Léopold Sédar Senghor: Für einen afrikanischen Weg zum Sozialismus

Auf dem ersten konstituierenden Kongress der Partei der afrikanischen Föderation hielt der spätere senegalesische Präsident Léopold Sédar Senghor eine Rede, die zu den grundlegenden Erklärungen des Aufbruchs Afrikas gegen Ende der 50er Jahre gehört. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

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Auf dem Congrès Constitutif, dem ersten konstituierenden Kongress der Parti de la Fédération Africaine („Partei der afrikanischen Föderation“), der vom 1.bis zum 3. Juli 1959 stattfand, hielt der senegalesische Politiker Léopold Sédar Senghor, der zugleich Mitglied der französischen Nationalversammlung war, eine Rede, die zu den grundlegenden Erklärungen des Aufbruchs Afrikas gegen Ende der 50er Jahre gehört. Die Abgrenzung von Kommunismus einerseits und Kapitalismus andererseits hat exemplarischen Charakter und kann in eine Reihe mit Reden und Schriften gestellt werden, die von Kwame Nkrumah und Sékou Touré bis zu Patrice Lumumba und Julius Nyerere reicht.

Perspectives Afrika: In dieser englischsprachigen Publikationsreihe wollen wir Fachleuten aus Afrika eine Plattform bieten, ihre Ansicht zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ihrer Regionen zu veröffentlichen. Perspectives Africa legt dabei den Fokus auf Standorte im Süden, Osten und Westen des Kontinentes an denen die Heinrich-Böll-Stiftung mit Regionalbüros vertreten ist.

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„…Wir sind keine Kommunisten. Bedeutet das, dass wir Antikommunismus betreiben? Keineswegs. Antikommunismus, „Hexenjagd“, kann nur ein Resultat haben: die Ost-West-Spannung zu steigern, den Kalten Krieg zu unterhalten, der offensichtlich einen dritten Weltkrieg auszulösen droht. Die Menschheit würde sich von ihm nicht mehr erholen. Wir sind aus einem theoretischen Grund keine Kommunisten. Ihr erinnert euch an Lenins Definition der Materie. Sie ergibt sich aus einer einseitigen Konzeption, aus einem nur materialistischen und deterministischen Postulat. Stalin schreibt am Anfang von Anarchismus oder Sozialismus?: „Der Marxismus ist nicht nur die Theorie des Sozialismus, sondern eine in sich geschlossene Weltanschauung, ein philosophisches System...“. Wir sind auch aus einem praktischen Grund keine Kommunisten. Denn die Sorge um die Menschenwürde, die Forderung der Freiheit - Freiheiten des Menschen, Freiheiten der Kollektivitäten -, die Marxens Denken beseelen und ihm sein revolutionäres Ferment geben - diese Sorge und diese Forderung werden vom Kommunismus, dessen wichtigste Spielart der Stalinismus darstellt, verkannt.

Die „Diktatur des Proletariats", die nur eine vorübergehende Etappe sein sollte, wird zur Diktatur des Staates und der Partei und verewigt sich. „Der Sowjetunion'" sagte uns Mamadou Dia bei seiner Rückkehr aus Moskau, „ist der Aufbau des Sozialismus gelungen, aber die Religion, die Seele hat dabei Schaden gelitten." Das Paradox des sozialistischen Aufbaus in den kommunistischen Ländern, wenigstens in der UdSSR, besteht darin, dass er mehr und mehr dem kapitalistischen Aufbau in den Vereinigten Staaten von Amerika ähnelt, dem american way of life mit hohen Löhnen, Kühlschränken, Waschmaschinen und Fernsehempfängern; abzüglich einer gewissen Freiheit des Denkens und der Kunst.

Deswegen sind wir nicht für das Regime des liberalen Kapitalismus und des free enterprise. Wir können die Augen nicht verschließen vor der Rassen-Segregation, mag auch die US-Bundesregierung sie bekämpfen, und auch nicht davor, dass der materielle Erfolg zum Rang eines Lebensstils erhoben wird. Wir sind für einen mittleren Weg, für einen demokratischen Sozialismus, einen Sozialismus, der bis zur Integration spiritueller Werte geht, einen Sozialismus, der an die alte ethische Strömung der französischen Sozialisten anknüpft.

Historisch und kulturell stehen wir in dieser Strömung. Im Übrigen sind die französischen Sozialisten - von Saint-Simon bis zu dem Léon Blum von A I'échelle humaine nicht so utopisch, wie man behauptet. In dem Maße, wie sie Idealisten sind, antworten sie auf die Forderungen der negro-afrikanischen Seele, auf die Forderungen des Menschen aller Rassen und aller Länder. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, das ist der Titel des Romans von Dudinzew, eines Sowjetrussen, den die Russen in einem Zug lasen. Chruschtschow verhehlt sich das nicht: Die Entstalinisierung wurde von der Basis erzwungen, vom Streben nach Freiheit, vom Hunger nach „spiritueller Nahrung".

