Serbien – auf dem Weg nach Europa

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Serbiens Beitritt zur EU wird sowohl von den Mitgliedsländern als auch dem Balkanstaat selbst kontrovers diskutiert
In vielen Hauptstädten der Europäischen Union gibt es große Zweifel, ob die Union nach dem Beitritt Kroatiens noch weitere Länder des Balkans aufnehmen sollte. Die Erfahrungen mit Rumänien und Bulgarien sprechen dagegen. Ihre Aufnahme habe zu viele Abweichungen von europäischen Standards in die Union geholt und mache es schwer, die Union künftig noch als Gemeinschaft der Gleichen zu steuern. Umgekehrt legen sie es nahe, an ihre Stelle eine Beziehung von Zentrum und Peripherie zu setzen. Nun also doch: ein deutsches Europa? Gerade die Führung will Deutschland in Europa aus historischer Erfahrung nicht übernehmen.

Deutschland will europäisch eingebunden sein aus Sorge vor einer Sonderstellung aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke. Deshalb will Deutschland auch eine Rückentwicklung der Europäischen Union zu einer Freihandelszone verhindern. Es unternimmt große Anstrengungen zur Herstellung der – zunehmend auch ökonomisch betrachteten – Gleichheit der Mitgliedsländer der Euro-Zone durch Angleichung innerhalb der EU, verhält sich aber zurückhaltend bis ablehnend zur Aufnahme der Türkei oder weiterer Länder aus dem Balkan oder Osteuropa. Statt einer Mitgliedschaft könnte ihnen eine „Privilegierte Partnerschaft“ angeboten werden, d.h. eine um einige außen- und sicherheitspolitische Aspekte erweiterte Freihandelszone.


Wird Kroatien das vorerst letzte Balkan-Land sein, das in die EU aufgenommen wird? Die Beitrittsverhandlungen mit Montenegro haben bereits begonnen. Für Serbien kann mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen in 2014 gerechnet werden. Mazedonien und Albanien könnten bald folgen und die Annäherung zwischen der EU und dem Kosovo über ein Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen ist auf dem Weg. Werden all dies Beitrittsverhandlungen sein oder heißen sie nur so, führen am Ende aber in eine Privilegierte Partnerschaft?

Das Modell der EU-Erweiterung ist aktuell in Frage gestellt. Beitritt und Annäherung der Länder Südeuropas in der ersten Beitrittsrunde erfolgte über großzügig ausgestattete und wenig effizient eingesetzte Kohäsions- und Strukturfonds. Diese wurden nach der zweiten Erweiterungsrunde weitgehend in die neuen Mitgliedsländer aus Mitteleuropa umgelenkt. Die dadurch entstehende Finanzierungslücke in den südeuropäischen Ländern sollte durch Kredite ausgeglichen werden, die von den Ländern selbst dank ihrer Mitgliedschaft in der Euro-Zone auf den Kapitalmärkten zu äußerst günstigen Bedingungen aufgenommen werden konnten. Dieses Modell der kreditfinanzierten Stabilisierung und Heranführung der südeuropäischen Mitgliedsländer ist doppelt gescheitert. Es hat zu ihrer weitgehenden De-Industrialisierung und Importabhängigkeit geführt und ihre Verschuldung explodieren lassen.

Für die Probleme der noch viel ärmeren neuen Mitglieder Bulgarien und Rumänien hat die EU heute kein Geld und keine Antwort. Ihr Schwerpunkt bleibt mit Unterstützung Deutschlands die Stabilisierung und Entwicklung der neuen mitteleuropäischen Mitgliedsländer. Wie die Verhandlungen über den Haushalt der EU zeigen, ist an eine Ausweitung der Kohäsions- und Strukturfonds nicht zu denken. Serbiens Weg in die Europäische Union ist weit. Aber das ist nicht allein eine Frage des Abstands Serbiens zur EU. Auch die EU könnte sich von Serbien entfernen, weil ihr Konzept der Erweiterung nicht mehr funktioniert. Künftig, so steht zu erwarten, wird die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Kohäsion bei Eintritt in die EU eine weit größere Rolle spielen als bisher.

