Nationalstaat ohne ethnische Einheit - Bürde und Ideal

Auf den ersten Blick erscheinen die Probleme des afrikanischen Kontinents ebenso gravierend wie ihre Ursachen evident: Gesellschaftliche Konflikte in vielen Teilen Afrikas, bis hin zum Völkermord, werden auf die angeblich uralten Spannungen „Ethnien“ zurückgeführt. Die Realität und ihre Hintergründe stellen sich deutlich anders dar. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

Auf den ersten Blick erscheinen die Probleme des Kontinents ebenso gravierend wie ihre Ursachen evident: Gesellschaftliche Konflikte in vielen Teilen Afrikas, bis hin zum Völkermord, werden auf die angeblich uralten Spannungen zwischen „Stämmen“ oder feiner ausgedrückt, zwischen „Ethnien“ zurückgeführt. Derartig verkürzte Einschätzungen nähren sich von einer Wirklichkeit, die ihnen auf den ersten Blick Nahrung gibt: unterschiedliche Gruppen leben in Staaten zusammen, die ein häufig buntes Gemisch von Religions- und Sprachgruppen aufweisen und zudem Grenzen haben, die schon beim flüchtigen Betrachten der Landkarte als unnatürlich erscheinen, da sie offenkundig mit dem Lineal gezogen wurden. So erscheint es vielen, und so wird es meist medial vermittelt.

Perspectives Afrika: In dieser englischsprachigen Publikationsreihe wollen wir Fachleuten aus Afrika eine Plattform bieten, ihre Ansicht zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ihrer Regionen zu veröffentlichen. Perspectives Africa legt dabei den Fokus auf Standorte im Süden, Osten und Westen des Kontinentes an denen die Heinrich-Böll-Stiftung mit Regionalbüros vertreten ist.

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Die Realität und ihre Hintergründe stellen sich deutlich anders dar. Im Folgenden sollen gegenüber der geläufigen Erzählung einige Gesichtspunkte geltend gemacht werden, die das Bild der aktuellen Krisen in Afrika, insbesondere vom Verhältnis von Staat und Ethnizität, wesentlich modifizieren. Hoffentlich wird damit dem Bild Afrikas etwas von jener Exotik genommen, die der immer noch weitverbreiteten Vorstellung von urtümlichen Stammeskonflikten anhängt und sie für manche so glaubwürdig macht.

Ethnizität: Fiktion und Wirklichkeit

Wer sich ein wenig mit Formen ethnischer Identifikation und Mobilisierung in Afrika und anderswo beschäftigt, stößt recht bald auf einen Sachverhalt, der dem umrissenen Augenschein krass zuwiderläuft: Die meisten der Ethnien, von deren Konflikten unsere Medien berichten, blicken in Wirklichkeit auf eine recht kurze Geschichte zurück. Oft entstanden sie erst während der Kolonialzeit. Die Berliner Afrika-Konferenz von 1884-85, auf der die Prinzipien der Aufteilung des Kontinents unter die europäischen Kolonialmächte beschlossen wurden, hatte nämlich zunächst einmal weniger tatsächliche Grenzen zum Ergebnis, als vor allem einen zentralen Grundsatz: den der Kontrolle. Erhoben die verschiedentlich miteinander konkurrierenden Mächte territoriale Ansprüche, so mussten sie dafür ihre „effektive Kontrolle“ über die künftigen Kolonialgebiete nachweisen. Das bedeutete, die Kolonisatoren benötigten afrikanische Partner. Mit ihnen wurden zunächst sogenannte Schutz-Verträge geschlossen, danach agierten sie oft als lokale Vertreter der Kolonialmacht. Dafür mussten diejenigen herhalten, die sich gerade vorfanden. Oft wurden Männer (Frauen wurden hier eher an den Rand gedrängt) ausgewählt, die über Reichtum oder Gefolgschaften verfügten, und die sich eine „traditionelle“ Basis erst im Nachhinein schufen. In anderen Fällen wurden eher unbestimmte, fließende Verhältnisse für fest und stabil erklärt, um den Verträgen Glaubwürdigkeit zu verleihen. In diesem Prozess wurden durchaus auch vorkoloniale Zusammenhänge durch die entstehenden Grenzen zerschnitten, soweit es die Staatsmacht vermochte, ihnen Realität zu verleihen. Solche Eingriffe wurden sicherlich als schmerzhaft empfunden oder gaben auch Anlass zu häufig lukrativen Geschäften. Auch kam es in solchen Fällen zur Reorganisation von Ethnizität innerhalb der neu geschaffenen Grenzen. Insgesamt löste die Kolonisierung aber eine Neubestimmung von Ethnizität und allgemeiner, kollektiver Identifikationen aus.