Zum Abschluss seiner Reportage über die Deutsche Demokratische Republik (das kommunistische Deutschland) schreibt Michel Bosquet: „Aber als ich ihn frage (den Vorsitzenden der Gewerkschaftsleitung im Betrieb 8. Mai), was die Arbeiter fordern, antwortet er: ,Heute wollen sie Fernsehen und Motorrad. Wenn sie das einmal haben, werden sie Verkürzung der Arbeitszeit fordern ... Danach? Ich kann Ihnen nur meine persönliche Antwort geben ... Was ich gern hätte, was mir fehlt, ist mehr gute Literatur.“

Dieses Faktum stellen wir neben ein anderes Faktum - aus Amerika: das Interesse für das kontemplative Leben als Reaktion gegen den Maschinismus der Umwelt. Die Proportion von Priestern und Ordensleuten ist bei den amerikanischen Katholiken so hoch wie sonst kaum auf der Welt.

Dieses Verlangen nach Freiheit, dieser Hunger nach spiritueller Nahrung, verstärkt durch die moralische Tradition des französischen Sozialismus, erklären, warum so viele französische Marxisten sich in den letzten Jahren vom Stalinismus und sogar vom Kommunismus distanzierten: Henri Lefebvre, Pierre Fougeyrollas, Edgar Morin neben anderen, die uns in schmerzvollen und klaren Büchern ihre Gründe vorlegen. Ihr wichtigster und gemeinsamer Grund ist, dass die Partei heute den einzelnen unter dem Kollektiv vergisst, die Person unter der Klasse, dass sie die Realität hinter dem Schirm der Ideologie verbirgt.

Wenn wir über diese Fälle nachdenken, entdecken wir, dass Marx selbst „in Frage gestellt“ wird, nicht nur der Marxismus - außer vielleicht von Lefebvre. Denn wenn der Marxismus die Person ignoriert, so deshalb, weil Marx jene „natürliche Determination“ nicht genügend beachtete, die Nation heißt und die durch die Klasse nicht ausgelöscht wird. Marx unterschätzte den politischen und nationalen Idealismus, der mit der Revolution von 1789 in Frankreich aus den Ruinen der alten Vaterländer geboren wurde und die ganze Welt gewann, während er in Frankreich selbst immer stärker wurde. „Gerechtigkeit''', schreibt Marx, „’Menschheit', ‚Freiheit’ ,Gleichheit’ ,Brüderlichkeit’ ‚Unabhängigkeit’ ... ,diese mehr oder weniger moralischen Kategorien, die so schön klingen, aber in historischen und politischen Fragen absolut nichts beweisen ....“ Hört ihr: Unabhängigkeit. Wenn der Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus heute auf die Erde zurückkehrte, würde er voller Schreck erkennen, dass diese „Chimären“, wie er sie nennt, und allen voran die Nation, lebendige Realitäten des 20. Jahrhunderts sind.

Was blieb von der Revolution des Jahres 1789? Eine politische Doktrin und Technik, die heute selbst von gläubigen Katholiken akzeptiert werden. Der „Kult der Göttin Vernunft“ war nur ein Strohfeuer. An diesem Beispiel ernüchtert sich der Marxismus. Von ihm wird gewiss eine Wirtschaftsdoktrin und eine Wirtschaftstechnik bleiben, umso mehr, da diese an sich weder den christlichen noch den islamischen Lehren widersprechen - ganz im Gegenteil.

Jetzt jedoch ist eine dritte Revolution im Gange, als Reaktion auf den kapitalistischen und den kommunistischen Materialismus, und sie wird die moralischen (wenn nicht religiösen) Werte mit den politischen und wirtschaftlichen Beiträgen der beiden großen Revolutionen integrieren. In dieser Revolution müssen die farbigen Völker, die Negro-Afrikaner neben anderen, ihre Rolle spielen; sie müssen ihren Beitrag zum Aufbau der neuen planetarischen Zivilisation leisten. Wie Aimé Césaire sagt, „sie werden nicht mit leeren Händen zum Rendez-vous des Gebens und Empfangens kommen. …“

Entnommen aus: Franz Ansprenger, Politik im Schwarzen Afrika. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1961

 
 

Léopold Sédar Senghor - Staatsmann, Poet, Weltbürger und afrikanischer Europäer

Der senegalesische Dichter und Präsident Léopold Sédar Senghor (geboren 1906 in Joal, Senegal, gestorben 2001 in Frankreich) gehört zu den legendären Persönlichkeiten Afrikas. Vom Zeitpunkt der Unabhängigkeit seines Landes am 20. August 1960 bis Ende 1980 war er Präsident des Senegal. Anders als viele andere afrikanische Präsidenten trat er Ende 1980 freiwillig vom Amt zurück und überließ es seinem designierten Nachfolger Abdou Diouf, der bereits vorher Ministerpräsident der Republik Senegal gewesen war.