Aus Sicht der EU standen bisher bei der Transition der Länder des westlichen Balkans drei Fragen im Mittelpunkt: Transformation des gewaltsamen und kriegerischen Nationalismus zu friedlicher Kooperation und Versöhnung; Transformation einer kommunistischen Planwirtschaft zu einer liberalen Marktwirtschaft und Transformation der (kommunistischen) Ein-Parteien-Herrschaft zu einer pluralistischen Mehr-Parteien-Demokratie. Diese Fragen bleiben wichtig. Künftig wird aber die Leistungskraft der jeweiligen Marktwirtschaften, ihre Fähigkeit zu einer ausgeglichenen Leistungsbilanz und zur Sicherung grundlegender sozialer Standards, größere Bedeutung erhalten.

Die Erweiterung der EU wird nicht mehr primär als Erweiterung um neue Absatzmärkte für die Industrien des Zentrums gesehen. Zunehmend rückt auch die Fähigkeit der Kandidatenländer in den Blick, sich selbst durch den Export in die EU und darüber hinaus zu stabilisieren. Auch die formale Durchsetzung einer Mehr-Parteien-Demokratie erfüllt nicht mehr die Standards für den EU-Beitritt. Heute interessiert, ob Parteien zur Integration unterschiedlicher Interessen bereit und in der Lage sind, oder ob sie als politische Kartelle lediglich den Staat im eignen Interesse kontrollieren.

Erinnerungspolitik – der weite Weg zu friedlicher Kooperation und guter Nachbarschaft

Aus der Sicht Deutschlands kommt der Auseinandersetzung Serbiens mit Taten und Verbrechen in den Kriegen der 90er Jahre besondere Bedeutung zu. Die Wiederherstellung moralischer Grundsätze durch Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, die glaubwürdige Versöhnung mit den Nachbarn und die Entwicklung friedlicher kooperativer Beziehungen zu ihnen in einem europäischen Rahmen sind historische Erfahrungen, die in Deutschland und besonders von der deutschen Außenpolitik auch von Serbien erwartet werden.

Will die serbische Politik Deutschland davon überzeugen, dass sie sich auf den Weg nach Europa macht, dann muss sie zur Auseinandersetzung mit diesen erinnerungspolitischen Erwartungen in der Lage sein. Dann muss sie Antworten geben auf die Fragen, die sich durch die Verbrechen der Kriege der 90er Jahre aufdrängen und deren Nicht-Beantwortung und Verleugnung einer Versöhnung mit den unmittelbaren Nachbarn, mit denen Serbien im Rahmen eines gemeinsamen Europas zusammenleben will, im Wege steht.

Das offizielle Serbien hat bis heute kein Verhältnis zu den von Serben zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und dem an bosnischen Muslimen begangenen Genozid in den 90er Jahren gefunden. Offiziell sieht das Land sich eher als Opfer denn als Täter. Immer sind es die „Anderen“, die es ebenso oder schlimmer getrieben haben. Auch die Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag ist halbherzig und erfolgt eher unter internationalem Druck als im Interesse der Wiederherstellung eines moralischen Fundaments für die eigene Gesellschaft. Zum eignen Schaden, wie die Freisprüche für zwei kroatische Generäle und einen albanischen Kämpfer vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zeigen.

Da die serbische Regierung dem Tribunal stets nur widerwillig geholfen hat, unterstützte sie auch die Anklage nicht hinreichend – selbst dort, wo die serbische Öffentlichkeit auf eine in ihren Augen „gerechte“ Verurteilung kroatischer Generäle oder albanischer Freiheitskämpfer hoffte. Ohne Respekt vor der friedensstiftenden Wirkung des internationalen Gerichtshofs und seiner Bedeutung für die Ermittlung von anerkannten Fakten, zeigt die serbische Regierung trotz wortreicher anderslautender Bekundungen kein Interesse an der Gerechtigkeit – gerade auch für die serbischen Opfer der Kriege der 90er Jahre.

