Einleitung "Argentina Copyleft!"

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Beatriz Busaniche. Foto: FLi multimidia Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

4. Oktober 2010
Einleitung
Consumers International[1] weist in einem Bericht aus dem Jahr 2010 darauf hin, dass Argentinien in der Rangfolge derjenigen Länder, die einen restriktiven Umgang mit Autorenrechten juristisch festgeschrieben haben, an sechster Stelle steht. Nach der kürzlich erfolgten Änderung des chilenischen Rechts ist Argentinien mittlerweile das Land mit der schlechtesten Gesetzesnorm ganz Lateinamerikas, gefolgt von Brasilien, wo derzeit über eine Änderung des Gesetzes diskutiert wird.

Eine von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) durchgeführte Studie zeigt, dass nur 21 der über eine Regelung zum Autorenrecht verfügenden Länder für die Arbeit der Bibliotheken keine Ausnahmen zugestehen: darunter befindet sich Argentinien[2].
Das argentinische Gesetz macht keine Ausnahmen für Bibliotheken, die den Zugang zu Informationen und Wissen erlaubten. Zum Zwecke der Bildung werden auch keine Ausnahmen gemacht, die es erlaubten, das Recht auf Bildung in vollem Umfang auszuüben. Es gibt auch keine Bestimmung, die den Bereich der angemessenen Verwendung („Fair Use“) regelt, um Parodien oder Werkbearbeitungen zu ermöglichen. Zitate sind nur zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt und dürfen nicht mehr als 1000 Wörter oder acht Takte umfassen. In Argentinien gehört auch die ohne Erlaubnis des Autors erstellte Privatkopie zu den Straftatbeständen. Die MP3-Aufnahme einer CD, zum einfacheren Transport von Musik, das Fotokopieren einiger Kapitel eines Buches, um Passagen anzustreichen, es mitzunehmen oder es einfach zu lesen, die Zusammenstellung einer Reihe von Liedern, um sie mit jemandem zu teilen, die Aufnahme und der Formatwechsel einer audiovisuellen Produktion, das Mashup , der Remix werden als kriminelle Verhaltensweisen erachtet und stehen unter Strafe. Hinzu kommt noch, dass mehrere aufeinander folgende Gesetze zur Förderung des Buches und der Lektüre in die entgegengesetzte Richtung laufen: es sind Gesetze zur Förderung der Verlage, die ihnen Rechtsmittel für juristische Streitigkeiten liefern, um die Nutzungseinschränkungen aufrecht zu erhalten und zu vertiefen.

Als ob das nicht ausreichte, fehlt es in Argentinien auch an einem vollständigen Public Domain-Recht, denn sobald das zeitlich befristete private Monopol auf die Werke ausgelaufen ist, gehen diese in eine Form der als zahlungs- oder entgeltpflichtige Gemeinfreiheit bezeichnete Nutzungsform über. Das bedeutet, dass es nicht mehr erforderlich ist das Einverständnis einzuholen, dass aber dennoch für die Nutzung und die Weiterverbreitung der Werke zu zahlen ist.

Das Schlimmste daran ist, dass es an einer öffentlichen Debatte dazu fehlt. Die auf die kulturellen Rechte bezogenen Gesetze werden kaum bis gar nicht diskutiert und wenn es eine Diskussion gibt, dann werden nur diejenigen Vertreter dazu eingeladen, die ein Interesse an der Vertiefung von Restriktionen haben, insbesondere die Rechteverwertungsgesellschaften. Diese Verwertungsgesellschaften, die Unternehmensinteressen repräsentieren, werden in der Öffentlichkeit von wichtigen Figuren aus der nationalen Populärkultur repräsentiert. Wer würde es also wagen, eine Diskussion anzuzetteln?

Die komplexe Situation wird durch ein vollständiges Fehlen von vertieftem Sachwissen ergänzt. Die ausbleibende Debatte geht immer Hand in Hand mit einem Mangel an Wissen, Analyse und Untersuchung der gesellschaftlichen Konsequenzen restriktiver Gesetze. In Argentinien steht eine Analyse dieser Themen durch die akademische Welt noch aus und ist im Feld der Politik überhaupt nicht vorhanden.

Als reichte dies nicht aus, gesellt sich noch die Vorstellung hinzu, dass ein Gesetz, das von allen gebrochen wird, keinen Schaden anrichtet. Dies scheint zu stimmen, und tut es auch in dem Maße, in dem es normal ist, an öffentlichen Plätzen, in Parks und an den U-Bahnstationen in Buenos Aires fliegende Händler zu finden, die illegal kopierte elektronische Medien zum Kauf anbieten. Es ist normal, das Gesetz zu brechen, es ist eine Gewohnheit. Aber diese Gewohnheit bricht in sich zusammen, sobald es zu ersten Einschüchterungen, Prozessen, Drohungen kommt.

