Revolutionäre zwitschern (noch) nicht

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Keine Twitter-Revolution: Der Arabische Frühling fand auf der Straße statt und nicht in den sozialen Netzwerken. Foto: Lorenz Kazaleh; Quelle: Flickr; Lizenz: CC-BY-NC-SA

20. Dezember 2012
Thomas Uwer
Welche Nachricht möchten Sie zuerst hören – die gute oder die schlechte? Fangen wir mit der guten Nachricht an: Es gibt keine Twitter-Revolution in den arabischen Staaten. Die arabische Bloggerszene, die mit ihren Tweets und Facebook-Einträgen aus Tunis und Kairo die westliche Presse für kurze Zeit elektrisiert hat, war vielmehr nur der sichtbare, oder besser: lesbare Ausdruck einer ganz materiellen Wahrheit, die so alt ist, wie die Geschichte der Herrschaft weniger über viele. Sie lautet, dass Menschen nicht gerne unterdrückt werden, nicht gerne in Armut leben und ihre Kinder nicht gerne um ihre Zukunft gebracht sehen. Armut, Unfreiheit und mangelnde Bildungschancen sind genauso wie staatliche Gewalt, Korruption und Rechtlosigkeit umso unerträglicher, je offensichtlicher es den Betroffenen wird, dass es auch anders geht. Deshalb folgten, als die Demonstrationen in Tunesien Erfolg zeigten, solche in Ägypten, Bahrain, Libyen und Syrien, ohne dass es dazu auch nur eines Tweets bedurft hätte.

Davon, dass der arabische Frühling längst überfällig war, zeugen seit Jahren die ernüchternden Entwicklungsdaten der Region. Nicht nur die ökonomischen: Alle Indikatoren der »Arab Human Development Reports« des UN-Entwicklungsprogramms UNDP weisen auf eine eklatante gesellschaftliche Unterentwicklung der meisten Staaten des Maghreb (Nordafrika) wie auch des Mashreq (arabischer Naher Osten) hin. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen sind große Teile der Bevölkerung von Rechten, Wohlstand und Bildung abgeschnitten.

In kaum einer Region der Welt werden weniger Bücher veröffentlicht oder übersetzt wie in der arabischen Welt. Zeitungen und Fernsehsender werden in den meisten Ländern entweder gleich staatlich kontrolliert oder unterliegen der Zensur. Und von den mitunter erheblichen Investitionen in westliche Hochtechnologien kommt beim Gros der Bevölkerung praktisch nichts an. Mehr als Twitter und Facebook waren es in Tunesien die allabendlichen Bilder des staatlichen Fernsehens von der fröhlich winkenden Ben-Ali-Familie, die mit ihren Privatjets aus Paris und London vom Shopping heimkehrten, die noch in den letzten Winkel des Landes eine Ahnung von jenem Leben transportierten, das den Menschen vor Ort verwehrt blieb.

Den Sieg haben die Menschen auf der Straße errungen

Zur Revolution in der arabischen Welt gehört schließlich auch die Krise der arabischen Regierungen selbst, deren Eliten so lange von jeder (nicht-islamistischen) Opposition verschont waren, dass ihnen der Gedanke gar nicht kam, der Wunsch der Menschen nach einem besseren Leben könnte ihnen tatsächlich gefährlich werden. Daher rührte die Überforderung der Staatsapparate, die es doch gewohnt waren, bewaffnete Aufstände gewaltsam niederzuschlagen. Zuletzt waren es oft die Militärs, die begriffen, dass es wie bisher nicht weitergehen kann. Sie und die vielen Tausend Menschen, die allen Drohungen zum Trotz auf die Straße gingen und dabei ihr Leben riskierten, haben den Umsturz vollzogen – ganz materiell und ohne Internet. Der Arabische Frühling ist der ihre, nicht derjenige von Facebook oder Twitter.

Damit ist aber auch die schlechte Nachricht bereits angedeutet. Sie lautet wie die gute: Es gibt keine Twitter-Revolution in der arabischen Welt. Denn schon auf dem Tahrir-Platz in Kairo hat sich gezeigt, dass die jungen Bloggerinnen und Blogger, die ihren Protest im Internet posten, nicht die Masse wütender Menschen stellen, die erst in der Lage sind, ein bis vor kurzem als stabil geltendes Regime zu stürzen. Dass dem so ist, hat viel mit der beschriebenen gesellschaftlichen Realität zu tun. Das Gros der Menschen, um deren Freiheit es geht, sind keine Intellektuellen, sondern verstädterte Bauern, Niedriglöhner oder kleine Händler – und die große Masse der von ihnen abhängigen Familien. Genau darauf begründet sich indes ihre ganz konkrete, materielle Gewalt: dass sie keine intellektuelle Minderheit sind. Dies hat zwischenzeitlich auch die Gegenseite erkannt. Und nicht nur das.

