kurs der Unabhängigkeit und Souveränität zu entwickeln und durchzuhalten. Vielleicht gelingt es in einem zweiten Anlauf. Nur unabhängig und souverän wird sich die Ukraine zwischen Russland und der EU als Staat behaupten können. Es gibt für die Ukraine keine Entscheidung zwischen der EU und Russland, zwischen Ost und West, sondern nur zwischen souveräner Demokratie und Schaukelpolitik mit der immer wieder akut werdenden Gefahr der Spaltung.