4. Chodorkowski-Debatten: Nach dem Frühling der lange Winter?

Die Referenten der 4. Chodorowski-Debatte in Berlin
Foto: Heinrich-Böll-Stiftung

27. März 2013
Hartmut Schröder
Die vierten Chodorkowski-Debatten beschäftigten sich mit dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Russland sowie mit den Aussichten von gesellschaftlicher und politischer Opposition nach der Protestwelle von 2011/12. Aktueller Hintergrund sind die Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaften und andere Behörden, von denen hunderte NGOs, darunter zehn Partnerorganisationen der Heinrich-Böll-Stiftung, betroffen waren, sowie die aktuelle Entwicklung in der Zypern-Krise.

Verquickung von Staat und Wirtschaft

Die aktuelle Aufregung in Russland aus Anlass der Zypern-Krise lässt sich daraus erklären, dass die Elite aus Unternehmern und Amtsträgern von möglichen Maßnahmen im zyprischen Bankenwesen unmittelbar persönlich betroffen wäre, erklärte Georgij Satarow vom Moskauer INDEM-Institut zum Auftakt. Verschärft werde die Nervosität dadurch, dass der Moskauer Führung im Ausland die im Inland gewohnten Eingriffsmöglichkeiten fehlten. Iwan Ninenko von Transparency International Russland machte – nach der Aufregung um den Magnitsky Act – eine zweite Runde der Panik aus.

Hintergrund ist die starke Verquickung von Staat und Wirtschaft, bei der Korruption das Bindeglied darstelle, so Satarow. Diese hat sich nach Berechnungen des INDEM-Instituts von 2001 bis 2005 in ihren Ausmaßen fast verzehnfacht (von 34 auf 318 Mrd. US-Dollar, das Doppelte der damaligen Öl- und Gas-Einnahmen) und es gebe keine Anzeichen, dass diese Entwicklung sich gewendet habe, erklärte Satarow (ein Korruptionsbericht der Präsidialverwaltung von 2011 sei immer noch Verschlusssache).

Auch habe sich der Charakter der Korruption gewandelt, sie sei zunehmend „orientalisch“, mit Merkmalen, die an die Situation in Südamerika oder Afrika erinnern. Russland habe sich unter Putin zu einem „total rentenorientierten Land“ entwickelt. Seit 2004 habe sich durch die vorhandenen Rohstoffe, die gestiegenen Öl- und Gaspreise, die traditionelle Korruption in der Bürokratie und die Herstellung des politischen Monopols eine systemische Rentenorientierung entwickelt, die nach dem Fall Jukos auch unter Einsatz der Justiz inzwischen alle Wirtschaftsbereiche befallen hat.

Die reale Aufgabe der Staatsmacht sei vor allem die Schaffung, Wahrung und Ausbeutung der Renten, meinte Satarow. Es bestehe ein staatliches System zur persönlichen Bereicherung, bei dem die abgeschöpften Mittel zu einem großen Teil ins Ausland abfließen, fügte Ninenko hinzu. Die bestehenden staatlichen Institutionen würden ausgehöhlt und an dieses System angepasst; gleichzeitig werden informelle Konstruktionen wie die „Vertikale der Macht“ geschaffen, die die Rentenverteilung steuern sollen, erläuterte Satarow.

Markt und Staat schwinden

Unternehmen seien zudem auch wirtschaftlich über Aufträge auf eine Zusammenarbeit mit dem Staat oder den Staatskorporationen angewiesen, verdeutlichte Ninenko. Die Unternehmer könnten sich auf drei Arten schützen: sich in der Provinz verstecken, eine „Schutzheirat“ mit regionalen Strukturen der Staatsmacht eingehen oder das Land verlassen, was bei vielen kleinen und mittleren Unternehmen zu beobachten ist, berichtete Satarow. Er sieht den Staat – als von Bürgern geschaffener Dienstleistungskörperschaft – in Russland schwinden, ebenso wie den Markt, der durch Rentenorientierung und Verquickung  mit der Staatsmacht keinen Wettbewerb aufweise. Bezeichnend sei bei jungen Leuten die Zukunftsvorstellung von einem Posten im Staatsdienst oder bei Gasprom.

