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Ondřej Liška: „Es ist fünf vor zwölf“

5 vor 12 auf einer Uhr

Unsere Büroleiterin in Prag sprach mit dem Vorsitzenden der tschechischen Grünen, Ondřej Liška, über die Hintergründe der politischen Krise in Tschechien, die  Gesetze zur Korruptionsbekämpfung sowie über den Konflikt zwischen Parlament und Präsident. Ein Ziel der Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung in der Region ist die Stärkung der grünen Bewegung.


Ondřej, vor zwei Wochen haben die tschechischen Grünen eine Pressekonferenz unter dem Motto „Fünf vor zwölf“ gehalten. Was ist aus eurer Sicht alarmierend an der gegenwärtigen politischen Situation?

Ondřej Liška: Die gegenwärtige politische Krise, der Fall der Regierung und die starke Desillusionierung in der Gesellschaft sind nicht auf das Versagen einzelner Politiker zurückzuführen. Sie spiegeln vielmehr wider, wie weit die systematische Korruption in Tschechien verbreitet ist. Sie zeigt, wie eng die Verflechtung zwischen der Politik und undurchschaubaren, einflussreichen Gruppen ist, die wir als Paten bezeichnen oder besser als politische Unternehmer.

Die bisherigen Versuche der Korruptionsbekämpfung sind gescheitert. Es zeigt sich, dass sich die Jusitz nicht auf ausreichend strenge und klare rechtliche Normen stützen kann. Die Gesetze der ehemaligen Regierung von Premier Nečas und der gegenwärtig im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien einschließlich der Opposition sind zahnlose Alibi-Gesetze und dringen nicht zum Kern der Probleme vor.

Den Grünen reichen diese halbherzigen Entwürfe der oben erwähnten Parteien nicht. Wir haben deshalb begonnen, systematisch an der Formulierung einer Sammlung von Gesetzen zu arbeiten, die die Verbindungen zwischen Politikern und politischen Unternehmern sprengen sollen. Diese Gesetzesentwürfe werden die Grünen schrittweise veröffentlichen. Während unserer letzten Pressekonferenz haben wir drei zentrale Gesetzesentwürfe für den Kampf gegen die Korruption vorgestellt.

Um welche Gesetze geht es?

Zum einen handelt es sich um ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern. Es soll anständige Beamte und Angestellte vor politischem Druck schützen, wenn sie überteuerte oder unnötige staatliche Aufträge kritisieren. Vorgestellt wurde es vom Autor des Gesetzestextes selbst, von Senator Libor Michálek, der letztes Jahr mit der Unterstützung der Grünen in den Senat gewählt wurde. Libor Michálek ist wohl der bekannteste tschechische Whistleblower.

Außerdem haben wir ein Gesetz zur Parteifinanzierung vorbereitet. Der Motor der Korruption in der tschechischen Politik ist die undurchschaubare Finanzierung politischer Parteien. Die Grünen widmen sich dieser Problematik schon intensiv seit 2009. Unseren Entwurf haben wir in Anlehnung an internationale Erfahrungen und Anregungen tschechischer Nichtregierungsorganisationen erarbeitet. Er sieht eine funktionierende Sperre gegen Schwarzgelder in der Politik vor. Vorgestellt hat ihn Tomáš Průša, Vorstandsmitglied der Grünen und Experte zum Thema Parteifinanzierung. Tomáš Průša wurde übrigens auch in Zusammenhang mit dem Fall „Eine Million für ein Gesetz“ aus dem Jahr 2009 bekannt. Es handelte sich dabei um einen Test von Journalisten in Bezug auf die Widerstandsfähigkeit politischer Parteien gegen Korruption, den nur die Grünen bestanden haben.

