Europäische Außenpolitik: Ratlos über Umgang mit Ukraine und Türkei

18. Oktober 2011
Joscha Schmierer
Es war ein denkwürdiges Ereignis: In Kiew wurde der „westlich orientierten“ Julia Timoschenko, der Heldin der orangenen Revolution, von einem Gericht, das offensichtlich nach der Pfeife des „östlich orientierten“ derzeitigen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch tanzte, der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft warf ihr vor, sie habe als Ministerpräsidentin 2009 mit Russland, vertreten durch seinen Ministerpräsidenten Putin,  einen Vertrag über Gaslieferungen abgeschlossen, der eindeutig zu Lasten der Ukraine gehe und ihren Staat 146,2 Millionen Euro gekostet habe. Wenn sie mit dem Liefervertrag der Ukraine geschadet haben sollte, hätte sie also Russland begünstigt.

Frau Timoschenko wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Schon während des Prozesses wurde sie ins Untersuchungsgefängnis gesteckt. Das Gericht hatte sich durch ihre Nichtachtung  verunglimpft gefühlt. Eine Ordnungswidrigkeit mag eine Ordnungsstrafe rechtfertigen, aber doch keine monatelange Untersuchungshaft. Persönliche Bereicherung wurde Julia Timoschenko nicht vorgeworfen. Folgt man dem Gericht darin, dass der Vertragsschluss ein Fehler war und ein besseres Verhandlungsergebnis hätte erzielt werden können, dann lag das Urteil bei den Wählerinnen und Wählern. Die Logik der ukrainischen Politik ist anders: Weil Julia Timoschenko, wenn auch aus anderen Gründen, die Wahlen verloren hat, konnte der Wahlsieger sie vor Gericht bringen.

Umworbene Ukraine

Da Julia Timoschenko staatsanwaltlich verfolgt und durch das Gericht verurteilt wurde, weil sie Russland begünstigt haben soll, konnte Russland sich nicht begeistert zeigen über Prozess und Urteil, obwohl sie die „westlich orientierte“ frühere Ministerpräsidentin trafen und von der „östlich orientierten“ jetzigen Staatsmacht inspiriert sind. In Russland wurde von einem „antirussischen Prozess“ gesprochen. Putin, Mitunterzeichner des inkriminierten Vertrages meinte nicht ohne herrschaftlichen Humor: „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht ganz, wofür sie diese sieben Jahre bekommen hat.“ Die EU und die USA hatten die fadenscheinigen Anschuldigungen und die Prozessführung ohnehin kritisiert.

Das ukrainische Regime hat einen Prozess durchgezogen, obwohl es keinen Zweifel geben konnte, dass damit sowohl die Beziehungen zur EU und den USA als auch zu Russland belastet würden. Das Interesse, eine innere Widersacherin auszuschalten, wog schwerer als die Sorge um äußeren Zuspruch. Das mag sich auch daraus erklären, dass die Ukraine weiterhin und gegenwärtig verstärkt von West wie Ost umworben wird. Mit der EU befindet sich ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen in der letzten Verhandlungsphase und Ministerpräsident Putin griff seiner erneuten Präsidentschaft schon einmal vor mit der Absicht, eine „Eurasische Union“ ins Leben zu rufen. Die Ukraine ist gemeint, wenn Putin über „einige Nachbarn“ schreibt, „die ihren Unwillen zur Teilnahme an den fortgeschrittenen Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum damit erklären, dass das angeblich ihrer europäischen Wahl widerspricht.“ Putin weiß natürlich, dass es in der Ukraine wenig Interesse gibt, erneut unter die Moskauer Kuratel zu geraten. Deshalb legt er Wert darauf, die Kompatibilität seines Projekts mit der EU zu betonen. „Ein ökonomisch logisches und balanciertes System zwischen der Eurasischen Union und der EU kann die realen Bedingungen für eine Veränderung der geopolitischen und geoökonomischen Konfiguration des ganzen Kontinents schaffen.“