Die Gesetze entstehen aus den gesellschaftlichen Praktiken ihrer Zeit und dies sollte auch so sein. In diesen Zeiten führt uns die Praxis auf unabänderliche Art zu einem Modell, in dem das Teilen kein Vergehen sein darf und wo das Recht auf Zugang und Teilhabe an der Kultur, so wie sie ist, als unveräußerliches Recht, als Grundrecht, als wesentliches Recht eingefordert werden muss.


Die Debatte
Im Gegensatz zu den Entwicklungen in Chile, wo kürzlich umfassendere Ausnahmen und Begrenzungen des Urheberrechts in das Gesetz aufgenommen wurden und zu den Entwicklungen in Brasilien, das auf der Habenseite eine ausführliche Debatte zum Thema und ein Projekt zur Gesetzesänderung, dessen Verabschiedung einen internationalen Präzedenzfall schaffen würde, verzeichnen kann, steht dieses Thema in Argentinien nicht auf der Tagesordnung. Dieses Thema interessiert weder die politisch Mächtigen noch die Gesetzgeber und die allgemeine Öffentlichkeit ist nicht darüber informiert. So geschieht es, dass eine erhebliche Anzahl an Menschen in Argentinien kopieren und reproduzieren und das Gesetz brechen, ohne sich weder dessen bewusst zu sein, noch deswegen gravierende Konsequenzen erleiden zu müssen, weshalb eine Gesetzesänderung nicht notwendig zu sein scheint, wie Lila Pagola in ihrem Artikel in diesem Buch ausführt. Die Ignoranz eines Gesetzes rechtfertigt niemals dessen Missachtung und so kommt das Gesetz in einigen Fällen zur Anwendung und es wird auf Ermessensbasis angewendet: der in diesem Buch dargestellte Fall von Professor Horacio Potel ist ein konkretes Beispiel dafür. In dem Maße, in dem die Beibehaltung eines ungerechten Gesetzes Probleme für breite Bevölkerungsschichten schafft, führt dies zu weiteren Konsequenzen. Das Gesetz betrifft Studenten und Dozenten, die keinen Zugang zu den Bildungsmaterialien haben, Schulen mit proprietärer und illegaler Software auf ihren Maschinen und hat Auswirkungen auf die zwischen öffentlichen Universitäten und Reprographiezentren unterzeichneten Verträge. Weitere Beispiele für unerwünschte Situationen in unserem Land sind die von den Rechteverwertungsgesellschaften, die keinerlei öffentlicher Kontrolle unterliegen, eingesammelten Gelder und die einschüchternden Briefe der Nicht-Regierungsorganisation „Software Legal“ und den Verwertungsgesellschaften.

Ein weniger offensichtliches aber ebenso wichtiges Problem stellen die verwaisten Werke  dar, riesige Kultursammlungen des 20. Jahrhunderts, die dem Vergessen anheimfallen werden, wenn sie nicht in irgendeiner Form wieder angeeignet werden. Weitere Probleme, wie die der Musiker und Künstler, die sich in einem hochgradig konzentrierten Markt etablieren wollen, lassen den Sinn des Gesetzes insofern als überkommen erscheinen, als es sie nicht vor den von der Kulturindustrie und den Rechteverwertern begangenen Missbräuchen schützt. Andererseits sehen sich die Künstler mit einer langen Karriere und gesellschaftlicher Anerkennung am Zugang zu ihren nicht mehr auf dem Markt befindlichen Werken gehindert, die unter Knebelverträgen verwaltet und ausschließlich von der Unterhaltungsindustrie kontrolliert werden. Als wäre dies noch nicht genug, wird die Arbeit der Bibliotheken und der staatlichen Universitäten durch ein Gesetz, das 1933 für eine andere historische und technologische Epoche verfasst wurde, behindert und in die Illegalität getrieben.

Aber dieses Buch widmet sich nicht nur der Kritik eines derartigen Gesetzes und versucht es in Abrede zu stellen. Es legt auch über jene Projekte Rechenschaft ab, die trotz des allgemeinen Verbots gemeinsamer Nutzung, Kultur, Werke, Computerprogramme, Bücher, Gestaltungen, Pädagogik unter freiheitlichen Bedingungen produzieren. Dieses ist von jenen Projekten, Prozessen, Strategien inspiriert, die die kulturelle Produktion in einem umfassenden Sinne begreifen und für eine Demokratisierung der Kultur und des Wissens kämpfen. Dafür arbeiten sie in so unterschiedlichen Initiativen wie Wikipedia und freier Software, den öffentlichen und Volksbibliotheken, den freien Netzen, der Musik und der Gestaltung, der alternativen Kommunikation, der Bildung und der Verlagsarbeit nach dem Prinzip der freien Zirkulation des Wissens und der Information zusammen.