Gegen das offizielle Geschichtsbild kommt die erinnerungspolitische Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Projekte nur schwer an. Aber die „Frauen in Schwarz“ mit ihrem bis heute anhaltenden Kampf gegen die nationalistische Verblendung, die Regional Commission for Truth and Reconciliation mit ihrem Bemühen um verlässliche Berichte und gesichertere Fakten, das Helsinki Committee for Human Rights in Serbia und das Humanitarian Law Center Belgrade versuchen es unverdrossen. Sie zeigen, dass es ein anderes Serbien gibt – freilich eines, das in der serbischen Gesellschaft nur schwach verankert ist und, weil in hohem Maße von ausländischer Finanzierung abhängig, vielfach des „Verrats“ und einer Art „Agententätigkeit für fremde Mächte“ beschuldigt wird.

Serbische Regierung verspricht Re-Industrialisierung – nach einer langen Phase des wirtschaftlichen Niedergangs

Serbiens Wirtschaft kann auf eine in jugoslawischen Zeiten erfolgreiche Industrieproduktion und eine breit angelegte berufliche Bildung zurückblicken. Heute ist ihr Leistungsniveau jedoch 15 Prozent unter das von 1990 gefallen. Seitdem hat sich die serbische Wirtschaft auch strukturell verschlechtert: aus einem Land mit ehemals bedeutender industrieller Produktion für den Export wurde ein Land des Konsums, durch den es in hohem Maße abhängig wird von Kapitalzuflüssen und Krediten. Anders als seinen Nachbarn Ungarn, Tschechien und Slowakei ist es Serbien nur sehr eingeschränkt gelungen, die komparativen Vorteile gut ausgebildeter Arbeitskräfte und zugleich niedriger Löhne für das Anwerben von Direktinvestitionen in exportfähige Produktionen zu nutzen. Eine Ausnahme bilden hier allerdings die Direktinvestitionen aus Deutschland, die zu einem erheblichen Teil dem Aufbau industrieller Produktionen für Elektroerzeugnisse (Siemens) und Teilprodukten der Automobilproduktion (Leoni, Dräxlmaier, Grammer, Continental, etc.) gelten und zu einem großen Teil nach Deutschland exportiert werden.

Neu ist, dass auch deutsche Textilunternehmen wie Falke in Serbien investieren und damit an die langjährige Tradition einer bedeutenden serbischen Textilindustrie anknüpfen, die seit den 90er Jahren von rund 150.000 auf weniger als ein Drittel (40.000) ihrer Arbeitsplätze geschrumpft ist. Auch die Importe aus Deutschland stärken die industrielle Basis Serbiens, weil sie vielfach Investitionsgüter betreffen. Der übrige Teil der serbischen Exportindustrie ist dagegen eher auf landwirtschaftliche und arbeitsintensive Produkte mit geringem Veredelungsfaktor und entsprechend ungünstigen Bewertungen beschränkt.

Auf diesem Niveau „passt“ die serbische Wirtschaft nicht zum Europäischen Markt. Der hat an den serbischen Exporterzeugnissen nur marginales Interesse, weil sie jederzeit durch die Erzeugnisse anderer Länder - auch aus der EU - substituierbar sind. Auf dem gegenwärtigen Niveau bleibt für Serbien der Export in die Länder des ehemaligen Jugoslawiens bedeutsamer. Die serbische Regierung scheint die Ausrichtung der serbischen Wirtschaft auf Importe und die Schwäche ihrer industriellen Basis als Problem erkannt zu haben und kündigt für die nähere Zukunft ein Programm zur Re-Industrialisierung Serbiens an. Hierfür sind Direktinvestitionen und Kapitalimporte erforderlich, die durch den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU sicherlich gefördert würden. Zugleich müsste die Re-Industrialisierung Serbiens von einer Reform ihres Ausbildungssystems (insbesondere der beruflichen Bildung) begleitet und ökologisch auf nachhaltiges Wirtschaften ausgerichtet werden.

