Japan: Zwischen Angst und Desinteresse

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Impression aus Yamagata. Die Präfekturhauptstadt liegt nur etwa 100 km entfernt des Katastrophenorts in Fukushima

Vorsicht ist besser als Nachsicht, erst recht, wenn die Informationslage widersprüchlich ist: Wie der Bürgermeister der Stadt Matsumoto, Dr. Akira Sugenoya, denken nicht wenige Japaner seit der Atomkatastrophe von Fukushima. Der Arzt hatte nach dem Desaster von Tschernobyl 1986 bei über 100 Kindern in der Ukraine Schilddrüsenkrebs wegoperiert. Jetzt hofft er, dass er nicht auch bald im eigenen Land solche Fälle steigen sieht. Deswegen lädt seine Stadt, 300 Kilometer entfernt, Kinder aus nächster Nähe des AKWs ein, damit sie dort zur Schule gehen können. Für 14 Millionen Yen (100.000 Euro) wird ein Haus mit sechs Schlafzimmern eingerichtet, Betreuungspersonal inklusive. Die Eltern bezahlen nur für Essen und Nebenkosten. „Wenn sich herausstellt, dass meine Ängste unbegründet sind, dann könnte es keine bessere Nachricht geben“, sagte Sugenoya. „Aber falls sie Realität werden, dann bleibt wenig Zeit, bevor es zu spät ist.“

Gut zweieinhalb Jahre nach dem größten Atomunglück seit Tschernobyl 1986 scheint oberflächlich betrachtet (fast) alles in Japan wieder wie vor dem 11. März 2011 zu sein. Damals verwüsteten ein Erdbeben der Stärke 9,0 und Tsunamiwellen 400 Kilometer Küste in Ostjapan, das AKW Fukushima Daiichi inklusive. Trotzdem: Obwohl sie die Atomkraft fördert, gewann bei den letzten Wahlen – wie so oft in Japan – die liberaldemokratische Partei (LDP) haushoch. Politikwissenschaftler Chris Winkler erklärte bei einem Vortrag in Tokio, dass für die meisten die der LDP zugesprochene wirtschaftliche Kompetenz und die Hoffnung auf eine stabile Regierung ausschlaggebend gewesen seien. Die Einstellung zur Atomkraft war laut einer von ihm zitierten Umfrage der Zeitung „Mainichi“ für weniger als sieben Prozent bei den letzten Unter- und Oberhauswahlen wichtig.

Abe: Am AKW sei „alles unter Kontrolle“

Als Tokio im Herbst die Zusage bekam, 2020 die Olympischen Spiele ausrichten zu dürfen, warf das die Atomkraftgegner/innen noch weiter zurück. „Es ist alles unter Kontrolle“, sagte Premierminister Shinzo Abe dem Olympischen Komitee. Im eigenen Land hingegen stieß vielen Abes Aussage sauer auf. Denn rund zwei Drittel der Japaner wünschen sich kurz- oder mittelfristig den Ausstieg aus der Atomkraft.

Dazu tragen auch die immer wieder kursierenden Nachrichten über steigende Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Fukushima bei. Manche Ärzt/innen sagen zwar, dass sich frühestens in vier Jahren, vielleicht auch erst zehn Jahre nach dem Unglück genau sagen lässt, ob es seither mehr solcher Fälle gibt oder es sich um eine normale statistische Schwankung handelt. Es könne auch sein, dass durch die flächendeckenden Checks mehr Erkrankte früher entdeckt werden.

Aber egal, was am Ende zutrifft: In Ostjapan bleibt die unterschwellige Angst bestehen, vor allem bei Familien mit Kindern, auch wenn darüber im Alltag kaum gesprochen wird. Eine 38-jährige Tokioterin, die in der Tiermedizin arbeitet, erzählt von deformierten Schmetterlingen, die nach der Katastrophe gesichtet wurden. Sie verstehe das Desinteresse mancher Mitmenschen nicht. Im Restaurant habe sie keine Wahl, aber für zuhause kaufe sie nur Lebensmittel aus West- oder Südjapan.

Die wohl größte Gruppe der Japanerinnen und Japaner konsumiert wie vor der Katastrophe. „Es wird schon nichts passieren, und wenn, bin ich schon alt“, denken sie. Wieder andere vertrauen den Stichproben der Behörden und verweisen darauf, dass die japanischen Grenzwerte sechsmal strenger als die der Europäischen Union von 600 Becquerel pro Kilogramm seien. Die deutsche Botschaft in Japan beschäftigt eine eigene Strahlenschutzbeauftragte. Was die Einschätzung erschwert, ist, dass es umstritten ist, wie sehr sich niedrige radioaktive Strahlung auswirkt. „Je weniger, desto besser“, sei eine in der Atomindustrie verbreitete Maßregel, sagt der taiwanesische Atomkraftexperte Dr. David Ho.

Über die Radioaktivität zu sprechen ist tabu

Miyuki Obara, die in Fukushima-Stadt lebt, erzählt, dass es dort tabu sei, über die Angst vor der Strahlung zu reden, vielleicht, weil Nordjapaner generell zurückhaltend seien, vermutet die Südjapanerin. Beim Gespräch in Tokio berichtet sie davon, dass die Dekontaminierung nur langsam vorankomme. Mangels Lagerort werde das abgetragene radioaktive Material oft nur ein, zwei Meter tiefer wieder in den Vorgärten vergraben. Ihr Mann, der eine Schule leitet, könne sie nicht schließen, es seien ja Schüler da. Umgekehrt sagen viele Eltern: Die Schulen sind geöffnet, also müssen wir bleiben.

