
Warum gehen aktuell so viele Leute auf die Straße und protestieren?
Auslöser der Proteste war der Regierungsbeschluss vom 21. November, der eine Pause im Abschlussprozess des Assoziierungsabkommens mit der EU verkündete. Die regierende Partei der Regionen inklusive der Regierung und dem Präsidenten Janukowytsch warben während der letzten Monate für die EU-Assoziierung. Diese Vollbremsung in Sachen Integration einige Tage vor dem Gipfel in Vilnius war daher ein Schock für viele Ukrainerinnen und Ukrainer.
Welche Forderungen werden gestellt und wer steht an der Spitze der Proteste?
Zum einen wurde bei der Großdemo am vergangenen Sonntag der Rücktritt des Premierministers Asarow mitsamt seinem Kabinett gefordert. Zum anderen wird der Präsident aufgefordert, das Assoziierungsabkommens mit der EU während des Gipfels der Östlichen Partnerschaft in Vilnius am kommenden Donnerstag und Freitag zu unterschreiben.
Zu den maßgeblichen Akteurinnen und Akteuren gehören vor allem zivilgesellschaftliche Bewegungen, wie beispielsweise New Citizen oder 3. Republik, zahlreiche Einzelaktivist/innen, darunter die Sängerin Ruslana und Egor Sobolew. Außerdem ist die parlamentarische Opposition beteiligt, konkret die Parteien Batkiwschtschyna, UDAR und Swoboda. Allerdings wird die Spaltung zwischen der parlamentarischen Opposition und den zivilgesellschaftlichen Protestierenden immer sichtbarer: So gibt es zwei Bühnen, eine am Europaplatz für die Parteien und eine auf dem Maidan für die zivilgesellschaftlichen Akteure.
Wer sind die Demonstrierenden? Aus welchen politischen und gesellschaftlichen Umfeldern stammen sie?
Die Demonstrierenden repräsentieren beinahe alle Bevölkerungsschichten – von Student/innen und Jugendlichen, über Leute aus der Mittelschicht, Künstler/innen und der sogenannten „kreativen Schicht“, bis hin zur reichen Oberschicht.
Politisch gesehen dominiert unter den Protestierenden leider die rechte bis hin zur rechts radikalen Rhetorik. Zwar sind linke Intellektuelle, darunter viele unserer Partner, auch dabei, aber ihre Plakate und Banner sind in den Menschenmassen kaum zu sehen.
Werden die Forderungen in allen Landesteilen unterstützt?
Letzte Umfragen zeigen, dass 65 Prozent aller Ukrainer/innen landesweit für die EU-Integration, und nur 32 Prozent für die Union mit Russland sind. Trotzdem gibt es im Süd-Osten der Ukraine (Donbass, Odessa, Krim) viele EU-Skeptiker. Aber auch in diesen Regionen gab es und gib es immer noch Proteste, die von Teilen der Bevölkerung unterstützt wurden.
Gibt es realistische Hoffnungen, dass die Proteste Wirkungen zeigen und Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU beim bevorstehenden Gipfel in Vilnius doch noch unterzeichnet?
Realistische Hoffnung auf den Erfolg der EU-Assoziierung gib es in der Tat immer noch. Präsident Janukowytsch hat gestern in seiner Fernsehansprache bestätigt, dass er immer noch ergebnisoffen spielt und dass ein Deal mit Russland immer noch nicht steht. Massenproteste in Kiew und anderen Großstädten der Ukraine am vergangenen Sonntag haben die führende politische Elite nachdenklich gemacht. Man hört jetzt kaum noch Stimmen der Partei der Regionen. Der Druck der Zivilgesellschaft funktioniert ähnlich wie im Jahr 2004 bei der Orangenen Revolution und alle hoffen, dass Janukowytsch in Vilnius die EU-Assoziierung unterschreiben wird.
Welche Rolle spielt die von der EU geforderte Freilassung von Ex-Premierministerin Timoschenko bei den Demonstrationen?
Die Tymoschenko-Frage spielt ehrlicherweise fast keine Rolle bei den Demonstrationen. Zivilgesellschaftliche Protestierende erwähnen Julia Tymoschenko gar nicht. Die Partei von Julia Tymoschenko, Batkiwschtschyna, nutzt zwar ihre Bilder, pusht dieses Thema aber nicht all zu stark.
Auf welche Entwicklungen in der Ukraine muss man sich einzustellen, falls es bei der Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens bleibt?
Darüber denkt im Moment noch niemand nach – alle sind voller Hoffnung, dass es in Vilnius doch noch klappen wird. Ich glaube, dass man für den Fall, dass die Assoziierung scheitert, mit landesweiten Massenprotesten rechnen muss. Es würde eine tiefe innenpolitische Krise in der Ukraine beginnen, die im Extremfall mit einem Rücktritt des Kabinetts und Neuwahlen des Parlaments, vielleicht sogar mit einer vorgezogenen Wahl des Präsidenten enden kann. Janukowytsch ist im Moment politisch schwach und kann es sich nicht erlauben, gegen das Volk zu regieren. Deswegen bin ich verhalten optimistisch, dass das Assoziierungsabkommen in Vilnius doch unterschrieben wird.
Die Fragen stellte: Walter Kaufmann, Leiter des Referats Ost- und Südosteuropa.