Von „Balance“ im Sinne Putins könnte nur gesprochen werden, wenn die Ukraine Mitglied der „Eurasischen Union“ und nicht der EU würde. Der Terminus kann im Übrigen nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich bei Putins „Union“ um ein hegemoniales Projekt Russlands handelt. Es zielt implizit auf die Wiederherstellung des Sowjetreiches, dessen Auflösung Putin für ein geopolitisches Unglück hält. Die Integration im Westen beruht dagegen auf dem Ende der westeuropäischen Imperien und der Einsicht, dass ihre Wiederherstellung nicht nur schädlich, sondern auch unmöglich wäre. Handelt es sich im einen Fall also um den Versuch einer imperialen Restauration, geht es im anderen Fall um einen radikalen Neuanfang. Mit der Eurasischen Union kommt alter Wein in neuen Schläuchen ins russische Angebot.

„Unabhängig“ in der Verfolgung der Gegner

Gibt es eine Lösung für das anhaltende Gerangel um die Ukraine? Durch eine Entscheidung zwischen EU und Russland wird es sich nicht beenden lassen, weil sie das Überlappen der Interessen- und Einflusssphären nicht beseitigen kann, vornehmer ausgedrückt, weil sie an den überlappenden Integrationsräumen nichts ändert. Eine Lösung wird vor allem von der Ukraine selbst und deren innerer Einigung abhängen, davon ob sie über Schaukelpolitik hinaus zu einer Politik fähig ist, die ihre Zwischenstellung in Unabhängigkeit nutzt, um als Bindeglied und Garant des Transfers zwischen EU und Russland oder einer eventuellen Eurasischen Union zu fungieren. Eine solche selbständige Position lässt sich natürlich nicht gewinnen und behaupten, wenn die inneren Auseinandersetzungen zwischen Regierungsmacht und Opposition mit dem Ziel der gegenseitigen Vernichtung geführt werden. Ein innenpolitischer Grundkonsens auf Basis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wäre die Voraussetzung, um einen solchen Kurs souverän zu steuern. Im anderen Fall wird die Ukraine schwergewichtiges Objekt äußerer Rivalität bleiben.

Die EU-Außenpolitik im Osten bleibe ratlos, schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ (12.10.): „Der Ukraine beispielsweise das Freihandelsabkommen zu verweigern und damit die Bindung an Russland zu fördern, wäre konsequent, aber langfristig unklug. Die Tür muss offen bleiben, auch wenn derzeit kaum jemand durchgehen will.“ Die Staaten, auf die die EU-Nachbarschaftspolitik ziele, richteten sich in sicherer Äquidistanz  ein und nähmen von beiden Seiten, was sie kriegen. „Eine klare Westbindung, wie sie in den neunziger Jahren opportun war, scheint heute riskant.“

Nichts hatte seinerzeit europäischen Außenpolitikern wie Genscher weniger gepasst als die Auflösung der Sowjetunion. Sie fürchteten damals das Desaster, das Putin heute konstatiert. Als die Auflösung vollzogen war, wurde auf eine schrittweise Erweiterung der EU um die Republiken der ehemaligen SU gesetzt. Das war reine Selbstüberschätzung und Unterschätzung des Gewichts Jahrhunderte langer zaristischer und sowjetischer, also großrussischer  Tradition und Gewohnheit in diesen Staaten. Die EU hat seither durch Schuldenkrise und außenpolitische Uneinigkeit an Attraktionskraft verloren. Da klingt es hohl, wenn Berthold Kohler in der FAZ der Ukraine zuruft: „Land, Leute und Oligarchen müssen sich entscheiden: In der Zone des Zwielichts zwischen westlicher Demokratie und östlicher Despotie, in der das Urteil gegen Frau Timoschenko fiel, wird die Ukraine nur weiter verkümmern, politisch wie ökonomisch.“ (12.10.) Jedenfalls ist es ein Trauerspiel, wenn das Regime seine Unabhängigkeit von Ost wie West nur in der Rücksichtlosigkeit zeigt, mit der es gegen innere Widersacher vorgeht.