Ökologische Märkte von morgen

Aktuell sind weder das serbische Bildungssystem noch die serbische Industrie auf die Märkte von morgen ausgerichtet. Das Bildungssystem produziert noch immer viel zu viele Abgänger ohne Schul- und Berufsabschluss. Vor allem sein System der schulischen Berufsausbildung krankt aufgrund seiner Praxisferne an einer mangelnden Ausrichtung auf die Märkte von morgen. Ein besonderes Kennzeichen der serbischen Industrie ist deren extrem hohe Energieintensität. Um einen Dollar des Sozialprodukts zu produzieren, benötigt die Serbische Industrie 2,5 mal so viel Energie wie die westeuropäischen Länder und immer noch zweimal so viel wie seine Nachbarn. Finanziert wird dies durch extrem hohe Subventionen auf den Energiepreis, der zu den niedrigsten in Europa gehört und nach Schätzungen der Weltbank um 40-80 Prozent gesteigert werden müsste, wenn er die Erzeugerkosten decken soll.

Die Subventionen werden auf 5-10 Prozent des Sozialprodukts geschätzt und entsprechen etwa dem Beitrag des Energiesektors zum Sozialprodukt.  Da sie die Produktionskosten der energieintensiven Exportindustrie niedrig halten, kommen sie einer Exportsubvention gleich und verhindern die Modernisierung der serbischen Industrie. Dies wird aus Sicht der EU aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht aufrechtzuerhalten sein. Vor allem aber nicht aus Sicht der EU Klimapolitik. Serbien hat den Vertrag der Europäischen Energiegemeinschaft unterzeichnet und muss damit die klima- und umweltpolitischen Rahmenbedingungen der EU einhalten.

Erforderlich ist also eine stetige Zurückführung der Subventionen durch Steigerung der Energiepreise in Verbindung mit einer gewaltigen Steigerung der Energieeffizienz der privaten Haushalte und der öffentlichen und privaten Wirtschaft und mit der Substitution der besonders energieineffizienten Braunkohlekraftwerke durch Steigerung der Ausbeute aus Wasserkraft und Biomasse, die durch die forstwirtschaftliche Erschließung bisher nicht genutzter Waldbestände erzeugt werden kann.

Das könnte zu einem Aufschwung der daniederliegenden serbischen Forstwirtschaft führen. Die größten Wachstumschancen hat Serbien jedoch im Bereich der biologischen Landwirtschaft, für die es in der Europäischen Union wachsende Nachfrage und auch Förderung gibt. Daneben entwickelt sich aktuell mit den Unternehmen der Automobilzulieferer, der Reifenindustrie und der Fiat-Produktionsstätte in Kragujevac eine serbische Automobilindustrie.

Serbiens Jugend – auf der Suche nach Arbeit und einer anderen Kultur der Mehr-Parteien-Demokratie

Serbien ist eine der am stärksten alternden Gesellschaften Europas. Seine Bevölkerung wird bis 2025 um etwa eine halbe Million oder 7 Prozent zurückgehen. Serbiens Wirtschaft verliert dadurch mehr qualifizierte Arbeitskräfte als im Bildungssystem neue gebildet werden können. Vielleicht noch dramatischer ist, dass die Aussichten auf eine schrumpfende Wirtschaft Serbiens Jugend, die heute bereits in hohem Masse arbeitslos ist, sich noch rascher von ihrem Land abwenden lassen: Mit einer Jugend, die zu mehr als der Hälfte ihr Land verlassen will, droht Serbien auch noch die Energien für Zukunftsentwürfe und die Kritik des Überkommenen zu verlieren. Und Erneuerung tut Not in Serbien.

