Als ich 1964 in Daressalam eintraf, schickte mich der ANC nach Mtoni, genauer gesagt in ein Studentenwohnheim, in dem alle jungen Männer wohnten, die vom ANC zum Studium ins Ausland geschickt wurden. Ich lernte dort viele junge Männer aus den unterschiedlichsten Teilen Südafrikas kennen, und sehr schnell entwickelte sich unter uns ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl.
In Mtoni war niemand für irgendetwas oder irgendjemand zuständig. Es war eine Gesellschaft der Gleichen, aber sie funktionierte sehr gut. In den Diskussionen ging es meistens um politische Ereignisse zu Hause, darum, wie die südafrikanische Regierung auf die Streiks und Boykotte reagierte und was die Vereinten Nationen und die Länder des Commonwealth dazu sagten. Jeden Morgen und jeden Abend hörten wir Nachrichten und führten lebhafte Debatten.
Wir waren Teil dessen, was in Südafrika passierte, weil wir Südafrikaner waren. Gleichzeitig aber waren wir nicht direkt daran beteiligt. Wir hatten Stipendien erhalten, um im Ausland zu studieren und Qualifikationen zu erwerben. Nach der Befreiung Südafrikas sollten wir nach Hause zurückkehren und Teil der neuen Regierung werden. So wie wir es in den afrikanischen Ländern geschehen sahen, die zu der Zeit in der Unabhängigkeit entlassen wurden, Länder mit schwarzen Ministern, schwarzen Bürgermeistern, Richtern, Polizeichefs und so weiter.
Ohne Zweifel würden wir, glaubten manche von uns, mit einem Doktor in der Tasche nach unserer Rückkehr nach Südafrika beste Chancen haben, in eine hohe Regierungsposition berufen zu werden! Wir sangen Revolutionslieder, führten leidenschaftliche politische Diskussionen und träumten von einem freien Südafrika, das von schwarzen Menschen – von uns – regiert wurde.
Ich stamme ab von Kriegern, von Männern, die immer wussten, dass ihre höchste Verpflichtung der Nation galt, nicht ihnen selbst. Alle meine Vorfahren hatten der Zulu-Nation als Krieger gedient, alle ohne Ausnahme. Ich komme aus einer Kultur, in der jeder Mann von dem Moment seiner Geburt an als Krieger betrachtet wird. Wenn es zu unseren Lebzeiten keinen Krieg gibt, gut. Aber wenn es einen gibt, muss uns niemand erklären, was zu tun von uns erwartet wird, und zur Schule gehen gehört nicht dazu.
Ich hatte nicht gewusst, dass der ANC hier in Tansania Kämpfer ausbildete. Ich hatte noch keinen gesehen, andererseits aber wusste ich, dass der Umkhonto we Sizwe (MK) dort war, der militärische Arm des ANC, bereit, loszuschlagen und für die Befreiung unserer Heimat zu kämpfen. Die Frage, die sich mir stellte, war, ob ich mich für die Rolle eines Akademikers entscheiden sollte und damit dafür, dass andere junge Männer an meiner Stelle ihr Leben gaben, sodass ich eines Tages in ein freies Südafrika zurückkehren konnte. Würde ich mich dagegen dem MK anschließen, würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lange genug leben, um selbst ein freies Südafrika zu erleben. Sollte ich mich gegen den Kampf und für das Studium entscheiden und irgendwann in ein freies Südafrika zurückkehren, würde ich, das war das Problem, tief in mir auf ewig eine tadelnde Stimme hören , die sagte: »Andere junge Männer taten ihre Pflicht und gaben ihr Leben, damit du frei sein kannst.«
Zu dieser Zeit brauchte das Volk von Südafrika Krieger, keine Akademiker. Akademiker würde es brauchen, nachdem das Land befreit war. Jetzt aber waren Krieger gefragt.
Sich dem ANC anzuschließen, war zu der Zeit ein gefährliches Unterfangen. Dem MK beizutreten, war gleichbedeutend damit, sein eigenes Todesurteil zu unterzeichnen. Wie also kam ein vernünftig denkender Mensch dazu, ein sicheres Leben und die Aussicht auf ein Studium an einer Universität in Großbritannien aufzugeben und sich einer Organisation anschließen, auf deren Mitglieder der gewaltsame Tod oder das Gefängnis warteten?
Wer sich damals dem Afrikanischen Nationalkongress anschloss, trat etwas bei, das viel größer war als er selbst. Und genauso sahen es auch die meisten von uns. Zum ersten Mal in unserem Leben taten wir etwas, das am Ende nicht dazu diente, uns als Individuum zu helfen. Wir taten etwas, das, wenn es Erfolg haben sollte, einer ganzen Nation helfen würde. Ja, wir würden höchstwahrscheinlich in Gefangenschaft geraten oder sogar sterben, aber indem wir das taten, würden wir in den Rang einer edleren Sorte Mensch erhoben, in den des REVOLUTIONÄRS.
