Indien: Die Beziehung Myanmar - Indien aus Sicht des ehemaligen indischen Botschafters

Indiens Politik gegenüber Myanmar wird sehr oft falsch verstanden. Indien befindet sich hier in einer Zwickmühle, bewegt sich in einem Teufelskreis. Gleich welche Maßnahmen Indien ergreift, immer werden viele Menschen in Indien oder im Ausland aus unterschiedlichen Gründen etwas daran auszusetzen haben. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu und aus Asien.

Indiens Politik gegenüber Myanmar wird sehr oft falsch verstanden. Indien befindet sich hier in einer Zwickmühle, bewegt sich in einem Teufelskreis. Gleich welche Maßnahmen Indien ergreift, immer werden viele Menschen in Indien oder im Ausland aus unterschiedlichen Gründen etwas daran auszusetzen haben. Das Folgende ist also ein Versuch, zu erklären, warum Indien das tut, was es tut – nämlich strategisch und vorbeugend zu verhindern, dass der Nachbarstaat Myanmar von Dritten als Werkzeug dafür benutzt wird, Indien Schwierigkeiten zu bereiten. Zu dieser Haltung kam es infolge unausweichlicher Sachzwänge.

Cover Perspectives Asien

Perspectives Asien ist eine Publikationsreihe, die einem deutschen und europäischen Publikum asiatische Perspektiven vorstellt, Analysen zu globalen Trends liefert sowie vertiefte Einblicke in die Entwicklungen und politischen Debatten in Asien gibt. 

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Myanmars grenzt über eine Strecke von 1.463 km an mehrere Bundesstaaten im Nordosten Indiens an, Bundesstaaten, die innerhalb Indiens abgelegen und weit vom Zentrum des Landes entfernt sind, was Myanmar für Indien eine sehr große strategische Bedeutung verleiht. Durch diese geografische Situation kann Myanmar, ob gewollt oder nicht, zum Ausgangspunkt für Angriffe auf Indien werden – oder aber zu einem natürlichen Puffer, der Indien in dieser strategisch sehr bedeutsamen Region vor seinem wichtigsten Kontrahenten schützen kann, der Volksrepublik China.

Die Innen- und Außenpolitik Myanmars kann in hohem Maße mehrere sehr bedeutende strategische Interessen Indiens berühren, als da sind:

  1. Den Schutz des indischen Staatsgebiets im Nordosten des Landes
  2. Das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung im abgelegenen Nordosten Indiens
  3. Die Beendigung mehrerer seit langem bestehender Aufstandsbewegungen in den nordöstlichen Staaten
  4. Indiens strategische Interessen im Indischen Ozean, im Golf von Bengalen sowie die Sicherheit der Andamanen und Nikobaren
  5. Mit seinen großen Erdgasvorkommen ist Myanmar für Indien potenziell ein Energielieferant
  6. Im Rahmen von Indiens „Look East“-Politik bildet Myanmar die einzige Landbrücke zwischen Indien und den Staaten Südostasiens
  7. Chinas Bestrebungen in Südostasien

Abgesehen von der Notwendigkeit guter bilateraler Beziehungen, sind auf Dauer die beiden Hauptziele Indiens hinsichtlich Myanmars folgende:

Erstens geht es darum, das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung der nordöstlichen Bundesstaaten Indiens voranzutreiben, da sie ansonsten langfristig weder sicher noch stabil sein werden. In wirtschaftlicher Hinsicht ist es sehr viel sinnvoller, wenn diese Bundesstaaten im Nordosten ihre Konsumgüter und andere Bedarfe des täglichen Lebens aus und über Myanmar beziehen, als diese auf langen, teuren, umständlichen und zeitraubenden Wegen aus anderen Teilen Indiens zu liefern. Diese Bundesstaaten und der Norden Myanmars bildeten über lange Zeit eine natürliche Wirtschaftzone, und ein wesentlicher Faktor in Indiens Politik gegenüber Myanmar bestand darin, diese für beide Seiten vorteilhafte Situation wieder herzustellen. Gegenwärtig ist Indien, abgesehen vom Bereich der fossilen Brennstoffe, für Myanmar das wichtigste Exportland und sein viertwichtigster Handelspartner – wenn auch weit abgeschlagen hinter den beiden anderen Nachbarstaaten, Thailand und China.

Zweitens geht es darum zu verhindern, dass Myanmar, hinsichtlich Chinas Indien-Politik, zu einer Art Satellitenstaat der Chinesen wird.

Vier von Indiens labilen, von Aufständen geplagten nordöstlichen Bundesstaaten liegen in einem Gebiet zwischen China, Bangladesch und Myanmar. Mit Myanmar habe sie eine 1.463 km lange, sehr durchlässige Grenze. Zu diesen Bundesstaaten gehört Arunachal Pradesh, der größte und am dünnsten besiedelte der sieben nordöstlichen Staaten Indiens. China erhebt Ansprüche auf dieses Gebiet, und es hat eine Grenze von 1.125 km mit China.

