Die Bilder der abgeschobenen Roma aus Frankreich sorgen auch in Deutschland für Aufsehen und Empörung. Dabei gerät in den Hintergrund, dass ab Jahresbeginn 2011 rund 10.000 seit langem in Deutschland lebende Roma aus dem Kosovo von der Abschiebung bedroht sind. Viele von ihnen leben seit zwei Jahrzehnten von einer „Duldung“ zur nächsten. Dennoch ist es den Familien und ihren Kindern gelungen, hier Perspektiven und Freundschaften aufzubauen. Nun sollen sie abgeschoben werden: Ins Nichts. Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats spricht von einer „humanitären Katastrophe“. Noch kann sie verhindert werden: Durch eine Entscheidung der Innenministerkonferenz, die am 16. – 18. November in Hamburg tagt. Dafür braucht es Proteste. Und unsere Solidarität für die Betroffenen.
Unterschreiben Sie die Online-Petition gegen die Abschiebungen!
Die Öffentlichkeit aufrütteln
Von Ralf Fücks
Die Absicht, 10.000 Roma in den Kosovo abzuschieben, ist aus politischen und humanitären Gründen nicht hinnehmbar. Jeder weiß, dass die Lage dort nach wie vor politisch instabil und ökonomisch desolat ist. Es geht um Kinder und Jugendliche, die in ein Land abgeschoben werden sollen, das niemals ein Zuhause für sie gewesen ist. Es geht um Familien, die ihren Kindern hier in Deutschland durch eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung eine bessere Zukunft bieten möchten. Doch was möchte Deutschland ihnen nun bieten? Die Abschiebung in eine Zukunft voller Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Armut? Die Wahrung von Menschenrechten und Gleichberechtigung von Minderheiten sind zentrale Anliegen der Heinrich-Böll-Stiftung. Deshalb unterstützen wir die Kampagne, um die Öffentlichkeit gegen die Abschiebung der Roma aufzurütteln.
„Dies ist nicht mein Zuhause“
Von Stephan Dünnwald
Neun Jahre ist es her, dass die fünfköpfige Familie Ibrahimi, Roma aus Gjakova im Kosovo, nach Deutschland floh: getrieben von der Angst vor marodierenden albanischen Jugendlichen und Milizen, die mehrfach in den Hof der Familie eingedrungen waren und sie massiv bedroht hatten. Vor dem Krieg arbeitete Ragip Ibrahimi als Steinmetz, die Familie hatte ein Auskommen. Entsprechend nötigte uns der Satz „hier waren wir super“, mit dem Flloza Ibrahimi die Fotos von ihrem Leben in einer Flüchtlingsunterkunft in Nordbayern kommentierte, ein Schmunzeln ab. Dieser Satz beschreibt dennoch nur unzureichend, in welchem Ausmaß das Leben der abgeschobenen Familie noch immer auf Deutschland ausgerichtet ist. Die 9- bis 13-jährigen Kinder hatten in Deutschland die Schule besucht; Ragip Ibrahimi arbeitete immer mal wieder in kleinen Jobs, Flloza, die Mutter, hatte nicht nur Deutsch, sondern auch Lesen und Schreiben gelernt und eine Stelle als Küchenhilfe in Aussicht.
Eine Rückkehr?
Die Abschiebung im Juni 2007 traf die Familie völlig unvorbereitet, war ihr doch Hoffnung auf ein Bleiberecht gemacht worden. Entgegen der Anweisung des Bayerischen Innenministeriums, die Kriterien des Bleiberechts großzügig zu handhaben, nutzte die Ausländerbehörde des Landeskreises Kissingen alle rechtlichen Spielräume, um die Abschiebung durchzusetzen. Am meisten hat die Familie der abrupte Rauswurf aus Deutschland getroffen. Die Ibrahimis fühlen sich, wie der 35-jährige Familienvater Ragip Ibrahimi es ausdrückt, von Deutschland „weggeschmissen“.