Andererseits ist das Verständnis gewachsen, dass Korruption ein Problem darstellt, wie Ninenko betonte. Es herrsche mehr Interesse in der Gesellschaft an Informationen (Vermögenserklärungen, öffentliche Aufträge) und Methoden gegen Korruption. Andererseits stelle Korruption auch für die Führung ein Problem dar, weil durch deren Ausmaß die politische Steuerung gefährdet ist. Sotschi sei ein Beispiel, dass das Modell „Loyalität gegen Freibrief zur Bereicherung“ nicht reibungslos funktioniere – der politische Wille (Putins) zu diesem Vorzeigeprojekt wird nur mangelhaft umgesetzt, weswegen nun Korruptionsvorwürfe inszeniert werden (müssen).

Die „Schizophrenie“ liege darin, dass die Führung einerseits an der Wahrung des Status Quo interessiert ist, anderseits aber für den internationalen Kontext (WTO, Visumsverhandlungen mit der EU, Investoren) Korruption bekämpfen muss, so Ninenko. Der von Putin demonstrierte Kampf solle allein einer Aufbesserung seines Images dienen, sei Auseinandersetzungen bzw. der Machtbalance zwischen den Klans geschuldet und richte sich dabei gegen bestimmte Korruptionäre, nicht aber gegen die Krankheit selbst, betonten Ninenko und Satarow. Die staatlichen Medien stehen vor dem Problem, über Korruptionsfälle zu berichten und den Staat trotzdem gut darstellen zu müssen.

Schizophrenie der Korruption

Mit Blick auf den Magnitsky Act meldete Ninenko Zweifel an: Er sei zwar ein wirkungsvoller Schlag gegen einen bestimmten Personenkreis, werde aber als politisches Instrument wahrgenommen. Vorzuziehen seien daher institutionelle Mechanismen und beispielsweise die Offenlegung von Vermögenserwerb im Ausland etwa durch Duma-Abgeordnete. Auch hätten Gesetze wie der Foreign Bribery Act, die die Verfolgung von Korruption in Drittländern ermöglichen, erste Wirkungen gezeigt. Es gebe einen Druck auf russische Unternehmen sich umzustellen, wenn sie mit ausländischen Firmen zusammenarbeiteten oder selbst auf den westlichen Markt gehen wollten, so Ninenko.

Ergebnis dieses Systems ist, dass der Staat seine Aufgaben nicht erfülle, stellte Ninenko fest. Die Rohstoffeinnahmen (Naturrente) erreichten die Bürger vor allem über Gehälter und Einstellungen, etwa bei der Polizei, die wegen der dortigen „Zusatzeinnahmen“ ebenfalls am Status Quo interessiert ist. Bereiche wie Infrastruktur oder Bildung leiden, was zu Unmut in der Bevölkerung führe. Privatisierungen in bestimmten öffentlichen Bereichen seien auf keine Strategie zurückzuführen, sondern eher Einzelmaßnahmen aus kurzfristigen Überlegungen oder zur Wahrung oder Schaffung von Bereicherungsmöglichkeiten.

Der Umstand, dass Russland ein „Status-Quo-Staat“ ist, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete und Koordinator für die deutsch-russische gesellschaftliche Zusammenarbeit Andreas Schockenhoff formulierte, bedeute in einem dynamischen Kontext Rückschritt. Russland brauche eine qualitative Modernisierung, die sich aus Wettbewerb und Zivilgesellschaft speise, so Schockenhoff. Satarow pflichtete dem bei und plädierte für ein Ende der „aufholenden“ Modernisierung, bei der Resultate, nur imitiert werden, jedoch die für Resultate notwendigen Prozesse nicht übernommen werden. Russland müsse sich endlich auf zwei Beinen fortbewegen: auf dem Bein einer Gesellschaft freier Bürger, die aus dem tagtäglichen Leben Innovationen schafft und dem Bein des Staates, das „nachgezogen“ wird, indem der Staat die sinnvollen Innovationen zum allgemeinen Standard macht.

Wie entwickelt sich die Opposition nach den Protesten von 2011/12 – gesellschaftlich, politisch?

Die Proteste des vergangenen Winters seien zwar durch Anlässe wie die Ämterrochade Medwedew-Putin und die Fälschungen bei den Dumawahlen ausgelöst worden, jedoch Teil einer Entwicklung gewesen, in der seit 2009 sich die Menschen nicht mehr von der Politik abwendeten sondern aktiv wurden, erläuterte Mascha Lipman vom Carnegie Moscow Center. Die Proteste seien seither abgeebbt, doch sind die Menschen zivilgesellschaftlich gereift und mit Organisationsfähigkeiten und Mobilisierungspotential ausgestattet. Allerdings entwickle sich noch keine starke politische Aktivität (Verhandeln auch mit Andersgesinnten, Führungsfiguren und entsprechende Strukturen bedeute). Trotz der leicht liberalisierten Wahlgesetzgebung hätten die neugegründeten Parteien bislang keine attraktiven Führungsfiguren oder Programme hervorgebracht.

Nach einer Phase des Abwartens vor den Präsidentschaftswahlen ist das Regime dann im Frühjahr 2012 zum Gegenangriff übergegangen: mit Einschüchterungsversuchen, Verhaftungen, Prozessen, repressiven Gesetzen und Diskreditierung in den Medien. Die Assoziation „NGO – Ausländische Agenten“ biete einen bequemen Ansatzpunkt zur Diskreditierung, die systematisch betrieben werde, merkte Sergej Parchomenko, Journalist und Mitglied des Koordinationsrates der Opposition, hierzu an. Ebenso sei es inzwischen Methode, eine Empörung der Mehrheit über Proteste einer (liberal gesinnten) Minderheit zu inszenieren, die zuvor gezielt angegriffen wurde.

Begleitet werde diese Entwicklung durch eine Hinwendung zu sozialem Konservatismus (sowjetischer Patriotismus, traditionelle Werte, Ablehnung des Fremden), wie Lipman ausführte. Möglicherweise werde es in der Zukunft auch wieder Beschränkungen bei der Ausreise geben, vermutete Parchomenko, weswegen die Visumsfreiheit für Inhaber russischer Dienstpässe, die von der EU mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes beschlossen wurde, für das Regime ein großes Geschenk darstelle. Das Regime sei mit seinen Ressourcen (Geld, Polizei und Justiz, Medien) eindeutig im Vorteil, so Lipman, und sehe in diesem aktiven Teil der Gesellschaft, potentiell auch in den Eliten (siehe die Kampagnen gegen Korruptionäre) eine Bedrohung für den Machterhalt.

Überprüfungskampagne gegen NGOs und Protestkultur

Zur derzeitigen Überprüfungskampagne gegen NGOs merkte Georgij Satarow an, dass hier „Generäle einen verspäteten Krieg“ führten, da die bestehenden NGOs viel weniger eine Gefahr für das Regime darstellten, als die neue Mittelschicht, die mit eigenen Geldern und Managerqualitäten aktiv werde. Gleichwohl können, wie Parchomenko und Lipman ausführten, selbst absolut unpolitische gesellschaftliche Organisationen unter Druck geraten, wenn sie effektiv und autonom sind – der Organisation LizaAlert, die vermisste Kinder und Alte sucht und aufspürt, wurde vorgeworfen, sich in die Arbeit der Polizei einzumischen.

Obwohl – oder weil? – Freiwillige beispielsweise bei den Waldbränden oder den Überschwemmungen in Krymsk gezeigt haben, dass sie erfolgreich originär öffentliche Aufgaben übernehmen können, sei jetzt eine Regulierung der Freiwilligenarbeit in Vorbereitung. In diesem Zusammenhang würden selbst humanitäre Fragen den Kontrollbedürfnissen des Regimes oder, wie im Fall des „Antiwaisengesetzes“ (Parchomenko), politischen Überlegungen unterworfen. Die Aktivität in der Zivilgesellschaft gehe aber weiter. Angesichts der Unzufriedenheit mit der Art der Wirtschaftssteuerung und der Absage an eine Modernisierung stiegen insgesamt die Kosten für den Selbsterhalt des Regimes, so dass es selbst ins Schwanken geraten oder stürzen könnte, resümierte Lipman.