Revolutionäre sind nicht wie andere Männer und Frauen. Sie führen kein gewöhnliches Leben wie die meisten von uns. Nach ihrem Tod werden ihnen zu Ehren ewige Feuer der Erinnerung entzündet. In den Geschichtsbüchern wird davon erzählt, wie sie im Angesicht höchster Gefahr Stärke bewiesen und keinen Zoll zurückwichen.
Als ich dem MK beitrat, erkannte ich, dass ich alles, was mir bis dahin wichtig gewesen war, angefangen mit meinem Studium, aufgeben musste. Von nun an würde nicht mehr ich selbst die Regeln aufstellen und die Entscheidungen fällen, die mein Leben betrafen. Mein Körper, mein Geist und mein Leben gehörten von nun an dem südafrikanischen Volk. Und sein Repräsentant, Oliver Tambo, war es jetzt, der darüber entschied, wie ich mein Leben führen würde.
Ich würde nicht das Leben anderer junger Männer führen, Mädchen nachjagen und auf Partys gehen. Der MK war größer als ich, und meine Aufgabe bestand darin, den Erwartungen gerecht zu werden, die an mich als einen Soldaten des Umkhonto we Sizwe gestellt wurden. In Wankie sahen wir die Männer der Rhodesian African Rifles auf uns vorrücken und uns unter Beschuss nehmen. Wir zitterten vor Angst, als uns ihre Kugeln um die Ohren flogen, aber als unser Kommandeur Chris Hani den Befehl gab, feuerten wir zurück und gingen mit aufgepflanztem Bajonett zum Angriff über. Wir schmeckten den Sieg, und er schmeckte süßer als alles, was ich bis dahin gekannt hatte.
Dann kam die Zeit, als wir vor den Henker treten sollten. Tag, Ort und Uhrzeit unserer Exekution waren festgelegt. Wie können junge Männer Anfang zwanzig ruhig und gelassen zum Galgen gehen? Wir taten es nicht, wir sangen! Wie wir das konnten? Ich weiß es heute noch nicht, aber ich gehörte zu denjenigen, die auf dem Weg zum Galgen sangen. Vielleicht ist es so, dass wir erst dann, wenn wir mit Extremsituationen konfrontiert werden, unser volles Potenzial entdecken und ansonsten einfach ganz normale Menschen sind. Wir sangen: »Hamba kahle Mkhonto, uMkhonto WeSizwe.« Nicht um uns ging es uns damals, sondern um »isizwe«, um die Nation.
Was heißt es heute, sich dem ANC anzuschließen? Man geht ins nächste ANC-Büro, legt zwölf Rand auf den Tisch und schon ist man Mitglied. Gefährlich ist das nicht mehr. Im Gegenteil, man kann die politische Karriereleiter erklimmen und am Ende vielleicht sogar einen Parlamentssitz ergattern. Oder man bekommt einen mehrere hundert Millionen Rand schweren Auftrag zugeschanzt und hat auf alle Zeiten ausgesorgt. Natürlich kann es dir auch passieren, dass du von Parteigenossen ermordet wirst, die dir deinen Posten neiden oder enttäuscht sind, weil du ihnen keinen angemessen »fetten« Auftrag zugeschanzt hast. Aber abgesehen da-von ist es heutzutage völlig ungefährlich, dem ANC beizutreten.
In den 1960er Jahren verlangte das Bekenntnis zum ANC noch Hingabe und Op-fer. Der ANC war etwas, das weitaus größer war als die Menschen, die sich ihm anschlossen. Heute ist der ANC zu einem Mittel geworden, Macht und Reichtum zu erlangen. Aus diesem Grund ist er weniger, als die Leute, die ihm angehören und ihn zu ihren Zwecken manipulieren. Sie haben ihn geschwächt, und wenn sich nichts ändert, werden sie ihn auch zerstören. Das zu verhindern verlangt einmal mehr Männer und Frauen, die der Organisation zu ihrem alten Status und zu ihrem alten Glanz zurück verhelfen, die sie wieder zu etwas machen, das weit größer ist als die Menschen selbst.
Gibt es beim ANC noch solche Männer und Frauen? Gibt es noch die »Dummen«, die dienen, ohne eine Berufung auf einflussreiche Posten zu erwarten, die vor allem dienen wollen? Ja, und nach allgemeinem Dafürhalten sind sie »dumm«, eben weil sie dienen, ohne sich vom ANC die Berufung auf lukrative Posten zu erhoffen. Ich glaube, der ANC hat vergessen, wer diese Menschen sind; sie sind die vergessenen Männer und Frauen der Revolution.