Von allen südasiatischen Nachbarstaaten Indiens hat China der größten Einfluss auf Myanmar. Das Verhältnis Chinas zu Myanmar findet auf zahlreichen Ebenen statt und ist sehr umfassend.

a)    Myanmars Wirtschaft vernetzt sich immer stärker mit der Chinas. Das Land wird von billigen chinesischen Waren überschwemmt, seine Holzvorkommen nach China exportiert. China beherrscht auch die Exploration von Öl- und Gasfeldern und baut zahlreiche Infrastrukturen und Wasserkraftwerke im Land.

b)    China hat in Myanmar Infrastrukturen entwickelt, die für es von sowohl strategischer als auch wirtschaftlicher Bedeutung sind. Dazu gehören Häfen, Gaspiplines und Stromnetze, durch die die Region Yunnan mit dem Indischen Ozean am Golf von Bengalen verbunden wird.

c)    Seit 1988 ist China ein Hauptverbündeter Myanmars und hat das Land durch seine diplomatischen Anstrengungen vor internationalen Strafaktionen geschützt.

d)    China ist der wichtigste Waffenlieferant Myanmars.

e)    Allgemein geht man davon aus, dass aktuell über zwei Millionen Chinesen in Myanmar leben. Mandalay ist heute eine im wesentlichen chinesische Stadt, und auch Kleinunternehmen befinden sich zunehmend im Besitz von Chinesen.

Im Hinblick auf alle der oben genannten sieben Faktoren ist China demnach in der Lage, in einer Art zu agieren, die enorme strategische Folgen für Indien hat. Sollte China die absolute Vorherrschaft in Myanmar erringen, wären die nordöstlichen Bundesstaaten Indiens von China eingekreist, und Chinas Grenze würde de facto bis zum Golf von Bengalen reichen. Sollte sich das Verhältnis zwischen China und Myanmar in dieser Art entwickeln, wäre Indiens nationale Sicherheit, das Wohl des Landes sowie die Rolle, die es zukünftig in Asien spielen wird, abhängig von Chinas strategischen Plänen und Absichten. Es ist für Indien deshalb entscheidend, eine totale chinesische Dominanz in Myanmar zu verhindern, durch die das Land ganz zum Werkzeug der strategischen Interessen Chinas würde.

Diese übergreifenden Gründe beeinflussen Indiens Politik gegenüber Myanmar, und da sie von der Geografie bestimmt werden, wird sich daran auch nichts ändern. Indien bleibt demnach nichts übrig, als aktiv mit Myanmar zusammenzuarbeiten, ganz gleich welche Regierungsform das Land hat.

Als Indien 1947 unabhängig wurde, wählte es die Demokratie als Regierungsform, und obgleich die sozio-ökonomische Lage dafür nicht günstig war, ist es dem Land seither gelungen, diese Regierungsform aufrechtzuerhalten – eine seltene Ausnahme innerhalb der Dritten Welt. Indien ist stolz darauf, die größte Demokratie der Welt zu sein, und würde es gerne sehen, wenn anderen Staaten gleichermaßen gesegnet wären.

Unterstützt man jedoch aktiv Demokratiebewegungen in anderen Staaten, kann dies kontraproduktiv sein. Indien hat dies einmal versucht, pikanterweise in Myanmar, und es hat einen hohen Preis dafür gezahlt. Zwischen 1988 und 1991 hat Indien als einziger Nachbarstaat Myanmars das Militärregime und seine brutalen Unterdrückung demokratischer Kräfte scharf kritisiert; Indien hat Befürworter der Demokratie in Rangun unterstützt und Flüchtlingslager in Manipur und Mizoram eingerichtet, in denen Aktivisten aufgenommen wurden und wo ihnen gestattet wurde, ihre Ansichten uneingeschränkt öffentlich zu machen. Der Sender All India Radio, der dem indischen Staat gehört und von ihm betrieben wird, strahlte Tiraden der Tochter U Nus aus, in denen sie die Junta in Myanmar in klaren, teils sogar beleidigenden Worten angriff. Indien hatte hier eine viel klarere Position als die meisten anderen Nachbarstaaten. Die Junta war sich auch darüber bewusst, dass Aung San Suu Kyi lange zurückreichende, starke Verbindungen nach Indien hatte. Indiens Bemühungen haben aber weder ihr, noch der Sache der Demokratie geholfen – die Unterdrückungsmaßnahmen wurden nur noch schärfer. Die Haltung Indiens sowie die Kritik und Sanktionen des Westens trieben das Militärregime seinem traditionellen Feind, China, in die Arme. Zumindest zeitweise war Indien das dem Regime am meisten verhasste Land. China nutzte dieses unverhoffte Geschenk und streckte rasch seine Tentakel aus, um in Myanmar in ganz neuem Maß Zugang zu Rohstoffen zu erhalten und das Land auch auf vielen anderen Ebenen entscheidend zu beeinflussen.

Zu Aufständen kam es in den nordöstlichen Bundesstaaten Indiens zuerst Mitte der 1950er Jahre. Aktiv unterstützt wurden sie von Pakistan (über das damalige Ost-Pakistan) und später, über das Staatsgebiet von Myanmar, stärker noch von China. Da Birma, wie das Land seinerzeit hieß, mit zahlreichen Aufständen im eigenen Land beschäftigt war, konnte es dagegen nicht viel unternehmen. Und nachdem Indien 1988 damit begonnen hatte, die Junta scharf zu kritisieren und die Kräfte der Demokratie im Land zu unterstützen, stellte sich die Frage, ob Myanmar Indien helfen sollte, nicht mehr.

Dies ist der Hintergrund vor dem Indien 1993 gezwungenermaßen beschloss, seine Politik zu ändern, und mit dem Militärregime in Dialog zu treten. Im Rahmen der „Operation Golden Bird“ im Jahre 1995 arbeiteten die Armeen Indiens und Myanmars so eng zusammen wie nie zuvor. Die 57. Indische Gebirgsdivision hatte seinerzeit eine Einheit von 200 Aufständischen aus unterschiedlichen Gruppen (NSCN, ULFA sowie Aufständische aus Manipur) lokalisiert, die in Bangladesch, am Golf von Bengalen in der Stadt Cox’s Bazar, eine umfangreiche Waffenlieferung in Empfang genommen hatte und die sich entlang der Grenze Myanmars in Richtung Manipur bewegte. Die Truppen aus Indien und Myanmar nahmen diese Rebellen nun gemeinsam in die Zange. Die Militärjunta Myanmars brach die Operation ab, die Aufständischen konnten entkommen.