Der dritte Entwurf ist ein Gesetz zur Regulierung von Lobbying, das die Schaffung neuer Gesetze transparenter machen soll. Dank dieses Gesetzes würden sich einflussreiche politische Unternehmer im Abgeordnetenhaus nicht mehr wie zu Hause fühlen. Wir werden in den nächsten Wochen weitere Gesetzesentwürfe vorstellen. Denn die Korruption ist nicht das einzige Problem, das die tschechische Bevölkerung strapaziert. Die Korruption auszumerzen ist eine Voraussetzung dafür, dass eine faire und nachhaltige Politik entstehen kann. Tschechien leidet auch unter dem zunehmend schweren Zugang zum Wohnungsmarkt, Arbeitslosigkeit, Luftverschmutzung, unter einem oft schlechten Zugang zu Lebensmitteln guter Qualität sowie fehlenden Investitionen in das öffentliche Schulwesen und die Gesundheitsversorgung. Für all diese Problemfelder entwickeln die Grünen ebenfalls Strategien.

Warum ignoriert Miloš Zeman die Vorschläge der Parteien aus dem Parlament?

Miloš Zeman wird durch zwei Machtmotive geleitet: Zum einen ist es sein langjähriges Bestreben, das tschechische politische System hin zu einem Zweiparteiensystem mit einem starken Präsidenten zu verändern. Faktisch geht es um einen Angriff auf das bestehende parlamentarische System und die Einführung eines semipräsidentiellen Systems. Seine zweite Motivation ist Rache. Miloš Zeman ist ein außergewöhnlich rachsüchtiger Mensch. Er macht keinen Hehl daraus, es der Sozialdemokratie heimzahlen zu wollen – oder vielmehr den sozialdemokratischen Politikern, die ihn weder bei der Präsidentschaftswahl 2003 noch in seiner letzten Wahlkampagne unterstützt haben. Nach seiner Wahlniederlage vor zehn Jahren trat Zeman 2007 aus der sozialdemokratischen Partei ČSSD aus und arbeitet seitdem systematisch an ihrer Demontage.

Zemans Vorgehen ist nicht verfassungswidrig. Er argumentiert, direkt vom Volk gewählt zu sein und scheint sich dem Abgeordnetenhaus gegenüber nicht verpflichtet zu fühlen. Einige Politologen/innen und Verfassungsrechtler/innen forderten schon vor der Direktwahl, dass die Kompetenzen des Präsidenten in der Verfassung besser geregelt werden müssten. Stimmst du dem zu?

An den verfassungsmäßigen Kompetenzen des Präsidenten hat sich nach Einführung der Direktwahl nichts Wesentliches geändert. Das Problem liegt woanders: Unsere Verfassungsordnung stützt sich auf Verfassungsgewohnheiten und Zeman hat sich einfach entschieden, diese zu ignorieren. Das kann ihm eine gewisse Zeit lang gelingen. Der Teil der Bevölkerung, dem Zemans autoritärer Ansatz entgegenkommt, bewundert ihn sogar. Sollte die Grenze aber deutlich überschritten werden, habe ich keine Zweifel, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung dagegen vereinen und gegen ein derartiges Verhalten wehren wird. Zum Schutz der parlamentarischen Demokratie und politischen Pluralität bleibt uns nichts anderes übrig.

Wie schätzen die tschechischen Grünen die neu ernannte Regierung ein?

Diese Regierung ist eine Marionettenregierung, die sich aus Freunden, Bekannten und Sponsoren von Miloš Zeman zusammensetzt. Ihr Ziel ist es, die rechtskonservativen Parteien auszuschalten. Sie will die Sozialdemokratie erniedrigen und dazu zwingen, für die Regierung Rusnoks zu stimmen, obwohl sich diese Regierung auf keine der im Parlament vertretenen Parteien stützen kann. Schon jetzt zeigt sich, dass die Sozialdemokraten zerrüttet sind – der nationalkonservative, durch Klientelismus und Betonlobby geprägte Flügel versucht, sich mit Zeman zu einigen und die Regierung Rusnoks zu unterstützen.