Ich weiß nicht, ob der ANC auch heute noch, wie sie auch genannt werden, »Narren« anzieht. So das nicht der Fall ist, muss er sich mit Leuten bescheiden, mit Funktionären, die in ihm vor allem ein Vehikel zur Beförderung ihrer eigenen Interessen sehen. Das Leitmotiv im ANC von heute lautet: »Was springt für mich dabei heraus?«
Ob der ANC sich von dem Übel, das ihn befallen hat, befreien kann, der Neigung zur Selbstbereicherung und Selbsterhöhung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, von der ANC-Spitze abwärts, kaum mehr Leute treffe, die dienen wollen; die meisten, die ich treffe, sind Leute, die ihre persönliche Agenda vorantreiben und durchsetzen wollen.
Disziplin ist ebenfalls ein Konzept, dass im ANC keine Rolle mehr spielt. Was ich mit Disziplin meine? Ich meine damit die Fähigkeit, Entscheidungen der Führungsspitze zu kritisieren, ohne das Führungspersonal dabei in seiner persönlichen Kompetenz anzugreifen.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand ein alter Krieger auf einem Hügel vor einem Regiment, gegen das er seit Anbruch des Tages gekämpft hatte. Viele hundert Männer dieses Regiments, uHlomendlini oMhlophe, lagen tot zu seinen Füßen. Am Horizont versank die Sonne, und der Mann war müde. Er setzte sich auf den Boden, warf seinen Assegai, seinen Speer, weg und sprach zu den Männern, die ein paar Meter entfernt vor ihm standen. »General Nongalaza, hilf mir auf dem Weg ins Land meiner Ahnen. Ich habe alle Schlachten geschlagen, die zu schlagen mir König Shaka kaSenzangakhona auferlegt hat. Ich habe alle Schlachten geschlagen, die zu schlagen mir König Dingane kaSenzangakhona auferlegt hat. Diese Schlacht, die ich heute geschlagen habe, ist die letzte gewesen.
Ich werde keine Schlacht mehr schlagen, weil ich sehe, dass die Zulu-Nation im Begriff ist zu sterben. Zulu-Krieger töten Zulu-Krieger, weil unsere Prinzen nun Krieg gegeneinander führen. Deshalb ist die Zulu-Nation zum Tod verurteilt. Komm, General, hilf mir den Weg ins Land meiner Ahnen zu gehen.« General Nongalaza, Prinz Mpandes Kommandeur, erwies dem großen Krieger uNozishada kaMaqhoboza die Ehre und stieß ihm den Speer in Herz.
Wenn sich an den gegenwärtigen Zuständen nichts ändert, wird unsere große Bewegung sterben und werden wir, wie der alte Krieger uNozishada kaMaqhoboza, zu dem Schluss gelangen, dass der ANC zum Tod verurteilt ist, weil die Kameraden heute Krieg gegeneinander führen. Der ANC ist nicht länger etwas, das größer ist als wir; heute sind unsere persönlichen Interessen größer als der ANC.
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Der hier gekürzt übersetzte Artikel erschien zuerst in „ANC Today“, einem wöchentlichen online-Magain des ANC unter dem Titel "Something greater than oneself" (Ausgabe vom 18. bis 24.11.2011)
Thula Bopela
Thula Bopela wurde in der Sowjetunion militärisch ausgebildet und hat 1967 mit dem Luthuli Detachement von Umkhonto weSizwe an der Wankie-Kampagne teilgenommen. Er wurde gefangen genommen und in Salisbury zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde später in eine lebenslange Haft umgewandelt. Bopela kam frei, nachdem Zimbabwe 1980 unabhängig geworden und Robert Mugabe die Macht übernommen hatte. Er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und hat heute einen hohen Posten im südafrikanischen Verteidigungsministerium.
Über die Wankie-Kampagne hat er zusammen mit seinem Kameraden Daluxolo Luthuli ein Buch geschrieben (Umkhonto we Sizwe: Fighting for a divided people, Galago, Alberton 2005). Er bloggt unter: Thulabopela.blogspot.com.
Dossier
100 Jahre ANC
Der Afrikanische Nationalkongress ANC wurde am 8. Januar 100 Jahre alt. Die Bewegung, die sich bis heute nicht als Partei versteht, besiegte das weiße Minderheitsregime, das Südafrika 350 Jahre lang beherrschte - und hält seit 1994 die politische Macht inne. In unserem Dossier finden Sie Hintergrundtexte, Bildmaterial und zeitgeschichtliche Dokumente und mehr...