An den Spitzen sämtlicher Parteien Indiens, unter Akademikern, in der Zivilgesellschaft und in den Medien gab es immer schon zahlreiche Unterstützer Aung San Suu Kyis, was mit ihren engen Verbindungen nach Indien zusammenhängt. Bis heute leben in Indien Hunderttausende birmanischer Flüchtlinge und Dissidenten. Der Umschwung in Indiens Außenpolitik ereignete sich gegen den Willen des politischen Establishments auf Druck von Außenministerium und Armee, die Indiens „nationale Interessen“ betonten. K.R. Narayanan, ein vormaliger Mitarbeiter im Außenministerium, der u.a. als Indiens Botschafter in China und den USA gedient hatte, wurde 1992 Vizepräsident und schließlich 1997, für eine Amtszeit von fünf Jahren, Präsident Indiens. Narayanans Frau war Birmanin, und es lag vor allem an diesen beiden, dass Aung San Suu Kyi der Nehru Award verliehen wurde.
Von 1998 bis 2004 war George Fernandes Indiens Verteidigungsminister. Als Mann mit ausgeprägten Überzeugungen gewährte er zahlreichen birmanischen Demokratieaktivisten Exil, teils sogar in seinem eigenen Haus, was das indische Außenministerium in Schwierigkeiten brachte und ausgesprochen erzürnte. In ihren ersten Jahren erlebte so die Politik der Annäherung an Myanmar turbulente Zeiten. Erst in den vergangenen sechs, sieben Jahren wurde diese Politik von der Regierung stärker forciert, vor allem mit dem Ziel, Chinas Einfluss in Myanmar einzudämmen. Das hat dazu geführt, dass Indien sich mittlerweile in Myanmar auch an Projekten wie dem Bau von Straßen und Bahnstrecken beteiligt, sowie an der Exploration von Öl- und Gasfeldern, Wasserkraftwerken, dem Ausbau von Häfen, wozu noch technische Unterstützung im Ausbildungswesen, im IT- und im Bildungsbereich kommt. Ziel all dieser Maßnahmen ist es, Indiens Einfluss auszubauen. Da auch Myanmar über den steigenden Einfluss Chinas im Lande besorgt ist, begegnet man den indischen Initiativen aufgeschlossen.

Wegen der erwähnten geopolitischen Sachzwänge gibt es für Indien keinen Grund, sich für seine Politik gegenüber Myanmar zu schämen. Der Dialog, den Indien und Asean mit Myanmar geführt haben, hat vielmehr dazu geführt, dass das Land nicht ganz unter die Kuratel Chinas gekommen ist. In Verbindung mit der wachsenden Sorge Myanmars über Chinas immer unverschämteren und ausbeuterischen Umgang mit der birmanischen Wirtschaft und den natürlichen Ressourcen des Landes, hat auch die Politik Indiens und Aseans sowie die Hoffnung, die internationalen Sanktionen könnten aufgehoben werden, erheblich dazu beigetragen, dass sich die Lage in Myanmar so ausgesprochen positiv entwickelt hat, wie gegenwärtig zu beobachten.

Indien ist offensichtlich mit den derzeitigen Entwicklungen in Myanmar sehr zufrieden und sieht die Ereignisse seit den Wahlen vom November 2010 ausgesprochen positiv. Es ist zu vermuten, dass der moralische Zwiespalt, der lange Indiens Beziehungen zu Myanmar prägte, nun von selbst verschwindet. Ohne zu sehr über Einzelheiten zu spekulieren, ist doch davon auszugehen, dass sich die Beziehungen zwischen Indien und Myanmar in Zukunft besser entwickeln und enger werden als gegenwärtig oder überhaupt je der Fall. Das zeigt sich auch an den offiziellen indischen Reaktionen auf die Entwicklungen in Myanmar. Im November 2010 veröffentlichte der indische Außenminister eine Stellungnahme, in der er die „Freilassung von Daw Aung San Suu Kyi begrüßte“ und der Hoffnung Ausdruck gab, dies werde „der Anfang eines Prozesses der Aussöhnung mit Myanmar“ sein. Weiter hieß es: „Die Wahlen, die vor Kurzem in Myanmar stattfanden, sind ein wichtiger Schritt der Regierung von Myanmar in Richtung eines Prozesses der nationalen Aussöhnung. Wir haben sie stets dazu ermutigt, diesen Prozess auf breiter Grundlage und ganzheitlich voranzutreiben.“
Indien „begrüßte die erfolgreiche Durchführung der Nachwahlen in Myanmar, die am 1. April 2012 stattfanden. Die bislang offiziell verkündeten Ergebnisse zeigen, dass Daw Aung San Suu Kyi die National League of Democracy (NLD) zu einem überwältigenden Wahlsieg geführt hat. Die NLD hat nach Stand der Auszählung von den 45 Sitzen, die zur Wahl standen, bislang 40 gewonnen. Wir gratulieren Daw Aung San Suu Kyi und der National League of Democracy dazu aufs Herzlichste. Diese Wahlen sind ein Meilenstein auf dem Weg von Myanmars Wandel zu einer Mehrparteiendemokratie.“

Im Jahr 2011 besuchten der Präsident Myanmars, der Außenminister, eine hochrangige Delegation von Abgeordneten sowie der Sprecher des Unterhauses Indien. Indiens Außenminister war im Jahr 2011 auf Staatsbesuch in Myanmar, und der Premierminister wird, erstmals nach 25 Jahren, im Mai 2012 erwartet.