Serbiens Jugend ist enttäuscht von der Entwicklung, die ihr Land in den letzten 10 Jahren genommen hat. Befragungen zeigen, dass sie das Wendejahr 2000, in dem Milošević abgewählt wurde, mit der Hoffnung auf einen westlichen Ländern vergleichbaren Emanzipationsprozess verband: psychische und räumliche Unabhängigkeit von den Eltern, bei denen sie aus wirtschaftlicher Not oft bis Mitte 30 und auch noch mit Partner und Kind leben, Verringerung des Einflusses des Herkommens auf die Zukunft durch sozialen Aufstieg nach Maßgabe eigener Leistungen in Schule, Ausbildung, Universität und Beruf.

Ein Jahrzehnt später ist Ernüchterung eingetreten: Immer noch entscheidet nicht die eigene Leistung über das Fortkommen, sondern die Familie und deren Beziehungsnetze – und die Parteien. Die Erwartung, dass eigene Leistungen das Fortkommen bestimmen sollten, wird nach wie vor geäußert, aber es dies eine tausendfach enttäuschte Erwartung. Dass dennoch immer wieder Berichte über den Widerspruch der herrschenden Ordnung zu den Erwartungen der Jugend auftauchen und Debatten über Wege zu einer durchlässigeren Gesellschaft mit fairen Regeln der Verteilung sozialer Chancen entstehen, dürfte zu den Hoffnungszeichen der Entwicklung der serbischen Gesellschaft gehören.

Denn hier zeichnet sich die Vorstellung einer gelingenden Individualisierung ab in einer Gesellschaft von Bürgern, die sich etwas zutrauen und die die individuelle Leistungsfähigkeit zum Maßstab für die Verteilung sozialer Chancen machen. Vorerst aber dominieren Familien und Parteien.

Die aktuell 91 registrierten Parteien in Serbien sind (vielleicht bis auf die zwei Ausnahmen: die nationalistische Radikale Partei (SRS) und die von ihr abgespaltene Progressive Partei (SNS) als Parteien der Transitionsverlierer, der armen Leute und der Verachtung der öffentlichen Korruption) keine ideologischen Formationen, die die Interessen bestimmter sozialer Schichten oder bestimmte Anliegen nach Wertvorstellungen voranbringen wollen. Es sind patriarchalisch wie Familien regierte Verbände zur Durchsetzung von Machtinteressen, die sich mit populistischen Parolen an alle Wähler zum Zweck des Stimmenerwerbs wenden und die ihre meist sehr große Mitgliedschaft in einem halb-feudalen System von Gefolgschaft und Herrschaft im öffentlichen Dienst oder in den öffentlichen Unternehmen auf Versorgungsposten unterbringen. Spitzenpositionen in politischer und allgemeiner Verwaltung und in öffentlichen Unternehmen werden zum großen Teil ohne öffentliche Ausschreibung und Bestenauslese besetzt. Die so in ihr Lehen eingesetzten Vasallen zeigen sich durch Abführungen an ihre Partei erkenntlich.

Es kann nicht verwundern, dass sich in diesem klientelistischen System kein Respekt vor den demokratischen Institutionen, die Parteien eingeschlossen, entwickeln kann. Die Parteien spüren, dass sich die Menschen von ihnen angewidert abwenden. Die Wahlbeteiligung liegt bei rund 30-45 Prozent. Deshalb versprachen alle Parteien in der letzten Wahlkampagne im Mai 2012, die parteipolitische Durchdringung des öffentlichen Dienstes zu begrenzen. Nichts davon ist seitdem geschehen. Serbiens öffentlicher Dienst umfasst heute immer noch rund 45 Prozent der Arbeitsplätze, zahlt höhere Gehälter und beutet den privaten Sektor aus. Aber den Anspruch bringen die Parteien nicht mehr aus der Welt, dass der öffentliche Dienst dem Gemeinwohl dienen und nicht die Gesellschaft ausbeuten soll. Es ist der Anspruch, Serbien von einer familien- und parteifamiliengesteuerten Gesellschaft zu einer dynamischen und aufstiegsoffenen Gesellschaft zu entwickeln.

Dazu gehört der Kampf gegen Korruption. Hier hat die aktuelle serbische Regierung besondere Anstrengungen angekündigt und bisher auch einige spektakuläre Schritte unternommen. Die Regierung wird von einer Koalition aus drei Wahlbündnissen gebildet: mit 24 Prozent Wählerstimmen stärkste Partei ist die konservativ bis nationalistische, jedoch pro-europäische Progressive Partei Serbiens. Deren Gründer Tomislav Nikolić hat sich 2008 mit einem pro-europäischen Kurs von der nationalistisch-anti-europäischen Serbisch Radikalen Partei des in Den Haag angeklagten Vojislav Šešelj getrennt.

Nikolić, der sich noch stolz als Cetnik bezeichnet und sich Šešelj familiär verbunden fühlt, ist heute Präsident Serbiens. Die Parteiführung hat er an Aleksandar Vučić abgegeben, der sich als Informationsminister unter Milošević durch die Unterdrückung unabhängiger Pressearbeit einen Namen gemacht hat. Er ist heute stellvertretender Ministerpräsident, Verteidigungsminister, Koordinator der Sicherheitsdienste und in der Regierung für den Kampf gegen die Korruption verantwortlich.

Den Ministerpräsidenten stellt die mit 15 Prozent Wählerstimmen kleinere Sozialistische Partei Serbiens, die Partei Miloševićs. Ihr heutiger Präsident Ivica Dačić war der Parteisprecher von Milošević. Mit 5,4 Wähleranteil kleinstes Mitglied der Koaalition ist die Union der Regionen Serbiens, deren Parteiführer der konservativ-wirtschaftsliberale Mlađan Dinkić ist, der heute wie schon seit rund 10 Jahren das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers bekleidet.

Im Dezember wurde der mutmaßlich reichste Tycoon Serbiens, Miroslav Miskovic, verhaftet und seitdem in Untersuchungshaft festgehalten. Tycoons heißen in Serbien Männer, die meist unter Milošević durch politische Privilegien Monopole aufbauen konnten und diese bis heute behalten haben. Zu ihnen gehört auch Misković. Noch gibt es keine Anklage und noch ist er nicht verurteilt. Sicher dürfte aber sein, dass Misković zur Riege der Tycoons gehört, die ihre Interessen durch große Zahlungen an die Parteien und durch die Kontrolle wichtiger Medien absichern.

Der Wahlerfolg der Serbischen Progressiven ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie ein Ende dieser Art von parteigestützter Korruption versprochen haben. Und wie es scheint, will ihre Parteiführung mit dieser Arbeit tatsächlich beginnen – auch wenn sie im Übrigen nicht daran denkt, die Parteienherrschaft über den öffentlichen Dienst und die öffentliche Unternehmen einzuschränken. Es bleibt abzuwarten, ob hier ein Tycoon eher symbolisch herausgegriffen wird, was die Anklage ihm tatsächlich vorwirft und ob sie dafür Beweise liefern kann. Dass Misković alle großen Parteien durch Zahlungen zu beeinflussen versucht hat, glauben in Belgrad alle. Gerade deshalb sind die meisten aber skeptisch, ob die Verwicklung von großem Geld und Parteien wirklich offengelegt und überwunden wird. Schließlich ist durchaus bemerkt worden, dass sich alle Parteien bis heute geweigert haben, die Finanzierung ihrer Wahlkampagnen im letzten Jahr gemäß Parteiengesetz offenzulegen. Bisher gibt es, trotz erfolgter Verhaftungen, nur die Ankündigungen der Korruptionsbekämpfung. Doch dies scheint der serbischen Öffentlichkeit schon zu genügen.