Als im März 2011 auch im Geheimdienststaat Syrien die Menschen auf die Straße gingen, zeigte sich schnell, wie weit der Weg ist vom wohlwollenden Klick europäischer und amerikanischer Beobachter auf den »Gefällt mir«-Button hin zur konkreten Unterstützung des Aufstands. Das Regime Bashir al-Assads hat von Anfang an darauf gesetzt, dass auch dieser Kampf nicht mit Tweets, sondern mit Gewehrkugeln gewonnen wird. Im Unterschied zu einst kann dies aber nicht mehr unbeobachtet geschehen. Als Hafiz al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, die Stadt Hama 1982 bombardieren ließ, um einen Aufstand niederzuschlagen, und zwischen 20.000 und 30.000 Menschen ums Leben kamen, drang praktisch keine Information nach außen. Das ist, wie die Bilder aus Aleppo und anderen Städten täglich zeigen, heute unmöglich.

Arabischer Blogger aber haben das Bild ihrer Gesellschaft verändert

So gibt es zwar keine Twitter-Revolution in der arabischen Welt. Die Rolle, die dem Internet und Mitteilungsdiensten wie Twitter bei der Vermittlung der arabischen Revolution nach außen zukommt, ist gleichwohl enorm. Wichtiger als die Verbreitung von Informationen, die in geschlossenen Gesellschaften wie Syrien zuvor unterdrückt wurden, ist hier, dass es den arabischen Bloggerinnen und Bloggern gelungen ist, die Wahrnehmung ihrer Gesellschaften im Westen grundlegend zu verändern. Mitteilungsdienste und soziale Netzwerke haben eine einfache internationale Sprache geschaffen, die jeder versteht.

Um nachzuvollziehen, worum es einer twitternden Studentin aus Kairo geht, bedarf es daher keines interpretierenden Nah-Ost-Experten mehr. Ihr Wunsch nach Freiheit, mehr Rechten und nach Gleichberechtigung der Geschlechter ist jedem unmittelbar und ohne politische Übersetzungsleistung verständlich. Die möglicherweise historische Leistung liegt darin, das Bild von der willenlosen »arabischen Straße« revidiert zu haben. Und damit auch die bequeme und lange Zeit kolportierte Annahme, die Diktatur sei die den »arabischen Massen« adäquate Regierungsform.

Mit dem Wandel der Wahrnehmung von außen geht zugleich auch ein Wandel im Inneren arabischer Gesellschaften vonstatten. Die jetzigen Auseinandersetzungen sind nicht der Schlusspunkt des Umbruchs in der arabischen Welt, sondern erst ihr Beginn. Eine Entwicklung arabischer Gesellschaft hin zur Demokratie wird dabei fraglos mehr erfordern, als den Umsturz bestehender Herrschaftshäuser. In den meisten arabischen Autokratien bedarf es dazu vor allen Dingen der Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die in der Lage ist, Partizipationsrechte einzufordern und auch umzusetzen. Dabei wiederum spielt eine neue Generation junger und bildungsinteressierter Menschen eine entscheidende Rolle.

In Ländern wie dem Libanon, Tunesien und Ägypten, ja selbst im Irak, ist in den vergangenen Jahren eine bunte und engagierte Szene von Nichtregierungsorganisationen entstanden, die es sehr wohl versteht, neue Medien für sich zu nutzen. Im Kampf gegen häusliche Gewalt an Frauen und Mädchen oder gegen weibliche Genitalverstümmelung existiert ein aktives Netzwerk, das den behäbigen Honoratioren-Konferenzen der Vereinten Nationen längst vorgemacht hat, wie wirkungsvolles Engagement aussehen kann.

Internet und neue Medien leisten hier wichtige Dienste. Sie sind zugleich aber auch Instrumente, die sich selbst verändern und demokratisieren müssen. Denn keineswegs ist die arabische Welt im Internet unterrepräsentiert. Bislang gehört das Netz aber vor allem nationalistischen Schreihälsen und islamistischen Waldfrevlern. Die wachsende Zahl der Internetnutzerinnen und –nutzer innerhalb arabischer Gesellschaften könnte auch dies bald ändern.


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Thomas Uwer, Jurist, ist seit vielen Jahren Mitarbeiter und Vorstandsmitglied der Hilfsorganisation WADI, die im Vorderen Orient aktiv ist. Daneben ist er Autor von Zeitschriften- und Buchbeiträgen vor allem zu Themen des Nahen Ostens. Hauptamtlich arbeitet er im Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen.

 

Magazin

Böll.Thema 3/2012: Grenzenlos vernetzt

Dieser Artikel ist Teil von Böll.Thema 3/2012 "Grenzenlos vernetzt - Chancen und Risiken für die Demokratie". Wie bereits im Heft 2/2012 geht es um digitale Demokratie, diesmal erweitert um die internationale Perspektive. Einige Beiträge gehen der Frage nach, inwiefern das Netz zur Demokratisierung und Teilhabe beitragen kann. Mit Beiträgen u.a. von Evgeny Morozov, Kirsten Fiedler, Markus Beckedahl, Katrin Zinoun, Markus Reuter, Anne Roth, Falk Lüke, Ute Straub, Jeppe Rasmussen, Malte Spitz, Marisa Elisa Schlacher und Robin Geiß.