Starker Auftritt einer verschmähten Türkei

Am Beispiel der Ukraine kann man sehen, wie eine europäische Außenpolitik gegenüber Nachbarn, die sich letztlich als Erweiterungspolitik begreift, im Ergebnis die eigene Schwäche offenlegt. Wenn die Nachbarn sich auf Christentum und weiße Farbe berufen, kann die EU kein „Außen“ mehr erkennen.  Sie macht keine eigene Außenpolitik, sondern reagiert nur darauf, was in der Nachbarschaft gerade passiert. Es mangelt der EU an politischer Selbstdefinition. So kann man gar nicht wissen, was entsteht, wenn durch die offengehaltenen Türen doch jemand hindurch geht.

Die Tür steht auch nicht für jeden offen. Mit der Türkei hat die EU Verhandlungen über eine Mitgliedschaft aufgenommen, weil  wirtschaftlich und politisch alles für sie sprach. Zugleich haben Deutschland und Frankreich explizit fundamentale Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft der Türkei angemeldet. Dass die Verhandlungen nicht vorankommen, kann einen da nicht wundern. Inzwischen werden in der Türkei andere Unionsgedanken gewälzt. Wie in Russland an Zarenreich und Sowjetunion scheinen sich auch in der Türkei relevante politische Kräfte am ehemaligen osmanischen Reich als geopolitischer Bezugsgröße zu orientieren.  Die türkische Regierung sieht sich in der Rolle einer regionalen Ordnungsmacht, die nach dem Sturz von Despoten und  angesichts unsicherer  Zukünfte den neuverstandenen eigenen Weg als Vorbild preist: säkularer Staat, islamische Gesellschaft, Kapitalismus. Da die EU mangels Erweiterungsperspektive über das Mittelmeer hinweg wenig zu bieten hat, ist es nicht verwunderlich, dass die Türkei eine eigene Integrationspolitik in diese Richtung zu betreiben beginnt. So schnell hätte die EU die Türkei freilich gar nicht aufnehmen können, wie sich zuletzt das Umfeld verändert, in dem sich die Türkei bewegt.

Unter der plakativen Überschrift „Der starke Mann am Bosporus“ schreibt Joschka Fischer in einer Kolumne der SZ:

„Für die ,neo-osmanische‘ Außenpolitik Ankaras nimmt der arabische Raum, noch vor dem Kaukasus, Zentralasien und dem Balkan, die zentrale Rolle ein.“ Ankara bleibe gar nichts anderes übrig, als sich intensiv um seine südliche Nachbarschaft zu kümmern. „Es muss versuchen zu verhindern, dass sich Chaos ausbreitet. Eine europäisch eingebundene Türkei hätte zwar dieselben Risiken zu gewärtigen, aber ihre Prioritäten wären völlig andere. Aber diese Milch haben die Europäer verschüttet.“ (10.10.11) Die Türkei habe sich, „dank der Kurzsichtigkeit Europas, faktisch für die Perspektive einer nahöstlichen Regionalmacht und gegen eine EU-Mitgliedschaft entschieden. Das ist das Rational hinter der neo-osmanisch genannten Wende. Sie verbindet darin Interesse mit Ideologie.“ Mit der AKP scheint eine Verknüpfung von türkischem Nationalismus und islamischer Prägung außenpolitisch eine Wirksamkeit zu erlangen, zu der der säkulare Kemalismus nicht fähig war und wohl auch nicht fähig sein wollte. Wie fundamental der Unterschied zwischen der türkischen Außenpolitik und den Zielen der Europäischen Union sich erweisen wird, kann man  aber heute noch nicht so apodiktisch behaupten. Zumindest außenpolitisch würde eine türkische Mitgliedschaft in der EU immer eher der britischen gleichen als der von Belgien oder auch Italien.

Außenpolitik der EU muss noch erfunden werden

Jedenfalls zeigen die jüngsten Entwicklungen im Osten und am Mittelmeer, dass sich die EU nicht länger damit begnügen kann, ihre Rolle in der Nachbarschaft auf das Angebot oder die Verweigerung einer Mitgliedschaft in der EU zu beschränken. Dieser beschränkten Alternative entspringt die Ratlosigkeit der EU gegenüber den realen Entwicklungen in ihrer Umgebung. Sie macht umso hilfloser,  je mehr die EU zugleich von ihren inneren Krisen angefressen wird. Ein europäischer „Großer Ratschlag“ ist überfällig.

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.