Weil sie den Medien nicht mehr trauen, tauschen sich seit der Katastrophe viele Japaner intensiv im Internet aus. Der 28-jährige Heiwa Kataoka zum Beispiel lädt Vorträge von Wissenschaftlern, YouTube-Videos von Ärzten und Zeitungsartikel auf sein Facebook-Profil, letztere meist von den (wenigen) unabhängig geltenden Medien wie der kleinen Tageszeitung „Tokyo Shimbun. Kataoka stammt aus Aizu-Wakamatsu in West-Fukushima, wo seine Eltern eine Pfarrgemeinde führen. Anders als sie gehen die meisten Bewohner/innen von Fukushima gingen nicht zu Demonstrationen, wollten lieber vergessen.

Die Kataokas haben stattdessen einen Gesprächskreis ins Leben gerufen. Viele solcher privater Gruppen sind unter dem Radar der großen Medienhäuser aktiv. Dort tauschen sie Informationen aus, die sie in den Massenmedien vermissen. Die Mediengruppe „Asahi“, die tendenziell gegen die Atomkraft ist, berichtet noch relativ hinterfragend und kritisch. Die Zeitung „Yomiuri“, die die Atomkraft unterstützt, schreibt recht faktenorientiert und führt immer wieder an, dass ein Ausstieg Japans CO2-Bilanz und Handelsbilanz schade. Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK wird Kritik auf ausgewählten Sendeplätzen wie den „NHK Specials“ laut. In den Nachrichten dominiert der nüchterne Ton. Einordnung findet wenig statt.

Wenn Horrorszenarien an die Wand gemalt werden, dann häufig von Ausländern, wie dem US-Aktivisten Harvey Wassermann vor Kurzem. Er sagte, der „gefährlichste Moment der Menschheit“ stehe bevor. Der Grund ist der in den nächsten Tagen beginnende Versuch, gebrauchte Brennstäbe aus dem Abklingbecken von Reaktor vier zu holen. Sollten von den über 1.500 Stäben welche zu Boden fallen, könnte hohe Strahlung freigesetzt werden, sagen die einen. Die befürchtete Gefahr eines Brandes oder einer Explosion halten andere Experten für übertrieben. Dafür sei das Material schon zu lange in der Kühlung. Zwölf Monate hat der Betreiber Tokyo Electric Power (Tepco) dafür veranschlagt – wenn nichts schief geht. Derweil kämpft Tepco weiter mit steigendem Grundwasser und Lecks. Ob Wassermann übertreibt oder nicht – das Thema Radioaktivität wird Japan noch mindestens 40 Jahre begleiten. So lange dauert der Rückbau der Anlage, mindestens.

Ex-Premier Koizumi ist für den Atomausstieg

Von Panikmache in den Medien oder einer Panikstimmung in der gesamten japanischen Bevölkerung kann jedoch keine die Rede sein. Abes Appell an die internationale Gemeinschaft, bei der Bewältigung der Fukushima-Krise zu helfen, blieb eine Randnote. Wenn etwa zwischen Juli und Oktober Taifune aufziehen, die an dem stark beschädigten Kraftwerk noch größere Schäden anrichten können, so wird darüber recht sachlich berichtet, aber vom „Gesprächsthema des Tages“ kann nicht die Rede sein. Was häufig vergessen wird: Für Menschen in West- und Südjapan, 1000 Kilometer entfernt, ist die Katastrophe nicht nur geographisch weit weg.

Den Atomkraftgegnern schien zuletzt die Puste auszugehen. Bis sie vor kurzem prominente wie unerwartete Hilfe bekamen – aus dem Lager der LDP selbst. Ex-Premier Junichiro Koizumi, der von 2001 bis 2006 regierte, sagte in einer seltenen Rede seit seiner Pensionierung 2009: „Wenn Abe die politische Entscheidung treffen würde, alle AKWs zu schließen, dann könnten Gegner des Atomausstiegs (innerhalb der regierenden LDP) sich nicht widersetzen.“ Abe ist sein politischer Zögling, er designierte ihn 2006 zu seinem Nachfolger. Der reagierte, indem er die Unterstützer des vollständigen Ausstiegs „unverantwortlich“ nannte. Abe sagte, als Regierungschef müsse er sicherstellen, dass die Energiepolitik das Leben der Menschen und die Wirtschaft nicht negativ beeinflussten.

Seit der Katastrophe haben mehrere Energiefirmen die Strompreise nach oben gesetzt, was sie mit hohen Kosten wegen der verstärkten Einfuhren fossiler Brennstoffe begründeten. Zum Herbst 2013 meldeten fünf der zehn regionalen Stromfirmen dank der Preiserhöhung vorsteuerliche Gewinne an. Sie fordern die Erlaubnis, derzeit ruhende Reaktoren möglichst bald wieder hochfahren zu dürfen, um eine stabile Energieversorgung sicherzustellen. Die Entscheidung der Regierung Yoshihiko Noda, zwei Reaktoren neu anzufahren, hatte im Sommer 2012 für ein Aufflammen der Anti-AKW-Bewegung mit Demonstrationen von mehreren zehntausend Menschen geführt. Nach 13 Monaten Betrieb ruhen jedoch auch sie wieder, und damit alle 50 nach der Katastrophe verbliebenen Reaktoren. Derzeit ist Japan de facto atomstromfrei.

Frühestens im April 2014 könnten die ersten Reaktoren in Japan wieder ans Netz gehen. Wann genau, hängt von der laufenden Prüfung durch die Regulierungsbehörde und dem Einverständnis der lokalen Behörden ab. Die Abe-Regierung ließ schon vor einigen Monaten verlauten, sie wolle nicht an dem von der Vorgängerregierung verkündeten Atomausstieg bis 2039 festhalten. Details blieb sie bisher schuldig.