Die Popularität von Parteichef Vučić ist enorm hoch und gibt ihm das Ansehen eines Präsidenten neben dem gewählten Präsidenten. Diesem Populismus widersetzt sich die kritische serbische Zivilgesellschaft. Sie setzt ihre Hoffnungen auf wirksame regulatorische öffentliche Agenturen: Nationalbank, Anti-Korruptions-Agentur, Rechnungshof, etc. Das Ansehen dieser Institutionen beruht gerade auf ihrer Parteiferne. Ihr Handeln bildet keine Mehrheitsverhältnisse im Parlament ab, sondern ist an ihren Auftrag im Interesse des Gemeinwohls gebunden. Doch die formelle Einrichtung solcher Agenturen allein genügt nicht. Das zeigen die Zugriffe der Parteien auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn und  Rumänien. Wie gering auch in Serbien der Respekt vor diesen Agenturen ist, zeigt der Coup, mit dem die neue serbische Regierung trotz internationalen Protests im vergangenen Sommer die Statuten der serbischen Nationalbank änderte, um den amtierenden Präsidenten entlassen und ein Mitglied der Progressiven Partei an seine Stelle setzen zu können.

Nationaler Staat oder moderner Staat – die Verhandlungen mit dem Kosovo

Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 ist Serbien wieder ein weitgehend ethnisch homogener Staat. Rund 90 Prozent seiner Bevölkerung sind Serben, Ungarn mit knapp 4 Prozent, Bosniaken mit rund 2 Prozent und Roma mit etwa 1,5 Prozent machen die größten Minderheiten aus. Zu den kleineren Minderheiten (0,8 Prozent) gehört die Gruppe der Albaner, die mit rund 60.000 Menschen vor allem im Süden Serbiens lebt. Als Serbien 1912 im Balkan-Krieg das Kosovo eroberte, verwandelte es sich von einem ethnisch homogenen in einen multiethnischen Staat.

Seine Politik gegenüber den Kosovo-Albanern blieb jedoch über mehr als 80 Jahre monoethnisch serbisch. Serbien wollte ein nationaler Staat bleiben. Daran und an der damit verbundenen Unterdrückung der albanischen Mehrheit im Kosovo ist Serbien gescheitert. Seitdem ist das Land auf der Suche nach seiner staatlichen Identität: Will es weiterhin ein nationaler Staat bleiben, der die Interessen einer ethnischen Mehrheit als Staatsinteresse definiert? Oder macht es sich auf den Weg zu einem modernen Staat, der die Interessen seiner Bevölkerung nach menschenrechtlichen und demokratischen Standards verfolgt? Die Antwort auf diese Frage wird nicht zuletzt in den Verhandlungen Serbiens mit dem Kosovo entschieden.

Seit Jahren hat die serbische Politik die sogenannte Kosovo-Frage dramatisiert und zur Frage über Sein oder Nichtsein der Serben stilisiert. Währenddessen leiden die Menschen in Serbien unter Korruption, De-Industrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Außer der nationalen Frage hatte die serbische Politik ihnen nichts zu bieten. Und da eine Rückeroberung des Kosovo nicht möglich erschien, blieb als einzige „Lösung“ dieser Frage die Teilung. Der Norden mit serbischer Mehrheit (geschätzt 30.000 - 35.000 Serben) soll vom albanischen Kosovo abgespalten werden. Diese „Lösung“ wird jedoch von der albanischen Mehrheit und von Europäischer Union und USA mit Blick auf die unabsehbaren Folgen im Balkan abgelehnt. Kosovo hat, gegen starke interne Widerstände, den Plan des finnischen Vermittlers Ahtisaari akzeptiert und zur Grundlage seiner Verfassung gemacht. Dieser Plan gibt der serbischen Minderheit weitgehende Autonomierechte und kulturellen Schutz. Darüber hinaus will die Regierung des Kosovo nicht gehen, weil sie befürchten muss, dass die Serben im Norden exekutive oder gar legislative Rechte nach dem Vorbild der Republika Srpska, der serbischen Entität in Bosnien-Herzegowina, zur Obstruktion des Gesamtstaates einsetzen werden.

Bewegung ist in die Kosovo-Frage gekommen, weil die Europäische Union heute von einer geänderten strategischen Einschätzung ausgeht. Sie glaubt nicht mehr, dass es in Serbien mit den Pro-Europäern und den Nationalisten zwei gleichstarke politische Lager gibt und dass man die Pro-Europäer nicht mit weitgehenden Forderungen der Anerkennung eines unabhängigen Kosovo überfordern und damit den Nationalisten in die Hände spielen dürfe. Eine nüchterne Analyse der mit dem Slogan „Europa und Kosovo“ betriebenen Politik der vergangen Jahre zeigt, dass die eine Seite gar nicht pro-europäisch war, sofern man darunter die Bereitschaft zur Normalisierung der Beziehungen Serbiens zu den Nachbarn versteht.