B. Ein indischer Blickwinkel auf Art und Hintergründe des politischen Wandels in Myanmar

Indien hält sich, was offizielle Verlautbarungen zu internen politischen Positionen und Entwicklungen in anderen Staaten angeht, sehr bedeckt. Um diesem Problem zu begegnen, gibt dieser Teil meines Essays eine persönliche, wenn auch indische, Interpretation der Natur und der Hintergründe des politischen Wandels wieder, der sich in Myanmar ereignet. Die kursiv gesetzten Passagen sind meine persönliche Deutung davon, wie das Establishment Indiens diesen politischen Wandel sieht. Dieser zweite Teil des Essays sollte als Ergänzung zum ersten Teil verstanden werden, in dem ich einen Überblick der indischen Myanmar-Politik gegeben habe. Da im Westen und in Indien die innere politische Dynamik in Myanmar sehr unterschiedlich wahrgenommen wird, hoffe ich, dass dieser Essay in seiner Gesamtheit Einblicke dazu geben kann, wie Indien im Großen und Ganzen sein Verhältnis zu Myanmar sieht – etwas, das für Beobachter und Analysten im Westen von Interesse sein dürfte.

Zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten sieht die Welt aus positiven Gründen auf Myanmar. Will man die Gegebenheiten vor Ort im Myanmar von heute beurteilen, ist es sinnvoll, keine Werturteile über die Natur der früheren politischen Zustände oder über die Natur der gegenwärtigen politischen Entwicklung abzugeben, und man sollte darauf verzichten, über die weiteren Entwicklungen zu spekulieren. Ein objektiver Vergleich der Lage seit Antritt der neuen Regierung im April 2011 mit den Zuständen während eines Großteils der vergangenen zwei Jahrzehnte deutet darauf hin, dass die Prozesse der Veränderung, die aktuell stattfinden, einen atemberaubenden, vor Kurzem noch unvorstellbaren Wandel bedeuten.

Die vorherige Regierung


Der „Staatsrat für Frieden und Entwicklung” (SPDC), wie sich die an der Macht befindliche Militärjunta seit 1997 nannte, war zur Verkörperung des Staates geworden und wurde, bis zu seinem Rücktritt und der Auflösung des SPDC am 30. März 2011, von seinem Vorsitzenden, General Than Shwe, personifiziert. Die ganze Macht des Staates lag faktisch in den Händen von Than Shwe, der Regierung und Politik vollkommen dominierte. Er war ein unnachgiebiger und unmissverständlicher Vertreter einer despotischen, starken Zentralregierung, die sämtliche Aspekte des Lebens der Bürger von Myanmar direkt wie umfassend in der Hand hatte. So, kurz gefasst, die Lage in Myanmar in den zwei Jahrzehnten bevor die neue Regierung im April 2011 die Amtsgeschäfte antrat.

Die Struktur der neuen Regierung

In der neuen Regierung Myanmars ist die Macht auf mehrere Pole verteilt, nämlich auf den Präsidenten, der der Exekutive vorsteht, auf das Militär, auf das Parlament und auf die Partei – und all dies im Rahmen der Verfassung des Landes. Die Verfassung, das Amt des Präsidenten und das Parlament waren allesamt 1988 abgeschafft worden; nun gibt es sie wieder, wenn auch in ganz anderer Gestalt. Für Positionen in der Legislative und Exekutive gilt eine Amtszeit von fünf Jahren. Wenn Einzelne geschickt auf die jeweiligen Positionen geschoben werden, kann durch die neue Ordnung sichergestellt werden, dass über die Staatsgeschäfte ab sofort zwingend kollegial entschieden wird – im Vergleich zur Vergangenheit ein bedeutender, fundamentaler Unterschied.
Der Verfassung gemäß sind die beiden mächtigsten Ämter die des Präsidenten und des Oberkommandierenden der Armee. Die Frage, welche Personen diese Ämter innehaben, setzt offensich tlich deutliche politische Zeichen.

Der Präsident

Für die Spitzenposition im Staat gab es drei aussichtsreiche Kandidaten, nämlich erstens General Thura Shwe Mann, ehemaliger Generalstabschef von Armee, Marine und Luftwaffe und Nummer drei innerhalb der SPDC, zweitens Premierminster General Thein Sein, der die Nummer vier in der SPDC war, sowie drittens General Tin Aung Myint Oo, seines Zeichens ehemaliger Generalquartiermeister und als Erster Sekretär der SPDC mächtiger als seine Position als Nummer fünf des Regimes es andeutet. In Shwe Mann und Myint Oo sahen viele die ehrgeizigsten Mitglieder der SPDC; beide hatten gute Chancen auf das Amt. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten beide als Hardliner, und ihnen eilt der Ruf voraus, aktiv Geschäfte zu machen und korrupt zu sein.

Im Unterschied zu diesen beiden gilt Thein Sein als vergleichsweise zugänglich, als fähiger, bescheidener und integrer Mann der leisen Töne. Mit den neuen mächtigen Cliquen, die Wirtschaft und Politik vermengen, und die sich in den vergangenen Jahren, nachdem Staatsbesitz privatisiert worden war, bildeten, wird er nicht in Verbindung gebracht. In seiner Familie und bei seinen Kindern gibt es, im Unterschied zu Than Shwe und Shwe Mann, keine Skandale. 