Vor einigen Jahren hat Eben Moglen, einer der wichtigsten Vertreter der Gemeinschaft der Entwickler freier Software, vertreten, dass der Kampf um Meinungsfreiheit in unseren Zeiten sich in vier grundlegende Pfeiler strukturiert: die freie Hardware, die freie Software, die freie Kultur und das freie Frequenzspektrum. Diese vier Pfeiler, die die Kommunikation ausmachen, sind in der digitalen Ära in gewisser Weise in den von uns entwickelten Vorschlägen für den gemeinsamen Kampf um die freie Kultur aufgenommen. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Demokratisierung der Werkzeuge unserer Zeit, der Freiheit der und der Teilhabe an der Kultur und der ungehinderten Ausübung des Rechts auf Kommunikation und Bildung.

Dieses Buch ist Ergebnis einer umfassenden kollektiven Zusammenarbeit aus verschiedenartigen Blickwinkeln, die versucht, Rechenschaft über die Notwendigkeit des Wandels der gegenwärtigen Urheberrechtssystematik abzulegen. Dies geschieht über die konkrete Praxis der gemeinschaftlichen Nutzung der Kultur und des Wissens. Pablo Ares, Gabriel Acquistapace, Luis Britos, Fabricio Caiazza (faca), Daniel Cantarín, Paula Castello, Javier Castrillo, Nicolás Echaniz, Roberto Fiadone, Javier García Alfaro, Evelin Heidel, Federico Heinz, Patricio Lorente, Santiago Marino, Inne Martino, Alejandro Mizzoni, María Eugenia Nuñez, Lila Pagola, Lucía Pelaya, Horacio Potel, Julián Roldán, Ana María Sanllorenti, Juan Pablo Suárez, Pablo Vannini, Sebastián Vazquez, Marilina Winik trugen auf verschiedene Weise zu diesen Buch bei. Sie und die Kollektive und Organisationen, denen sie angehören, stimmen in bestimmten Positionen überein und sind Teil einer sich entwickelnden Debatte.

Es gibt sicher sehr viel mehr Menschen und andere Projekte, die diese Positionen teilen und deren Arbeit sich in dieselbe Richtung entwickelt. Die Auswahl der Autoren stellt einen Ausschnitt dar, der unabhängig von dem Versuch, eine breite Vielfalt abzubilden, sicher auch ungerecht gegenüber vielen anderen Personen und Organisationen gewesen ist, die sich auf demselben Pfad befinden und nicht in dieser Veröffentlichung repräsentiert sind. In seinen offensichtlichen Grenzen ist dieses Buch nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer Debatte, die wir als dringlich und notwendig erachten.

Wir danken dem Regionalbüro Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung für das in unsere Arbeit gesetzte Vertrauen und für die Belebung dieser Debatte. Dem Hauptsitz der Stiftung in Berlin danken wir für den hervorragenden Einsatz in der Verbreitung dieses Buches.
Alle hier veröffentlichten Texte sind frei verfügbar und wurden vollständig mit Hilfe freier Software erstellt.
Wir sind fest davon überzeugt, dass der ungehinderte Zugang zur und die gemeinsame Nutzung der Kultur ein wichtiges gesellschaftliches Gut ist und wir hoffen, dass dieses Buch mit Kraft durch die Netze fließen wird und dass viele Kopien von ihm angefertigt werden und es Bearbeitungen anregt. Wenn Sie dieses Buch in ihren Händen halten oder vor sich auf dem Bildschirm ihre Computers haben, sollten Sie wissen, dass alle ihre Leserrechte garantiert sind: die teilweise oder vollständige Reproduktion mittels jedes Mediums oder Methode, einschließlich der Reprografie und der informationellen Verarbeitung sowie der Verbreitung von Exemplaren durch Ausleihe, Scannen, Verschenken, Fotokopieren und natürlich die öffentliche Ausleihe sind absolut erlaubt. Kopieren Sie dieses Buch, wir werden es Ihnen danken.

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Beatriz Busaniche, Fundación Vía Libre (Stiftung Vía Libre)

Argentina Copyleft

Die Publikation Argentina Copyleft! zeigt anhand von Beispielen, wie ein restriktives Urheberrecht den Zugang zu Bildung und Kultur erschwert oder gar unmöglich macht. Es zeigt aber auch die Vielfalt an argentinischen Initiativen, die für einen gerechten Zugang zu Wissen und Information kämpfen.

Mit Beiträgen von Beatriz Busaniche, Lucía Pelaya und Ana Sanllorenti, Evelin Heidel, Juan Suárez, Federico Heinz, Patricio Lorente, Gabriel Acquistapace, Marilina Winik, Roberto Fiadone und Horacio Potel.