Die Kolonisierung und damit die Etablierung kolonialer Staatlichkeit bedeutete massive Gewalteinwirkung, auch wenn die Kolonialmetropolen meist nicht in der Lage waren, flächenmäßig einheitliche Verwaltungsapparate aufzubauen. Die massivsten Eingriffe bestanden in der Erhebung von Steuern sowie in der Rekrutierung von Arbeitskräften und auch Soldaten. Beides erforderte die statistische Erfassung und minimale Kontrolle der in den kolonialen Territorien lebenden Menschen. Sie waren daher immer wieder in unterschiedlicher Form mit dem Kolonialstaat konfrontiert. Diese Erfahrungen wirkten sich auch auf die Bestrebungen aus, die Kolonialherrschaft zu beenden.

War der primäre Widerstand gegen die koloniale Eroberung im Wesentlichen von bestehenden politischen Einheiten, Königen oder Häuptlingen ausgegangen, so änderte sich dies spätestens während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Gewerkschaften, aber auch religiöse Erweckungsbewegungen spielten eine bedeutende Rolle. Wo immer es sich um ausdrücklich politische Bewegungen handelte, stellte jedoch zunehmend die durch die koloniale Aufteilung des Kontinents vorgegebene Gliederung in einzelne Territorien den Bezugsrahmen dar. Die staatliche Unabhängigkeit im Rahmen dieser bestehenden Gliederung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durchgängig zur Forderung der verstärkt auftretenden antikolonialen Bewegungen. Auch die Vertreter einer panafrikanischen Perspektive, die wie etwa Kwame Nkrumah (britische Kronkolonie Goldküste, das unabhängige Ghana) längerfristig bestehende Grenzziehungen zu überwinden suchten, verfolgten ihre praktischen politischen Projekte im Rahmen eines antikolonialen Nationalismus.

Die antikolonialen Bewegungen in Afrika artikulierten sich demnach ähnlich wie in anderen Teilen der kolonisierten Welt, insbesondere in Ost- und Südostasien, während ihrer entscheidenden Phase als nationale Bewegungen: Oberstes Ziel war die Schaffung eines unabhängigen Nationalstaates. Das Abschütteln des kolonialen Jochs schien zunächst gleichbedeutend zu sein mit der Einsetzung einer aus dem eigenen Land stammenden – zunächst formal demokratisch legitimierten – Regierung, dem Einholen der Flagge der Kolonialmacht und dem Hissen der Flagge des neu geschaffenen souveränen Staates. Dieser wurde sogleich in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen willkommen geheißen und bald auch in die Machtspiele des damals anhaltenden Kalten Krieges mit einbezogen. Die Euphorie, der „Wind des Wandels“, den der britische Premierminister Harold Macmillan durch Afrika wehen sah, verflog jedoch rasch. Vielen erschienen die Insignien der Unabhängigkeit bald nicht als Garanten von „Uhuru“, der noch zu erringenden Freiheit, sondern eher als äußerliche Symbole. Damit war im Grunde die Frage nach dem Staat, seiner Rolle und seinem Charakter im postkolonialen Afrika aufgeworfen. Diese Problematik hat sich ungeachtet wichtiger Verschiebungen bisher als dauerhaft erwiesen.