Im Gegensatz zu seinen Hauptrivalen hat Thein Sein den Großteil seiner Militärkarriere nicht im Felde, sondern im Büro verbracht, weshalb ihm, im Unterschied zu vielen anderen Mitgliedern des SPDC, auch nicht vorgeworfen wird, unmittelbar an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen zu sein. In den SPDC stieg er 2001 auf; 2003 wurde er dessen Zweiter Sekretär und im Oktober 2004 schließlich Erster Sekretär – innerhalb der Junta die vierthöchste Position. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, den Nationalkonvent zu organisieren, der die aktuelle Landesverfassung ausarbeitete. Im Jahr 2007 wurde er zum Premierminister ernannt. Nachdem Myanmar 2008 von dem Zyklon Nargis schwer verwüstet worden war, wurde er Vorsitzender des Koordinationskommitees für die Nothilfe, wodurch er für alle jene, die sich an den internationalen Hilfsleistungen beteiligten, die Kontaktperson des Regimes war. Er hat sein Land bei Treffen von Asean vertreten, und 2009 nahm er an der 64. Sitzungsperiode der UNO-Generalversammlung teil, womit er seit 1988 der erste führende Politiker Myanmars war, der die USA besuchte.

Thein Sein gilt als ruhiger, geduldiger Zuhörer, ist aber, Gesprächspartnern innerhalb von Asean zufolge, auch ein überzeugter wie überzeugender harter Vertreter seines Regimes und dessen Politik. Vor den Wahlen im November 2010 wurde Thein Sein außerdem darum gebeten, die Union Solidarity and Development Party (USDP) zu führen, die im allgemeinen als die Partei der Militärs gilt.

Aus dem Gesagten geht klar hervor, dass Thein Seins Karriereweg, sein Image, seine Persönlichkeit und sein Ruf sich erheblich von denen der meisten seiner Kollegen innerhalb der SPDC unterscheidet, und mehr noch von der Person Than Shwes. Warum wurde er trotz aller dieser Unterschiede an die Spitze berufen? Es gibt dafür nur einen logischen Grund: Die verschiedenen „zivilen“ Positionen, die Thein Sein innehatte, gaben Than Shwe die Gelegenheit, genau zu beobachten, wie er innen- und auch außenpolitisch als Gesicht des Regimes agierte. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah. Vergleicht man seine Karriere mit dem siebenstufigen Fahrplan für die Demokratie von 2003, wird deutlich, dass es den einstigen Machthabern sowohl darum ging, einen grundlegenden Wandel herbeizuführen, als auch übermäßig ehrgeizige Personen von der Spitze fernzuhalten. Thein Sein scheint für die Spitzenposition geradezu aufgebaut worden zu sein.
Präsident Thein Sein hat rasch und entschieden gezeigt wofür er steht. In den vergangenen zehn Monaten hat er eine Reihe wichtiger Entscheidungen getroffen, die unter der vorigen Regierung noch unvorstellbar gewesen wären. Alle waren verblüfft, als er Chinas Pläne für die Myitsone-Talsperre auf Eis legte.

Der Oberkommandierende

Der höchstrangige Offizier in der neuen Ordnung ist der Oberkommandierende der Streitkräfte; er ist, gemäß der Verfassung, nach dem Präsidenten der zweitmächtigste Mann im Staat. Als Nachfolger von Than Shwe wurde General Min Aung Hlaing zum Oberkommandierenden ernannt. Er wird allgemein als Karriereoffizier gesehen, der bislang so gut wie nie negative Schlagzeilen gemacht hat. Innerhalb der SPDC stand er an siebter Position und ist jünger als die aktuellen Führer der USPD-Regegierung. Sämtliche Angehörige der militärischen Führungsspitze sind heute jünger als 55, ein Generationswechsel, der umso beeindruckender ist, als er auf einen Schlag erfolgte.

Min Aung Hlaing hat den Streitkräften rasch seinen Stempel aufgedrückt, die obersten Ränge umbesetzt und eine Reihe hochrangiger Offiziere entlassen. Allgemein wird angenommen, dass er den Präsidenten zum Teil deshalb unterstützt, da er den Ruf der Streitkräfte wiederherstellen und in der veränderten politischen Umgebung ein professionelles Militär aufbauen will. Einige Quellen deuten darauf hin, dass es zwischen ihm und dem Präsidenten eine Übereinkunft gibt, derzufolge er sich aus Fragen der Politik und Verwaltung heraushält und im Gegenzug ungestört die Streitkräfte führen dürfen. Es kann sein, dass er für die Zukunft mit dem Präsidentenamt liebäugelt. All dies deutet darauf hin, dass das Militär mit den neuen zivilen Stellen zusammenarbeiten soll, statt mit ihnen im Wettbewerb zu stehen oder ihr Handeln zu hintertreiben.

Das Parlament

Im November 2010 wurde erstmals seit 1990 ein Parlament gewählt, wodurch Myanmar nun wieder eine Legislative hat. Zwar ist es richtig, dass das Militär 25 Prozent aller Abgeordneten auf oberster, regionaler sowie lokaler Ebene nominiert, aber da viele der alten Offiziere sich zurückziehen mussten, handelt es sich hierbei heute ausschließlich um jüngere Offiziere unterhalb des Rangs eines Obersts.