Die Grünen würden in der heutigen Situation diese Regierung sicherlich nicht unterstützen und für eine Selbstauflösung des Parlaments sowie vorgezogene Neuwahlen stimmen .

Einige Stimmen argumentieren aber, dass eine Selbstauflösung nicht der richtige Weg sei, da das Abgeordnetenhaus so dem Präsidenten klein beigeben würde. Wie bewertest du diese Argumentation?

Ich glaube, dass eine Selbstauflösung des Parlaments die sauberste Lösung ist, weil sie den Menschen ermöglicht, in die Situation einzugreifen – in einem Augenblick, in dem weder die nachgeborene Nečas-Regierung noch Zemans parteilose Regierung eine aus Wahlen hervorgegangene Legitimität hat. Die Überbleibsel der Nečas-Regierung waren schon lange paralysiert – durch den Zerfall der Fraktionen, den Übertritt von Abgeordneten von einer in eine andere Fraktion sowie eine zahnlose Politik, die von Skandal zu Skandal taumelte. Die Opposition ist nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Dazu sind Wahlen ja da: Damit sie einer Regierung eine neue Legitimität verleihen. Eine Selbstauflösung des Parlaments würde keinen Sieg für Zeman bedeuten. Im Gegenteil: Gerade wenn sich das Parlament nicht auflöst, bleibt Zeman Herr der Lage. Wenn es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt, hätte Zeman keinen Raum für seine willkürlichen Auslegungen der Verfassungsverfahren, die auf Kosten des Parlaments gehen.

Warum scheiterte der im Juli von den Sozialdemokraten initiierte Versuch einer Selbstauflösung?

Er scheiterte, weil die Reste der Nečas-Regierung hoffen, beim zweiten Versuch der Regierungsbildung eine Möglichkeit zu bekommen, die ursprüngliche Regierungskoalition zu erneuern. Rein mathematisch hat diese Dreierkoalition die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Erst wenn Zeman im zweiten Versuch der ehemaligen Koalition keine Chance gibt, würden sich vielleicht auch die Parteien der ehemaligen Regierungskoalition mit der Forderung nach Neuwahlen einverstanden erklären.

Wie wahrscheinlich ist es, dass der Regierung Anfang August das Vertrauen ausgesprochen wird?

Innerhalb der Sozialdemokraten tobt ein heftiger Streit darüber, ob sie Zemans Regierung unterstützen sollen oder nicht. Es hängt davon ab, welcher Flügel gewinnen wird. Sollte der Regierung das Vertrauen ausgesprochen werden, wäre das eine Niederlage für die parlamentarische Demokratie und faktisch der Beginn einer Umwandlung in ein präsidentielles System. Außerdem wären die Chancen noch geringer, dass sich die ČSSD in Zukunft in eine progressive, moderne politische Partei mit niedriger Korruptionsschwelle wandeln könnte.

Wie sehen derzeit die Umfragen für die tschechischen Grünen aus?

Unsere Umfragewerte beginnen leicht zu wachsen, seitdem wir unsere Medienarbeit verbessert und ein System der Zusammenarbeit innerhalb der Partei geschaffen haben, wodurch sich unsere Arbeitsgemeinschaften, einzelne Parteimitglieder, Experten und unsere Unterstützer besser beteiligen können. Wir kamen in früheren Umfragen auf 2,5%, jetzt bewegen wir uns in einigen Umfragen bei 4%. Auch wenn es für uns schwierig ist, in den Medien präsenter zu sein, erwarten wir, dass sich durch unsere beharrliche Arbeit der Aufwärtstrend weiter fortsetzen wird.



Ondřej Liška ist Parteivorsitzender der tschechischen Grünen (Strana zelených, SZ) und ehemaliger tschechischer Bildungsminister. Die tschechischen Grünen waren von 2006 bis 2010 im Abgeordnetenhaus und von 2007 bis 2009 in der Regierung vertreten.

Das Interview führte Eva van de Rakt


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