Schon sein persönlicher und politischer Werdegang zeigt, wie sehr es ihm um Verbindung des kaum miteinander Versöhnlichen ging.1928 ging er zum Studium nach Paris, wo er 1933 an der Gründung der Vereinigung westafrikanischer Studenten beteiligt war. Er befasste sich eingehend mit europäischer Literatur und erlangte 1935 als erster Afrikaner den Hochschulabschluss in klassischer Philologie. Mittlerweile war er französischer Staatsbürger geworden. Schon früh begann er, Gedichte zu schreiben. Zusammen mit Aimé Césaire und weiteren Intellektuellen aus dem frankophonen Afrika und der Karibik entwickelte er die Idee der Négritude, die auf besondere Weise dem Selbstbewusstsein Schwarzer Ausdruck verleihen sollte.

1940 geriet er als französischer Offizier in deutsche Kriegsgefangenschaft und entging nur knapp seiner Erschießung zusammen mit anderen Soldaten schwarzer Hautfarbe. Als Kriegsgefangener las er u. a. Schriften des deutschen Afrikaforschers und – Wissenschaftlers Leo Frobenius, was seine Weiterentwicklung des Konzeptes der Négritude beeinflussen sollte.

Nach der Befreiung 1945 arbeitete er zunächst wieder als Gymnasiallehrer, wurde aber noch 1945 Abgeordneter der damaligen Sozialistischen Partei Frankreichs SFIO in dem den neuen Wahlbezirk Senegal-Mauretanie. 1946 heiratete er die Tochter des Generalgouverneus für Französisch-Äquatorialafrika, des aus der Karibik stammenden Félix Éboué, der ein einflussreicher Förderer der afrikanischen nationalen Bewegungen werden sollte. 1948 wurde Senghor Mitbegründer des gemäßigten linken Bloc démocratique sénégalais und ab 1951 Staatssekretär. Er blieb eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten der Union Française bis zu deren Ende 1960 und der Unabhängigkeit seines Landes am 20. August 1960.

Neben seiner politischen Arbeit ging es ihm freilich auch immer um den Kontakt mit Kulturschaffenden. Schon 1950 hatte sich Senghor mit dem deutschen Schriftsteller Janheinz Jahn angefreundet, dessen Übersetzungen und Publikationen das (westdeutsche) Afrikabild entscheidend änderten und modernisierten, woran Senghor einen gewissen Anteil hatte, zumal er sich gelegentlich rühmte, Goethes Gedichte im Original gelesen zu haben. Als weiteres Beispiel der Bemühungen Senghors um Verständigung zwischen Afrika und Europa lud er 1978 den in Paris angesehenen ehemaligen NS-Bildhauer Arno Breker zu einem Afrika-Besuch ein. Der Künstler porträtierte Senghor zum Auftakt eines Afrika-Zyklus.

1968 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, wobei seine Vorstellung eines europäisch-afrikanischen Humanismus im Vordergrund stand. Im Vorfeld dieser Auszeichnung kam es in Frankfurt am Main zu öffentlichem Protesten weil, wie es hieß, Senghor ein „afrikanischer Ideologe des Kolonialismus und Neokolonialismus“ sei. Zuvor hatte es in der senegalesischen Hauptstadt Dakar im Mai 1968 einen Generalstreik gegeben, in dessen Verlauf Armee und Polizei eingriffen und es eine nicht mehr zu verifizierende Zahl von Toten gab (besonders unter Studenten).

Im Juni 1983 wurde Senghor als erster Afrikaner Mitglied der Académie française. Auch erhielt er nach seinem Abgang als Politiker und Präsident noch eine ganze Reihe von Auszeichnungen in Afrika, Frankreich und andernorts; so wurde 1990 im ägyptischen Alexandria eine neu gegründete Universität nach ihm benannt.

Von Kritikern aus unterschiedlichen ideologischen Lagern wurde Senghor oft vorgeworfen, dass er sich kulturell und politisch zu sehr an Europa orientiere und zu wenig versuche, eine eigenständige afrikanische Identität aufzubauen. Zudem habe er sich den ehemaligen Kolonialmächten gegenüber zu versöhnungsbereit gezeigt.

Seine große Bedeutung als Staatsmann und Poet hat das in Afrika und auch in Europa freilich kaum beeinträchtigt.

 
 
 

Dossier

50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika

Das Jahr 1960 war für viele Afrikaner/innen ein Jahr der Hoffnungen. 17 Länder erlangten die Unabhängigkeit von den kolonialen Mächten. Das Dossier soll „Blitzlichter“ auf die Länder werfen, die 1960 unabhängig wurden: mit ganz persönlichen Beiträgen. Daneben gibt es Hintergrundartikel von renommierten Autoren aus Deutschland und verschiedenen Ländern Afrikas sowie Auszüge aus den Reden, Schriften und Kurzporträts, die die Aufbruchstimmung von 1960 deutlich machen.