Eindrücke aus Israel zur Krise in Ägypten: "Wenn alles unter Feuer steht, lasst uns unser eigenes Feuer löschen"

Gegnerinnen und Gegner Mubaraks am 28. Januar in Kairo. Foto: Vince Perritano. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

3. Februar 2011
Marc Berthold, Tel Aviv
Von Marc Berthold, Tel Aviv.


Neue strategische Lage und Unsicherheit

Für Israel sind die Ereignisse in Ägypten ein politisches Erdbeben von langfristiger Tragweite. Israelis schwanken zwischen Faszination und Empathie auf der einen Seite und dem überragenden Gefühl tiefer Verunsicherung. Jenseits der innenpolitischen Dramatik für Ägypten und seine Bevölkerung, kann Israel die Entwicklungen nicht getrennt von den direkten Auswirkungen auf die eigene Sicherheitslage betrachten.

Trotz aller Unwägbarkeit über den Ausgang der Proteste, wächst auf israelischer Seite die Erkenntnis, dass der Status Quo im Verhältnis zu Ägypten nicht zu halten sein wird. Stürzt das Regime könnte dies Konsequenzen für die gesamte Sicherheitsdoktrin Israels haben, kommt es zur Niederschlagung der Proteste und zum vorübergehenden Verbleib Mubaraks im Amt, stehen Ägypten, mindestens bis zu den Wahlen im September, unruhige Zeiten bevor, welche die bilateralen Beziehungen belasten werden. Angesichts der enormen Dynamik in der gesamten Nachbarschaft, ist es Israel nicht zu verdenken, mit Sorge in das Jahr 2011 zu blicken. Die Rückabwicklung der „Revolution“ von 2005 im Libanon, der wieder erstarkende Einfluss Syriens, Proteste in Jordanien, und das politische Erdbeben der „Palestine Papers“ bereiten Grund zur Achtsamkeit jenseits der Proteste in Ägypten.


Israel hat die Proteste nicht kommen sehen

Ägypten war das erste arabische Land, welches einen Friedensvertrag mit dem jüdischen Staat schloss. Die Grenze beider Staaten blieb fortan ruhig, Ägypten engagierte sich als Vermittler im palästinensisch-israelischen Friedensprozess und kooperierte bei der Bekämpfung der Hamas im Gaza-Streifen. Die Bedrohung durch den militanten Islamismus und die Perspektive eines nuklearen Irans machten Israel und Mubaraks Ägypten zu Partnern, auch wenn auf der Ebene der Bevölkerung kaum zur Annäherung kam. Es war ein „kalter Frieden“, aber er funktionierte.

Die inneren Zustände und Entwicklungen Ägyptens fanden wenig Beachtung. Der Auftakt der ägyptischen Proteste am 25. Januar verursachte dementsprechend kaum Schulterzucken. Man sah Präsident Mubarak fest im Sattel. Der kürzlich ausgeschiedene Minister Benjamin Ben Eliezer (Arbeiterpartei) war die deutlichste Stimme in dieser Hinsicht. Er meinte, nichts werde sich in Ägypten ändern. Dies änderte sich bereits drei Tage später, als die Proteste nach dem Freitagsgebet eskalierten. Als die Dimensionen des Aufstands deutlich wurden, rief der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu seine Regierung auf, von weiteren Kommentaren abzusehen. Man beobachte die Situation genau, mische sich jedoch nicht ein. Gleichzeitig wies das Außenministerium seine Botschaften jedoch an, im Westen dafür zu werben, die offene Kritik an Hosni Mubarak einzudämmen. Mittlerweile heißt es, Priorität habe die Aufrechterhaltung des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags.

Ein möglicher Wechsel wird nicht mehr verdrängt und auch immer weniger als unausweichliche Katastrophe betrachtet. Als einzige Option für ein anderes Regime galt in den vergangenen Jahren lediglich die Muslimbruderschaft. Eine Machtübernahme durch sie galt allerdings als GAU. Die Bruderschaft  wird in Israel weitläufig der Hamas gleichgesetzt, mit der Befürchtung Ägypten in einen zweiten Gaza-Streifen oder in einen Iran zu verwandeln. Dass die Muslimbrüder im Parlamentswahlkampf vor wenigen Monaten mit dem Ende des Friedensvertrags gedroht hatten, diente nicht gerade der Vertrauensbildung. Dass die aktuellen Proteste und Demonstrationen nicht von der Muslimbruderschaft initiiert wurden, trägt dabei nicht zur Beruhigung bei. Sie gilt aufgrund ihres Organisationsgrads als wahrscheinlichste Gewinnerin der derzeitigen Proteste. Immer wieder wird der Vergleich mit der iranischen Revolution von 1979 herangezogen, in welcher die Demonstrierenden hehre Ziele verfolgten, letztlich jedoch die gut organisierte Bewegung von Ayatollah Khomeini das Zepter übernahm. Mohammed El Baradei, ehemaliger Leiter der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und möglicher Präsidentschaftskandidat, wird hingegen wenig Einfluss beigemessen. Er sei im besten Fall ein Mann des Übergangs, im schlimmsten Fall eine Marionette der Muslimbruderschaft.