Das Scheitern des Entwicklungsstaates

Eine wesentliche und mittlerweile bitter enttäuschte, wenn auch nicht gänzlich aufgegebene Hoffnung richtete sich auf „Entwicklung“. Im Grunde ging und geht es dabei um mehr als um die Überwindung der Armut; die Erwartungen richteten sich auch auf ein besseres Leben, letztlich oft entsprechend den Konsumstandards, die vom Westen kommuniziert und früher von den Kolonialherren, heute von afrikanischen Eliten und ausländischen Entwicklungsexperten vorgelebt wurden. Frantz Fanon, der 1961 verstorbene bedeutende Theoretiker der Folgen des Kolonialismus, beobachtete schon früh klarsichtig, dass kein Tag vergehe, an dem der Kolonisierte sich nicht in seiner Vorstellung an die Stelle des Kolonialherrn setzen wolle. Diese vielschichtige Überlegung verweist besonders auf das hegemoniale Entwicklungsmodell, dem die Regierungen der unabhängig gewordenen Staaten auf dem Anschein nach recht unterschiedlichen, oft kontroversen Pfaden nachstrebten. Gleichviel aber, ob wie in Tansania unter der Parole „Vertrauen auf die eigenen Kräfte“ und unter weitgehender Abschottung vom Weltmarkt ein afrikanischer Sozialismus geschaffen werden sollte oder wie im benachbarten Kenia oder in der Elfenbeinküste Entwicklung durch enge Anlehnung an den Weltmarkt und den Westen inszeniert werden sollte – dem Staat wurde die zentrale Rolle als Motor dieses Prozesses zugewiesen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten damit einer Linie folgten, die bereits in den letzten Jahrzehnten der Kolonialherrschaft seit 1940 vorgezeichnet war. Der mit der Unabhängigkeit vollzogene Bruch erscheint daher noch geringer, als vielfach angenommen.

Das Konzept des Entwicklungsstaates hatte einschneidende politische Konsequenzen. Auf unterschiedlichen Wegen wurden in den meisten afrikanischen Staaten bald Einparteienregime etabliert, deren wesentliche Legitimation in dem Anspruch bestand, alle Kräfte der Nation im Interesse der Anstrengung einer nachholenden Entwicklung zu bündeln und hinderliche Streitigkeiten auszuschalten. Damit wurde das Bild einer nicht nur harmonischen, sondern auch dynamischen Nation gezeichnet, die einig an dem großen gemeinsamen, nationalen Projekt der Entwicklung arbeitet. Interne Zwistigkeiten konnten in diesem Diskurs nur als schädlich erscheinen. Das bedeutet, dass politische Debatten oder das Austragen gesellschaftlicher Widersprüche bestenfalls in sehr beschränktem Maß möglich waren und geduldet wurden. Vorausschauende und radikale Theoretiker wie Amilcar Cabral, Führer der nationalen Befreiungsbewegung in Guiné-Bissau und Kapverde, hatten erkannt, dass die Frontstellung gegen die Kolonialherrschaft vorhandene gesellschaftliche Konflikte zwar suspendiert hatte, diese aber nach der Überwindung des Kolonialismus wieder aufbrechen würden. Das Festhalten an der nationalen Einheitsrhetorik, die auch heute noch allgegenwärtig ist, läuft darauf hinaus, diese Unterschiede und Interessengegensätze zu leugnen. Auch in Regimen, die nicht für krasse Menschenrechtsverletzungen bekannt waren, etwa in Julius Nyereres Tansania oder Kenneth Kaundas Zambia, wurden Dissidenten ins Exil gedrängt oder wurden Opfer harter Repression.