Auch Sergej Parchomenko betonte, dass die spontanen, empörten Proteste des vergangenen Winters zwar abgeebbt seien, dafür aber – auch ohne politische Führungsfiguren – eine ganze Bandbreite gesellschaftlicher Aktivität bestehen bleibe. So hätten sich einige Aktivisten nach den Präsidentschaftswahlen bis zum Verfassungsgericht durchgeklagt, berichtete Parchomenko, vor dem die Vertreter der Verfassungsorgane dann jüngst erklärten, „eine Verabsolutisierung des Rechts [der Wähler] auf gerichtlichen Schutz könne die Rechte anderer Wahlteilnehmer beeinträchtigen.“  Gerichte niederer Instanzen hatten unisono entschieden, dass die Rechte der Wähler mit dem Einwurf des Stimmzettels endeten.

Die Menschen gingen, wenn es darauf ankommt, auch wieder auf die Straße, wie die Demonstrationen Anfang Mai 2012 und am 13. Januar 2013 gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gezeigt hätten. Zum Jahrestag der Ereignisse vom 6. Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz (Zusammenstöße nach Demonstration) werde jetzt eine weitere wichtige Demonstration vorbereitet, die unter anderem an die 24 Personen erinnern soll, die einen Prozess wegen Anstiftung zu öffentlichem Aufruhr zu erwarten haben. Parchomenko unterstrich, dass hinter diesen Verfahren, die sogar bedeutsamer seien als der Fall Pussy Riot, der Versuch stehe, zum ersten Mal seit 70 Jahren einen öffentlichen politischen Prozess zu veranstalten. Die Botschaft laute, so Parchomenko: „Jeder von Euch kann jederzeit unter jeder Argumentation betroffen sein, und nichts wird euch retten und nichts uns aufhalten.“
Parchomenko zeigte sich trotzdem optimistisch, da es Leute gebe, die den schutzreflexartigen Zustand des „Und, was soll’s?!“ verlassen haben, Zusammenhänge erkennen und zu Tausenden versuchen, in die Wahlkommissionen zu gelangen.

Deutsche und europäische Russlandpolitik

An der Modernisierungspartnerschaft mit Russland müsse festgehalten werden, allerdings mit einem Akzent auf die Zivilgesellschaft, bekräftigte Andreas Schockenhoff. Es dürfe nicht zu einer Relativierung der Menschenrechte im Dienste einer strategischen, wirtschaftlichen Partnerschaft kommen, forderte die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck (Bündnis 90 / Die Grünen). Die Menschenrechtskonvention sei in Europa, zu dem Russland gehöre, Geschäftsordnung, unterstrich Marieluise Beck. Den Menschen, die sich in Russland für Freiheit und Demokratie einsetzen, müsste durch Hinwendung, Dialog oder beispielsweise die Bundestags-Resolution vom November 2012 der Rücken gestärkt werden. Sie warnte, sich nicht von Erklärungen in Russland ablenken zu lassen, dass Chodorkowskij wenige Monate nach den Olympischen Spielen in Sotschi freikommen werde, da im Hintergrund die Vorbereitungen für einen dritten Prozess bereits liefen. Zudem sei es unverständlich, dass der Erwerb von Rosneft-Anteilen – und damit von ehemaligen Jukos-Anteilen – durch BP in der Öffentlichkeit kein entsprechendes Aufsehen erregt habe. Das Gleiche gelte für die europäische Visumsfreiheit für die Inhaber russischer Dienstpässe: damit könnten nun diejenigen, die in den Ministerien den Zugriff auf die Bürger in Russland organisieren, sich ungehindert um ihre Kinder und Assets in Europa kümmern. Vonnöten sei eine Reisefreiheit für alle Bürger, forderte Beck.

Russland werde im kommenden Wahlkampf kaum eine Rolle spielen, und auch keine zentrale Rolle in der Außenpolitik – dort stehen Krisenherde wie der Iran oder Syrien im Mittelpunkt, wobei eine Zusammenarbeit mit Russland gebraucht werde.

Video

Interview with Maria Lipman (Carnegie Moscow Center)

Video

Interview with Ivan Nineko (Transparency International Moscow)