Leben am Rand der Müllkippe
Im August 2007 treffe ich die Familie in der Kolonia, einer von Roma bewohnten Hüttensiedlung am Rande der Müllkippe von Gjakova. Egzon, mit 13 Jahren das älteste Kind, stottert so schwer, dass er kaum ein Wort herausbringt. Die jüngeren Geschwister Suzana und Edison wirken apathisch und desorientiert. Flloza schwankt zwischen Depressionen und Überreiztheit. Die Situation ist katastrophal. Die Familie wohnt in einem scheinbar leerstehenden Haus ohne Fenster und Tür, aus dem sie jederzeit vertrieben werden kann. Das Haus der Stiefmutter, die erste Anlaufstelle, mussten die Ibrahimis verlassen, nachdem klar geworden war, dass sie keine Reichtümer aus Deutschland mitgebracht hatten.
Aus Angst vor erneuten Angriffen albanischer Banden traut sich die die Familie kaum aus dem Haus. Ragip Ibrahimi sammelt Dosen und Plastik auf der Müllkippe, die Ausbeute bringt an guten Tagen knapp einen Euro. In unregelmäßigen Abständen erhalten die Ibrahimis kleine Überweisungen von Verwandten aus Deutschland. Die Kinder sprechen untereinander nur Deutsch, sie wissen: im Kosovo wollen, können sie nicht bleiben, sie gehören nach Deutschland.
Zwei Jahre Ungarn
Als ich die Familie im Frühjahr 2008 wieder treffe, ist ihre Lage wenig besser. Es gab kleine Reparaturen am Haus, es ist wohnlicher, Ragip Ibrahimi hat hinter dem Haus ein Klo gemauert. Auch psychisch haben sich die Ibrahimis etwas gefangen, Flloza wirkt weniger verzweifelt, Egzon kann, wenn auch nicht ohne Mühe, wieder reden. Darüber hinaus ist die Familie fest entschlossen, bei der nächsten Möglichkeit wieder nach Deutschland zu gehen. Wir diskutieren andere Optionen, etwa, innerhalb des Kosovo in eine andere Kommune umzuziehen, wo die Situation für Roma besser ist. Doch wenige Wochen nach meinem Besuch bekomme ich Post aus Ungarn. Über Serbien und Ungarn wollte die Familie mit einem Schlepper nach Deutschland, wurde jedoch schon an der serbisch-ungarischen Grenze gefasst und in ein Camp bei Debrencen gebracht. Zwei Jahre verbringt die Familie dort, bevor klar ist, dass sie zurück in den Kosovo muss. Spendenaufrufe in Bayern bringen mehrere Tausend Euro, um sie bei einem Start im Kosovo zu unterstützen. Ein erfahrener Sozialarbeiter wird mit der Betreuung beauftragt, er besorgt eine Wohnung in Prizren, wo die Familie erst einmal unterkommen kann.
Perspektive Rückkehr
Auch wenn noch keine Arbeit in Aussicht ist, die Schule den Kindern den Schulbesuch verweigert, weil die Zeugnisse aus Deutschland nicht im Original vorliegen – die Familie ist zunächst versorgt und kann sich sicher fühlen. Vielleicht haben die Ibrahimis im Kosovo eine Perspektive. Die Familie sieht das allerdings anders. Ihre Rückkehr, wie die Ausweisung ins Herkunftsland im Behördenjargon genannt wird, ergibt für die Ibrahimis – besonders für die in Deutschland aufgewachsenen Kinder – keinen Sinn. Wenn es eine Rückkehr gibt, dann nach Deutschland. Wie wenig sie als Roma im Kosovo verloren haben, wird aus einer E-Mail von Egzon Ibrahimi im September 2010 deutlich:
„… bei mir geht alles schief, weil ich noch nicht mit der Schule angefangen habe. Ich bin seit drei Monaten nur zu Hause, habe noch keine neuen Freunde und auch noch keine Tanzschule für mich gefunden. Ich kann’s kaum erwarten wieder nach Deutschland zu gehen. Bald werde ich 17, am 10. Oktober. Ich hab hier im Kosovo keine Zukunft. Ich muss bald wieder nach Deutschland reisen – allein. Ich kann nicht mehr bleiben. Das hier ist einfach nicht mein Zuhause. Wenn ich nach Deutschland komme, dann versuche ich, auch meiner Familie zu helfen. Meiner Mutter geht es gar nicht gut.“