Das Regime hatte die Wahlen von 2010 penibel vorbereitet, um sicherzustellen, dass es nicht wie 1990 zu Überraschungen kommen würde. Die Opposition erreichte insgesamt 16 Prozent der Sitze, wobei sich dieser Anteil mit dem überwältigen Sieg der NLD bei den Nachwahlen nun vergrößert hat. Trotz gegenteiliger Befürchtungen wurde nicht versucht, das Wahlergebnis zu manipulieren. Noch bedeutender ist, dass die Opposition zu den Wahlen überhaupt zugelassen wurde. Das Regime hat auch erlaubt, dass Parteien, die die Interessen bestimmter Volksgruppen vertreten, in den meisten Parlamenten der sieben von diesen Volksgruppen vorwiegend bewohnten Bundesstaaten gut abgeschnitten haben; die USDP ist in sechs von sieben dieser Parlamente in der Minderheit. Oppositionspolitiker beteiligen sich an Debatten im Parlament, sie machen Vorschläge und stellen Fragen, die die Regierung beantwortet, wodurch auch unbequeme Tatsachen bekannt werden, über die dann örtliche Medien und die Medien birmanischer Exilanten berichten. Wer hätte geglaubt, dass dies in den ersten Monaten nach den Wahlen möglich sein würde?

Die Tatsache, dass Wahlen stattfanden, und dass es ein funktionierendes Parlament gibt – das heißt, dass die Menschen, wenn auch verwässert, endlich eine Stimme haben, und dass die dramatischste Entscheidung der neuen Regierung, der Baustopp für die Myitsone-Talsperre, zuerst im Parlament verkündet wurde, all dies zeigt einen sehr deutlichen Wandel an.

Die Partei

Die vom Militär gegründete und geführte Union Solidarity and Development Party (USDP) hält 883 (76,5 Prozent) der 1.154 Parlamentssitze. Männer aus dem zweiten Glied wie Htay Oo, Aung Thaung und Maung Oo ist die Verantwortung übertragen worden, die Partei nach den Wahlen zu führen. In den neuen Machtverhältnissen spielt die Partei bereits eine Rolle; dass sie bei den Wahlen eine große Mehrheit erzielen würde, war zu erwarten gewesen. Über die Tatsache, dass die USDP auch Ärzte, Schulleiter, Geschäftsleute usw., also Menschen, die in ihren Gemeinschaften hohes Ansehen genießen, als Kandidaten gewinnen konnte, darf nicht einfach hinweggegangen werden. Im Laufe der Zeit wird die Partei so mit großer Sicherheit eine wahrhaft im Volk verwurzelte Massenbasis aufbauen können.

Das Verbot der National League for Democracy wurde aufgehoben und die Kriterien dafür, als Partei oder Kandidat zur Wahl zugelassen zu werden, wurden gelockert, so dass auch Aung San Suu Kyi und die NDL sich Anfang April bei den Nachwahlen um 45 Mandate bewerben konnten – von denen sie 43 gewannen, darunter sämtliche in der Hauptstadt Nay Pi Daw, einer Stadt, in der vor allem Offizielle, Militärs und deren Familien leben, sowie gleichfalls in Rangun. Dass nicht versuchte wurde, den überwältigenden Wahlsieg der NLD durch Manipulationen zu verhindern, zeigt, die Zeiten haben sich grundlegend geändert. Hätte sich auch nur vor einem Jahr irgendjemand vorstellen können, Aung San Suu Kyi würde im Parlament sitzen? Ihre Wahl hat dem Parlament Legitimität verliehen, und dass, obgleich sie und ihre Partei noch im November 2010 die Wahlen boykottiert hatten.

Die Minderheiten und die Dezentralisierung

Zweiter Vizepräsident des Parlaments ist Dr. Mauk Kham, ein Mediziner, der in Lashio eine angesehene Privatklinik betreibt sowie einem privaten Krankenhaus vorsteht. Er ist zudem Vorsitzender der Literatur- und Kulturvereinigung der Volksgruppe der Shan in Lashio. Eine Reihe weiterer Mitglieder dieser Vereinigung gehören zum Führungsgremium der Shan Nationalities Democratic Party – und damit zu der ethnischen Partei, die bei den Wahlen am besten abschnitt. Vor seiner Wahl ins Oberhaus hatte man Dr. Mauk Kham davon überzeugt, für die USDP zu kandidieren. Als einer von zwei Vizepräsidenten des Parlaments ist er zudem Mitglied des mächtigen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats. Er ist damit innerhalb der Regierung das hochrangigste Mitglied einer nationalen Minderheit, und dass er in Spitzengremien der Regierung sitzt, ist eine sehr positive und zu begrüßende Entwicklung.

Alle vierzehn Bundesstaaten bzw. Regionen haben ihr eigenes Parlament und eine Regierung, angeführt von einem Ministerpräsidenten. Hinzu kommen für bestimmte Volksgruppen (die Danu, Kokang, Naga, Palaung, Pao und Wa) sechs Regionen mit Selbstverwaltung, wodurch sie über ein gewisses Maß an Autonomie verfügen. Zwar sind die legislativen und exekutiven Befugnisse der Regionen beschränkt, dennoch wird dies dazu führen, dass bei den Regierungsgeschäften auf örtliche Anliegen mehr Rücksicht genommen wird, da lokale Entscheidungen nun vor Ort gefällt werden. Bei zahlreichen Vertretern der USPD auf dieser Ebene handelt es sich um angesehene örtliche Persönlichkeiten.

Dass durch die erstmalige Einrichtung legislativer und exekutiver Organe für die Minderheiten auf örtlicher Ebene, ein gewisses Maß an Dezentralisierung geschaffen wurde, ist ein neuer und begrüßenswerter Aspekt der Regierungsführung in Myanmar.

Aung San Suu Kyi

Die gespannte Lage zwischen Militärregime und Aung San Suu Kyi hat die Innenpolitik Myanmars für zwei Jahrzehnte geprägt (während dieser Zeit stand sie 15 Jahre lang unter Hausarrest). Sie hatte sich geweigert zuzusagen, in Zukunft auf eine politische Betätigung zu verzichten – dennoch entließ sie das Regime ohne Auflagen am 13. November 2010, weniger als eine Woche nach den Wahlen, aus dem Hausarrest. All dies geschah, als Than Shwe noch unumschränkter Herrscher des Landes war.

Wollte man ihre sämtlichen politischen Aktivitäten seit der Entlassung aufführen, würde dies ein Buch mittlerer Länge füllen. Hier nur einige der wichtigsten: Bald nach ihrer Entlassung wurde ihrem Sohn Kim Aris erlaubt, seine Mutter erstmals seit über einem Jahrzehnt zu sehen, und gemeinsam besuchten sie für vier Tage die alte Königsstadt Bagan. Seit ihrer Entlassung konnte sie hochrangige ausländische Besucher empfangen und, was früher ganz unmöglich gewesen wäre, ausländischen Medien Interviews geben; obgleich viele ihrer Bemerkungen sehr kritisch ausfielen, wurde dagegen nicht vorgegangen.

Zur Überraschung der Weltöffentlichkeit traf Präsident Thein Sein am 19. August 2011, als Suu Kyi erstmals offiziell die Hauptstadt Nay Pyi Taw besuchte, im Präsidentenpalast für eine Stunde zu einem Gespräch mit ihr zusammen. Teil ihres Besuchs war auch ein Dinner mit dem Präsidenten, und durchgehend wurde sie „mit all den Ehren behandelt, die einer Person von höchstem Rang zustehen“. Sämtliche Medien berichteten darüber auf auf ihren Titelseiten mit seitenfüllenden Fotos; noch bis vor Kurzem war es in Myanmar verboten, ein Bild von ihr zu veröffentlichen. Ein weiteres Treffen fand am 11. April 2012 statt. Über die Ergebnisse dieses zweiten Treffens liegen bislang keine Berichte vor. Es gibt Anzeichen dafür, dass Suu Kyi, vormals als Idealistin bekannt war, die kompromisslos handelte und nie vom hohen moralischen Ross stieg, sich in eine gewiefte Politikerin verwandelt. Ihre öffentlichen Auslassungen fallen jedenfalls zunehmend verbindlicher aus.

All dies zeigt, dass sich die Haltung und die Maßnahmen des Regimes in Hinblick auf Aung San Suu Kyi sehr zum Positiven verändert haben, und dass es mittlerweile ihren Status als Symbolfigur mehr als nur stillschweigend akzeptiert. Die Regierung tut alles um sicherzustellen, dass sie aktiv am politischen Leben Myanmars teilnimmt. Auch sie scheint offensichtlich bewusst darum bemüht, einen Neubeginn zu schaffen. Hätte irgendjemand vor nur zwölf Monaten derartige Entwicklungen für möglich gehalten, man hätte an seinem Verstand gezweifelt. Klar ist, die politische Atmosphäre im Land hat sich auf äußerst dramatische Weise gewandelt.

Than Shwe


Im Unterschied zu Ne Win, 1988, und Saw Maung, 1989, die durch andere Generäle gestürzt wurden, gab Than Shwe die Macht selbst und zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt ab. Wegweisend war dabei auch, dass sowohl Than Shwe als auch sein Stellvertreter Muang Aye sich am 30. März 2011 aus der Armee verabschiedeten und sämtliche offizielle Positionen aufgaben. Seit seiner Abdankung wurde Than Shwe nicht gesehen, und es ist nicht bekannt, was er derzeit tut. Sein Porträt wurde aus Regierunggebäuden entfernt. Obgleich er für über zwei Jahrzehnte eine überlebensgroße Gestalt war, zog er sich selbst praktisch über Nacht aus dem öffentlichen Leben zurück. Das ist ein außergewöhnlicher, atemberaubender Wandel, und gleich was Kritiker auch sagen, diese eindeutige Tatsache kann nicht als bloße kosmetische Veränderung abgetan werden.

Die Frage, die sich stellt ist, warum Than Shwe, Myanmars unangefochtener Alleinherrscher, und mit ihm das Militärregime, dem er vorstand, und dessen Machtposition unanfechtbar schien, sich, wie geschehen, dafür entschieden, freiwillig einen Prozess einzuleiten, der zu seinem Abschied von der Macht und zur Schwächung der Rolle des Militärs führte. Da eigentlich niemand weiß, was er sich dabei dachte, kann man nur spekulieren. Ich denke, es kann nur eine plausible Antwort geben: Vielleicht beschlich ihne eine Ahnung von seiner Sterblichkeit, vielleicht hatte er eine Vision seines historischen Vermächtnisses, dessen er sich, so mein Eindruck, außerordentlich bewusst ist, und er erkannte – da er unter seine Herrschaft eine Art von Frieden und Stabilität erreicht hatte, wie sie das Land in den ersten fünfzig Jahren seit der Unabhängigkeit nicht gesehen hatte – es sei nun an der Zeit, das politische System Myanmars grundlegend umzuwälzen, was aber nur möglich wäre, wenn er persönlich auf die Macht verzichtete. Trotz all der Übeltaten, die ihm angelastet werden, und trotz des zweifelhaften Weges, auf den er sein Land führte, war Than Shwe doch immer leidenschaftlicher Patriot. Bemerkenswert ist auch, dass im Unterschied zu vielen Dikaturen in der Dritten Welt – und zunehmend auch in Demokratien –, wo es viele Beispiele dafür gibt, dass starke Führer durch ihre Kinder und Verwandten eine Dynastie zu errichten versuchen, Than Shwe nie einen nahen Verwandten in eine Regierungsposition hiefte mit dem Ziel, ihn oder sie zu seinem Nachfolger zu machen.

Than Shwe lenkte den Prozess, in dem eine neue, komplexe und detailliert ausgearbeitete Verfassung enstand, er überwachte genau die Auswahl der Kandidaten für die Parlamentswahlen, und er sorgte dafür, dass nach den Wahlen, in einer nun ganz anderen Regierungsform, bestimmte Stellen mit handverlesenen Leuten besetzt wurden. In dem neuen System ist die Macht auf eine Reihe von Institutionen und Personen verteilt. Derartige Institutionen hatte es 20 Jahre lang nicht gegeben, und sie wurden in neuer Form wiederbelebt. Die Menschen, die ihnen vorstehen, hatten zuvor kollektiv der einzigen Institution angehört, die im Staat Macht hatte, dem Militär. Nun sind sie, als Einzelpersonen, sowie die Institutionen, die sie leiten, so verteilt, dass es unweigerlich zu einer Gewaltenteilung kommt. Vormalige politische Schwergewichte, denen das nicht passt, werden versuchen, ihre Macht auszubauen, und es ist möglich, dass es zu Reibungen kommen wird zwischen den neu beförderten Militärs, die die Armee nun führen, und den ehemaligen Generälen, die sich jetzt zwar vielleicht in führenden aber dennoch unvertrauten „zivilen“ Funktionen wiederfinden. Ohne übergreifende Kontrolle werden sich Rivalitäten zwischen den neuen Führern und den neuen Militärs kaum vermeiden lassen. In der Regierungspartei USDP haben sich bereits Lager gebildet. Entscheidend wird sein, ob der Zuschnitt des neuen Regierungssystems verhindert, dass sich eine funktioniernde oder gar erfolgreiche Diktatur herausbildet, sei es durch bestimmte Individuen, Institutionen oder das Militär. Die aktuelle Verfassung macht einen neuen Than Shwe so gut wie unmöglich. All dies wird im Übrigen auch dafür sorgen, dass die Würde, das Wohlergehen und die Sicherheit von Than Shwe und seiner Familie nicht gefähdet ist, obwohl er die Macht abgegeben hat.

Zwar steht außer Frage, dass all dies per Dekret und nicht in einem beratenden, offenen und transparenten Prozess geschehen ist. Im Endergebnis beobachten wir nun aber einen ganz erheblichen Wandel von einem politischen System zu einem vollständig anderen.

Sollte, wie viele behaupten, Than Shwe hinter den Kulissen immer noch die Fäden in der Hand halten, dann beteiligt er sich an den Veränderungen; wenn nicht, muss man davon ausgehen, dass er Thein Sein vor der Machtübergabe  sein Plazet für die Reformpolitik gegeben hat. Wie es sich auch verhält, der Wandel findet tatsächlich statt.

Schlussbemerkung

Die Art des Wandels wird durch mehrere Faktoren bedingt: Man will sich aus der erdrückenden Umarmung durch China lösen, will normales, aktives Mitglied von Asean sein, will und muss wieder Verbindungen zur restlichen Welt und speziell zum Westen herstellen, will die Würde und die Sicherheit der vorigen Herrscher und ihres auf dunklen Wegen erworbenen Vermögens absichern, will sich eine Gebetsnische in Myanmars Geschichte sichern – und man will vielleicht Verständnis oder Absolution von der schwer geprüften Bevölkerung Myanmars.

Myanmar befindet sich heute deutlich und nahezu unwiderruflich auf dem Weg in eine erheblich andere politische Zukunft, und es ist zu hoffen, dass so schließlich eine Demokratie entsteht, eine vielleicht, die der in anderen Asean-Staaten ähnelt, ganz gleich wie langsam und stockend diese Bewegung von Zeit zu Zeit auch erscheinen mag.

Der Unterschied zur Vergangenheit ist dramatisch und positiv. Wir beobachten heute die größte Chance in den letzten 50 Jahren, Myanmar grundlegend zu verändern. Was Indien betrifft sind diese Entwicklungen besonders erfreulich, löst sich hierdurch doch von selbst ein Dilemma, mit dem Indien lange gekämpft hatte – der Zwiespalt, sich einerseits und in Rücksicht auf nationale Interessen und damit verbundene Sachzwänge aktiv auf eine Militärdiktatur einzulassen, und andererseits Indiens enge Verbindung zu und Unterstützung für demokratische Werte. Im Falle Myanmars wurde dieser Zwiespalt noch dadurch verschärft, dass es starke persönliche und emotionale Verbindungen zu Aung San Suu Kyi gibt, die viele Jahre in Indien verbrachte, sowie zu vielen anderen führenden Persönlichkeiten Myanmars, die für Jahre im indischen Exil lebten. Und noch ein weiterer Grund lässt Indien den Wandel begrüßen – die sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich, in dem Maße, in dem Myanmar mit anderen Ländern Beziehungen aufbaut, seine Abhängigkeit von und seine engen Verbindungen zu China lockern.

Es ist jetzt an der internationalen Gemeinschaft, den Prozess des Wandels dadurch zu ermutigen, dass Sanktionen aufgehoben und ohne Bedingungen Beziehungen zu der neuen Regierung aufgebaut werden. Geschieht dies nicht, werden die Reformen versanden und die Hardliner versuchen, das Ruder herumzureißen – was dann nicht alleine die Schuld der Regierung in Myanmar wäre.