So muss man erkennen, dass Serbien mit Hilfe seiner besonderen Beziehungen zur Republika Srpska seit vielen Jahren eine funktionierende Staatlichkeit in Bosnien-Herzegowina unterminiert hat. Auf der anderen Seite erkennt die Europäische Union, dass die vermeintlich nationalistische Seite, seit sie die Regierung stellt, offenbar zu mehr Aktivität und Kompromissen bereit ist, als ihr zugetraut wurde.

Bemerkenswert ist, dass auch die serbische Regierung sich heute vorsichtig neu orientiert: sie beruft sich ausdrücklich nicht mehr auf das „Vorbild“ der Republika Srpska und sie stellt die Frage, ob die Dominanz der nationalen Frage wirklich im Interesse der serbischen Bevölkerung ist, ob also nicht die ökonomische Entwicklung durch Annäherung an die Europäische Union die viel wichtigere Frage ist als die Verteidigung nationaler Interessen, die nicht zu verteidigen sind.

Noch ist nicht abzusehen, worauf die Verhandlungen hinauslaufen. Aber dass die serbische Regierung sich auf den Weg gemacht hat, sich vom lähmenden Selbstbetrug der letzten 10 Jahre („Kosovo gehört Serbien“) zu befreien und Lösungsvorschläge anzubieten, die über die bisherige Politik des nationalen Interesses hinausgehen und die Frage der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen anspricht, ist ein großer Fortschritt. Die Kosovo-Frage verliert für die serbische Politik den Status einer nationalen Selbstvergewisserung, den sie vor und während der Zeit von Milošević hatte. Damals herrschte ein ethnizistischer Pseudo-Demokratismus, der durch das angeblich tabulose Aussprechen der „Wahrheit über die katastrophale Situation der Serben im Kosovo“ die Abkehr vom Kommunismus einleitete. Die Kosovo-Frage ersetzte in Serbien den demokratischen Aufbruch von 1989 in anderen ehemals kommunistischen Ländern. Heute scheint sie eher als Hindernis für den Aufbruch nach Europa wahrgenommen zu werden, und zwar als ein extrem teures Hindernis, das von Serbien mit rund 200 Millionen EUR im Jahr subventioniert wird.

Vorerst sind nur Tendenzen einer neuen serbischen Politik sichtbar. Unumkehrbar ist diese Politik nicht. Ihr stehen gewichtige Kräfte entgegen: die Wähler und die Opposition. Von ihr kommt heftiges Störfeuer, weil sie aus Überzeugung oder taktischem Kalkül der serbischen Regierung um keinen Preis eine „Lösung“ der Kosovo-Frage und einen weiteren Schritt in Richtung Europäische Union gönnt. Die Opposition droht mit Neuwahlen. Gehen die Kompromisse zu weit, hätte vor allem der Verhandlungsführer, Ministerpräsident Dačić, den Preis zu zahlen.

Anders dagegen die Argumentation von Parteichef Vučić, der aufgrund seiner hohen Popularitätswerte von Neuwahlen am meisten profitieren würde: Für ihn wären Neuwahlen dann gerechtfertigt, wenn mit ihnen über das Ergebnis der Kosovo-Verhandlungen und den nächsten Schritt in Richtung Europäische Union abgestimmt würde. Sollte es tatsächlich dahin kommen, dass Vučić seine Popularität in den Dienst einer demokratischen Entscheidung zugunsten Europas stellt, käme ihm das Verdienst zu, den demokratischen Aufbruch nach Europa durch Verabschiedung der Kosovo-Frage eingeleitet zu haben. Bis dahin scheint es noch ein gutes Stück Weg.