Demokratiebewegungen und ethnisch kodierte Konflikte

Aus heutiger Sicht mutet die Vorstellung vom Entwicklungsstaat fast ein wenig irreal an. Längst verfolgt die Entwicklungspolitik der OECD-Staaten, inzwischen aber auch Chinas und anderer Geber auch in offiziellen Verlautbarungen nicht (mehr) das Ziel, Entwicklung nach westlichem Muster nachzuholen. Sie beschränkt sich auf Armutsbekämpfung, die das bestehende internationale und nationale Wohlstandsgefälle allenfalls erträglich machen soll. Der Entwicklungsstaat geriet spätestens in den 1970er Jahren mit Ölpreisschock und sinkenden Erlösen für afrikanische Rohstoffexporte in seine finale Krise. Es folgten die Verschuldungskrise und Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre sowie seit den 1990er Jahren die Verlagerung der nun deutlich reduzierten Entwicklungshilfe von staatlichen Instanzen auf Nicht-Regierungsorganisationen sowie der Druck zu politischen Reformen im Rahmen einer Zusammenarbeit, die an spezifische Bedingungen gebunden war („Konditionalität“). Aber auch die für viele Beobachter und Analytiker mit überraschender Wucht auftretenden Demokratiebewegungen zeigten die Unzufriedenheit breiter Schichten mit den bestehenden Verhältnissen. Dies war gerade auch dort zu sehen, wo es wie etwa in Zaire (heute Demokratische Republik Kongo, DRC) oder bis zur Gegenwart in Zimbabwe diesen Bewegungen nicht gelang, einen Regimewechsel herbeizuführen. Auch in Ländern, wo es zu Mehrparteiensystemen kam, verbanden offensichtlich viele der zunächst begeisterten Wählerinnen und Wähler mit diesem Wechsel das Versprechen materieller Verbesserungen, die oft genug nicht eintraten. Dies kann als eine der Ursachen für die drastisch rückläufige Wahlbeteiligung verstanden werden.

Ungeachtet all dieser Veränderungen hat sich am Zustand der staatlichen Apparate und an der Orientierung der staatlichen Eliten an Renteneinkommen aus Rohstofferlösen oder aber aus Entwicklungshilfegeldern wenig geändert. Diese Situation hat auch dort, wo es nicht zum viel berufenen Staatsverfall wie in Somalia oder der DRC gekommen ist, immer wieder wesentlichen Zündstoff für massive Äußerungen des Protests und auch für gewaltsame Konflikte geliefert. Beispiele sind die teils ethnisch, teils religiös kodierten Auseinandersetzungen in Nigeria oder die ethnisch-politischen Konflikte in Kenia. Gerade in diesem letzteren Fall hat die sozial- und politikwissenschaftliche Forschung recht klar herausgearbeitet, dass sich hier soziale Konflikte mit der Manipulation ethnischer Loyalitäten durch die politischen Machthaber verschränkten. Zu diesen Prozessen gehören auch die Polarisierung wichtiger ethnischer Gruppen in wenige Reiche und eine große Anzahl Armer sowie die durch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ausgelösten Migrations- und Urbanisierungsprozesse. Kenia, wo es nach den umstrittenen Wahlen im Dezember 2007 zu erschreckenden Szenen ethnisch artikulierter Gewalt gekommen ist, zeigt gerade nachdrücklich, dass die Ursachen dieser Ereignisse nicht im Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen liegen. Vielmehr führen schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisenerfahrungen bis hin zur existenziellen Gefährdung dazu, dass zahlreiche Menschen sich in die scheinbare Sicherheit des ethnischen Kollektivs flüchten. Soziale Konflikte werden auf diese Weise ethnisch kodiert.

Das überraschende Beharrungsvermögen des Nationalstaates

Wenn man sich die Geschichte der afrikanischen Staaten seit der Unabhängigkeit vor Augen führt, so sind die schweren Gewaltkonflikte und Kriege unübersehbar. Meistens handelte es sich um innerstaatliche Konflikte. Betrachtet man dieses oft erschreckende Geschehen genauer, so zeigt sich aber, dass in den seltensten Fällen der einmal gegebene staatliche Zusammenhang in Frage gestellt wurde. Das einzige Beispiel, wo dies effektiv geschehen ist, ist Somalia, bei dem es sich um einen der wenigen afrikanischen Staaten handelt, die schon im Namen ethnische Homogenität signalisieren. In Wirklichkeit zeigt dieser Fall, dass Identitätsprozesse zu fast beliebigen Aufspaltungen führen können, weil Unterscheidungsmerkmale für eine einmal aus welchen Gründen auch immer identifizierbare Feindgruppe immer leicht auffindbar sind. Beispiele für staatliche Neubildungen sind die Abspaltung Eritreas, eines ethnisch sehr heterogenen Gebietes, von Äthiopien unter Berufung auf koloniale Grenzen und einen spezifischen völkerrechtlichen Status sowie neuerdings die absehbare Selbständigkeit Südsudans unter Berufung auf regionale und religiöse Differenzen und Konflikte, bei denen die Ressourcenfrage unverkennbar eine zentrale Rolle spielt. Ein Fall einer durch einen blutigen Bürgerkrieg verhinderten Sezession ebenfalls hauptsächlich auf der Grundlage regionaler Unterschiede und teilweise ethnischer Identifikationen war der Biafra-Krieg. Da ging es Ende der 1960er Jahre um den Versuch, die Südost-Region Nigerias abzuspalten und zu einem eigenen Staat auszurufen. Man könnte noch die Autonomie-Bestrebungen in der Casamance, der durch Gambia stark vom Rest des Landes abgesetzten Südregion Senegals nennen.

Alle anderen, ungleich zahlreicheren Konflikte haben, auch wenn sich die Parteien der Sprache der Ethnizität bedienten, den Bezugsrahmen der bestehenden Nationalstaaten nicht in Frage gestellt. Sezession war hier kein Thema, wie es auch der Verabredung in der 1963 gegründeten Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) entsprach, Forderungen nach Grenzkorrekturen spielten höchstens am Rand eine Rolle. Es ging dann viel eher darum, wer innerhalb der bestehenden Staaten die politische Macht erobern und sich so die Voraussetzungen dafür sichern kann „zu essen“, wie eine vielzitierte Redewendung es formuliert. Dazu gehören sicher auch die Prozesse einer föderalen Aufsplitterung im Innern, die in Nigeria seit der Unabhängigkeit dazu geführt haben, dass sich die Anzahl der Gliedstaaten mehr als verzehnfacht hat.

Zugleich ist das weltweit bekannte Phänomen der mehrfachen, verschachtelten Identifikationen zu berücksichtigen. Wenn sich Leute außer als Tansanier auch noch als Wachagga oder Maassai, zudem eventuell noch als Afrikaner verstehen, so unterscheidet sich dies zunächst einmal nicht grundsätzlich von der gleichzeitigen Identifikation als Deutsche, Hessen und Europäer. Und auch der bei deutschen Regierungsbildungen sorgsam beachtete Regionalproporz würde in anderen Weltregionen vielleicht als Tribalismus angesprochen. Wesentlich ist dabei, wie genau die einzelnen Identifikationen besetzt sind – ob Fremdwahrnehmungen und Ressentiments sich zu Feindschaften auswachsen oder zu Scherzbeziehungen heruntergeschraubt werden können. Wie bereits angedeutet, stehen solche Lösungsmöglichkeiten keineswegs beliebig zur Verfügung. Ethnisch kodierte Konflikte sind als Konflikte ernst zu nehmen, auch und gerade, wenn sie als solche auf ihren gesellschaftlichen Gehalt hin befragt werden müssen.

Basislegitimität des staatlichen Rahmens

Man darf annehmen, dass der nationalstaatliche Rahmen in weiten Teilen Afrikas eher aufgrund einer Art Basislegitimität respektiert wird, d.h. aufgrund der Leistungen und der Alltagspräsenz, mit der er sich ins Bewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger einzuprägen vermag. Dazu gehört die gewöhnlich mit „Sicherheit“ bezeichnete Garantie einer halbwegs verlässlichen Gewaltordnung ebenso wie ein nationales Projekt, etwa „Entwicklung“. Identifikationen sind noch angesichts des Versagens gegenüber solchen Ansprüchen und Versprechen erkennbar – etwa in dem Satz, den ich 1984 in Dar es Salaam zu hören bekam: „Tanzania nchi shit“, „Tansania ist ein Scheißland“. Auch dann ist „Tansania“ – das steht hier für viele Länder Afrikas, in denen ähnliche Sätze zu hören sind - aber keineswegs irrelevant, sondern nachdrücklich mit negativen Bewertungen aufgeladen.

Wenn der Staat oder die Regierung sich nicht mehr legitimieren können, sind die Reaktionen keineswegs ausgemacht. Frustrationen oder die Konkurrenz um Ressourcen können zu ethnisch kodierten Konflikten führen; Resignation und das Verfolgen partikularer Überlebensstrategien sind zweifellos weit verbreitet und können wiederum zur Herausbildung oder Festigung ethnischer Gruppen führen. Die Empörung gegen Korruption, Inkompetenz und Zynismus kann aber auch ganz andere Formen annehmen. So artikulierte die wesentlich aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene Movement for Democratic Change (MDC) in Zimbabwe seit 2000 eine ausdrückliche Abkehr vom forcierten Nationalismus der aus der Befreiungsbewegung hervorgegangenen, inzwischen diktatorisch regierenden ZANU-PF und klagte demokratische Reformen und verantwortliche Regierungsführung ein. Bei der auch nach Bildung einer Einheitsregierung anhaltenden Konfrontation mit der ehemaligen Monopolpartei spielen die zuvor stark beachteten ethnischen Gegensätze zwischen Shona und Ndebele offensichtlich keine entscheidende Rolle mehr. Umgekehrt beruft sich das Mugabe-Regime auf die hart erkämpfte nationale Unabhängigkeit, um internationale Kritik abzuwehren. Bei aller Konfrontation wird der Rahmen „Zimbabwe“ nicht hinterfragt.

Vor dem Hintergrund einer deutlich von Zimbabwe unterschiedenen Entwicklung nach der Unabhängigkeit lassen sich die Konflikte, die seit nunmehr über einem Jahrzehnt das einstige Musterland Elfenbeinküste erschüttern, doch ähnlich einordnen. Hier spielen Kollektividentitäten eine wesentliche Rolle, doch beziehen diese sich weniger auf ethnische Gruppen als dass sie gegen Migranten aus westafrikanischen Nachbarstaaten gerichtet sind oder eine starke regionale Färbung im Gegensatz des islamischen Nordens gegenüber dem christlichen Süden aufweisen.

Der Umgang von Nationalstaaten mit Vielfalt

Diese Schlaglichter können vor allem darauf verweisen, dass ein genauerer und stärker differenzierender Blick notwendig ist, wollen wir aktuelle Entwicklungen und Probleme – auch – in Afrika verstehen. Vorschnelle Interpretationen und Schein-Evidenzen helfen nicht weiter. Gerade angesichts des zimbabwischen Beispiels lohnt es sich aber, noch eine andere Perspektive einzunehmen. Die Entstehung des Nationalstaates vor 220 Jahren in der Französischen Revolution war ja nicht mit ethnischem oder kulturellem Pathos verknüpft. Das kam erst später. Es ging vielmehr darum, dem Verfügungsanspruch der Königs-Dynastie über den Staat jenen der Grande Nation entgegenzusetzen, die zugleich die vielen kleinen nations einschließen sollte. Damals sprachen 20% der Bevölkerung Französisch, und was folgte, war ein massiver, mit Mitteln der Bürokratie, der Schule, aber auch manifester Gewalt durchgesetzter Homogenisierungsprozess. In der Vendée kam es dabei zu einem Massaker, das heute gelegentlich als Völkermord eingestuft wird. Das heute in Frankreich, Deutschland oder Italien zu beobachtende Ausmaß an Homogenität ist alles andere als natürlich und mindestens mit erheblichem Druck, meist mit manifester Gewalt erkauft. Beides gilt es zu bedenken, wenn das Bild ethnisch homogener Nationalstaaten völlig unhistorisch auf andere Regionen der Welt projiziert wird: die Frage, wem der Staat „gehören“ soll und die homogenisierende Tendenz von Nationalstaaten sowie ihre Modifikationen.

Eine Tendenz zur sprachlichen und kulturellen Assimilation ist dem Nationalstaat offenbar eingeschrieben. Doch ist sie kein unausweichliches Schicksal. Gegenwärtig wird besonders in Südafrika auf verschiedenen Ebenen darüber debattiert, wie die Vielfalt der Sprachen, aber auch der (vorgeblich) traditionalen Institutionen in den 1994 neu gegründeten Nationalstaat integriert werden kann. Das Konzept der Nation erscheint so als wesentlich offener, als häufig angenommen wird. Gerade Südafrika zeigt, dass damit auch überaus ernste Probleme verbunden sein können. Die gewalttätigen fremdenfeindlichen Ausbrüche im April und Mai 2009 reklamierten eine Abgrenzung auch im Hinblick auf Ansprüche an den Staat, die „Südafrikaner“ klar von „Ausländern“ unterschied. Wenige Kommentatoren bemerkten, dass der Jahre zuvor viel bemühte inner-südafrikanische Gegensatz zwischen „Xhosa“ und „Zulu“ jetzt anscheinend keine Rolle spielte. Dies unterstreicht einmal mehr, dass ethnisch kodierte Konflikte nicht zuletzt aus ganz spezifischen Situationen und Konstellationen entstehen und zuspitzen: Grenzziehungen und Identifikationen wechseln und verschieben sich in unterschiedlichen Konstellationen, und unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten werden dementsprechend aufgegriffen und radikalisiert. Das bedeutet nicht, dass sie etwa gänzlich fiktiv wären, doch ihre Bedeutung und damit auch ihre Form unterliegen situativer Veränderung.

Staat, Herrschaft, Krise

Die Bilanz der Nationalstaaten in Afrika fällt 50 Jahre nach der großen Welle der Unabhängigkeit widersprüchlicher aus als ein eindimensionaler Afro-Pessimismus nahelegt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Hoffnungen auf eine nachholende Entwicklung bitter enttäuscht wurden. Erst recht gilt dies für den grundsätzlichen Umbau zu einer gerechteren Gesellschaft, den sich nationale Befreiungsbewegungen einmal auf ihre Fahnen geschrieben hatten, um die böse Erbschaft des Kolonialismus wahrhaft zu überwinden. Die Schuld an diesem Scheitern gegenüber den selbst gesteckten Zielen tragen sicherlich zu großen Teilen jene, die staatliche Führungspositionen besetzt und oft genug nicht mehr bewirkt haben als jenen bloßen Wechsel in der Hautfarbe der Herrschenden, den bereits Frantz Fanon beklagte. Die Nutzung des Staates als Mittel zur privaten Aneignung ist hier von zentraler Bedeutung. Unverkennbar hat aber auch das internationale Umfeld eine wesentliche Rolle gespielt: Afrikanische Eliten wurden im Kalten Krieg funktionalisiert, neokoloniale Macht- und Kontrollansprüche durchgesetzt und die Orientierung der afrikanischen Volkswirtschaften auf den Export von Primärprodukten festgeschrieben, mit allen Folgen geringer Beschäftigungs- und Qualifikationseffekte im eigenen Land und großer Risiken durch Nachfrage- und Preisschwankungen auf dem Weltmarkt; die problematischen Export Processing Zones können dies bestenfalls relativieren.

Die Krisen Afrikas sind durchaus real, und ihre Profiteure sitzen ebenso gut in den lokalen Regierungspalästen wie in den Zentralen transnationaler Konzerne. Diejenigen, die sich um ihres Überlebens willen mit den Folgen herumzuschlagen haben, verfolgen dabei eine Vielzahl von Strategien. Zu den verschiedensten Aktivitäten im informellen Sektor und in der Subsistenzproduktion kommt die Nutzung unterschiedlicher Chancen zur Absicherung in einer oft permanent prekären Lage. Die Patronage eines Mächtigen oder die Zugehörigkeit zu seiner Klientel können hier entscheidend sein. In diesem Rahmen gewinnen neben anderen Möglichkeiten auch ethnische Identifikationen ihre Bedeutung und ihre Brisanz. Das gilt vornehmlich bei Konflikten um Ressourcen und Einfluss bis hin zur Besetzung entscheidender staatlicher Positionen. Derlei ethnische Identifikationen lassen sich aber auch trefflich dazu mobilisieren, die Konkurrenz um die Verfügung über die Schaltstellen staatlicher Macht zu organisieren und bei Bedarf entlang scharf gezogener Konfrontationslinien zu forcieren.

Nach wie vor sind Wirtschaftszusammenhänge und Chancen der Aneignung in Afrika überwiegend nach außen orientierten und von externen Akteuren abhängig. Der Zugriff auf die zentralen staatlichen Instanzen ist daher gleichbedeutend mit der Sicherung wesentlicher Möglichkeiten zur kollektiven und persönlichen Bereicherung. In den dadurch bedingten, oft erbitterten Konkurrenzkämpfen bleibt Ethnizität ein wichtiges, jedoch keineswegs das einzige Mobilisierungsinstrument.