Israels Möglichkeiten

Grundsätzlich gilt Schweigen weiterhin als Gebot der Stunde. Im Innern laufen die Drähte jedoch heiß. Israel löst sich allmählich aus der Schockstarre, welche die erste Eskalation jenseits des Sinai ausgelöst hat. Selbst diejenigen, die sich bislang an den Status Quo klammerten, nehmen zur Kenntnis, dass Israel über den Weg, den Ägypten einschlagen wird, keine Kontrolle hat. Diskutiert wird zunehmend, welche Optionen Israel hat, sich auf die neue Situation einzustellen. In gewisser Weise sitzen in dieser Frage Europa, die USA und Israel in einem Boot. Zugunsten von Stabilität haben sie einerseits auf autokratische Regime gesetzt, und andererseits für Demokratie geworben. Jetzt gilt es, sich gemeinsam dem Risiko zu stellen, dass die sich nun bahnbrechenden Demokratiebestrebungen in den arabischen Ländern einen ungewissen Ausgang haben.

Bundeskanzlerin Merkel, die zum bisherigen Höhepunkt der ägyptischen Proteste, dem Marsch der Millionen, in Israel verweilte, fand deutlichere Worte. Auf der Jahreskonferenz des führenden israelischen Think Tanks „Institute for National Security Studies (INSS)“ ließ sie keinen Zweifel daran, dass Verdrängung und Tatenlosigkeit auf Seiten Israels aus ihrer Sicht keine Optionen seien. Sie rief die israelische Regierung dazu auf, sich den Veränderungen in Ägypten nicht zu verschließen, und vielmehr selbst die Initiative zu ergreifen. Einfluss habe Israel im Bezug auf den Verhandlungsprozess mit den Palästinensern und auch mit Syrien. Zugleich versicherte sie Israel Deutschlands Beistand für seine Sicherheit. Auch zahlreiche politische Kommentatoren sowie Sicherheitsexperten der israelischen Streitkräfte bestätigen Merkels Tonlage. Shimon Shamir, früherer Botschafter Israels in Ägypten, beschrieb die Lage auf der gleichen Konferenz: „Wenn alles unter Feuer steht, lasst uns unser eigenes Feuer löschen.“ Während die Opposition sich für diesen Weg stark macht, lässt die Regierung bislang nicht erkennen, ob sie diesen Rufen folgt.


Welche Rolle spielt die Muslimbruderschaft?

Gleichzeitig muss sich Israel auf mögliche neue Protagonisten in Ägypten einstellen. Einigkeit herrscht darüber, dass der "kalte Frieden" mit Ägypten bei jedem Ausgang der Proteste zumindest noch "kälter" wird. Das Worst-Case-Szenario, das Endes des Friedensvertrags, dominiert die Debatte jedoch nicht. Diskutiert wird, welche Rolle die Muslimbruderschaft im neuen Ägypten spielen wird. Während weitgehende Einigkeit über die Radikalität der Muslimbrüder besteht, so scheiden sich jedoch die Geister, ob sie als deutliche Gewinner aus Wahlen hervorgehen würden, und damit eine Regierung führten, oder lediglich als einer von mehreren Koalitionspartnern endeten. Auch eine Regierung mit den Muslimbrüdern, so die Einschätzung einiger israelischer Kommentatoren, würde jedoch nicht zu einem radikalen Bruch mit Israel führen, da damit auch das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf dem Spiel stünde, und damit die Zukunft von milliardenschwerer Militär- und Entwicklungshilfen.


Die Proteste als Chance begreifen

Immer lauter und zahlreicher werden auch die Rufe innerhalb Israels, einen demokratischen Wandel in Ägypten offensiv zu befürworten. Eine weitverbreitete Twitter-Nachricht aus Israel wandte sich an die eigenen Mitbürger/innen: „This is not about us. It’s about them.“ Es gehe, so unter anderen auch Shlomo Avineri in Haaretz, in erster Linie um Freiheiten und verbesserte Lebensbedingungen für mehr als 80 Millionen Menschen. Dies zu unterstützen und als Chance für den Frieden zu begreifen, sei ein Bekenntnis zu guten nachbarschaftlichen Beziehungen und ein Fundament für Israels Sicherheit in der Region.
 
 
Bedeutung für die deutsche und europäische Haltung

Deutschland und die Europäische Union, ebenso die Vereinigten Staaten, müssen sich zunächst der eigenen widersprüchlichen Politik stellen, mehr Demokratie im Mittleren Osten zu fordern und in der Praxis bislang der Stabilität wegen auf die Allianz mit autokratischen Regimen gesetzt zu haben. Das Wohlwollen gegenüber den Protestierenden und der verbale Schutz der Demonstranten durch das Fordern von Gewaltlosigkeit und Dialog sind das Mindeste, was an die Adresse Mubaraks gerichtet werden sollte.

Zugleich gilt es, bei aller Empathie und notwendiger Unterstützung für die Protestbewegung, auch anzuerkennen, dass die Sicherheitslage Israels angesichts der umfassenden Veränderungen in der Region eine besondere ist, die es zu berücksichtigen gilt. Israels Befürchtungen sollten weder ignoriert noch minimiert werden. Die Unterstützung eines friedlichen Wandels in Ägypten sollte mit dem Engagement für Israels Sicherheit einhergehen. Dazu gehören auch Initiativen zur Wiederaufnahme von Verhandlungen zur Zwei-Staaten-Regelung. Angesichts des politischen Erdbebens in der Region sollte Israel alles tun, was in seiner Macht steht, um den Konflikt mit der arabischen Welt zu entschärfen und Stabilität in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu schaffen.  

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Marc Berthold ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.

Dossier

Die Bürgerrevolution in der arabischen Welt

Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews: