Polen: Zwischen Trauer und Neuanfang

Staatstrauer in Polen. Foto: matchbox_pl - Lizensiert unter Creative Commons BY-NC

15. April 2010
Von Agnieszka Rochon
Von Agnieszka Rochon

Im Andenken vereint
Durch die Flugzeugkatastrophe am 10. April hat Polen seinen Präsidenten, viele führende Politiker/innen und Staatsbeamte, Vertreter/innen der Kirche und der Hinterbliebenen - Organisationen sowie fast die gesamte Führung der polnischen Streitkräfte verloren. Das Ausmaß dieser Tragödie ist – menschlich und politisch – in der jüngsten Geschichte Polens bislang einzigartig. Polen ist in den ersten Tagen nach der Katastrophe in Bestürzung, Ratlosigkeit und Trauer vereint.

Angesichts der Katastrophe wurden die politischen Kleinkriege und Grabenkämpfe beigelegt, die wenige Monate vor der für Herbst 2010 geplanten Präsidentenwahl den politischen Alltag geprägt hatten. Der Tod hat den politischen Alltag – zumindest vorübergehend – verändert.  Um das Funktionieren des Staates zu gewährleisten, haben sich die zerstrittenen politischen Eliten zusammengetan. Viele Politiker/innen und Intellektuelle rufen nach „mehr Eintracht im politischen Leben des Landes“ und plädieren für weniger „Aggression, Intoleranz, Parteilichkeit und Kleinlichkeit“ nicht nur in dieser Ausnahmesituation, sondern auch im politischen Alltag. Dies sollte zumindest für die Wahlkampagne für die vorgezogene Präsidentenwahl gelten, die in Kürze anlaufen soll. Die Parteien wurden gebeten, die Kampagnen für ihre Kandidaten bescheiden und sachlich zu gestalten.  

Tausende polnische Bürger/innen versammeln sich seit dem Unglückstag an den öffentlichen Plätzen und in den Kirchen Warschaus und anderer polnischer Städte, um gemeinsam der Opfer zu gedenken. Vor dem Präsidentenpalast kommen - unabhängig von den politischen Präferenzen - Menschen zusammen, um dem verstorbenen Präsidenten Kaczynski und seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen. Damit wird weniger die Zustimmung für die europaskeptische, oft polarisierende Politik des Präsidenten und seiner Partei zum Ausdruck gebracht. Vielmehr ist es das Bedürfnis jedes Einzelnen, einerseits Anteil an dem tragischen Schicksal des Präsidenten zu nehmen und andererseits Teil eines historischen Augenblicks zu sein. 

Schatten von Katyn
Dass die polnische Delegation auf dem Weg nach Katyn tödlich verunglückte, fügt sich aus polnischer Sicht in die Symbolik des Ortes ein. Die Katastrophe wurde schnell als „Zweites Katyn für die polnische Elite“ bezeichnet, Katyn selbst zum „Verfluchten Ort". Tatsächlich wurde in Katyn ein tragischer Abschnitt polnisch – russischer Geschichte geschrieben. Auf Stalins Befehl hin haben dort russische Geheimdienstler mehrere tausend polnische Offiziere erschossen. Es war eine geplante Aktion, die auf die Vernichtung der polnischen Eliten abzielte. Jahrzehntelang hat Moskau den Massenmord totgeschwiegen. Erst 1990 gab Gorbatschow die sowjetische Verantwortung für die Taten zu. Bis zum vergangenen Jahr hat die ungelöste Katyn–Frage die polnisch - russischen Beziehungen belastet.

Am 70. Jahrestag des Katyn Massakers schließlich haben Russlands Regierungschef Putin und der polnische Premierminister Tusk zum ersten Mal gemeinsam der polnischen und russischen Opfer des Stalinregimes gedacht. Putin verurteilte die Ermordung der polnischen Offiziere als Verbrechen. Eine deutliche Entschuldigung an Polen fehlte jedoch. Das Treffen war kein Durchbruch, dennoch wurde ein wichtiger Schritt der Versöhnung gemacht. Drei Tage später, am 10. April, wollte der polnische Präsident Kaczynski der Katyn–Opfer im Kreise der Hinterbliebenen gedenken. Die Flugzeugkatastrophe legt einen tiefen Schatten auf Katyn. Erneut wird Polen diesen Ort mit einem schmerzlichen Verlust verbinden müssen.

Chance für Annäherung zwischen Polen und Russland
Zugleich ist das Unglück möglicherweise die Chance für eine authentische, polnisch-russische Annäherung und Aussöhnung, die tiefer greift, als es ein offizieller politischer Termin kann. Der Tod von Präsident Kaczynski und zahlreicher Spitzenpolitiker löste in Russland eine Welle des Mitgefühls und große Hilfsbereitschaft aus. Präsident Medwedjew und Premier Putin kondolierten tief bestürzt. Beide haben den Tod der polnischen Delegation als Tragödie bezeichnet. In seiner Ansprache betonte Putin, dass  Russland mit Polen die Trauer und das Leid teile. 

Am Samstagabend reiste Premierminister Putin nach Smolensk, um an der Unglücksstelle gemeinsam mit dem polnischen Regierungschef den Opfern der Flugzeugkatastrophe zu gedenken. Während des Treffens verständigten sich die Regierungschefs über die Aufklärung der Katastrophenursache sowie die Identifizierung und Überführung der Leichen nach Polen. Putin versprach eine rasche Aufklärung und stimmte einer Zusammenarbeit zwischen polnischem und russischem Krisenstab zu.
Putin versicherte auch, die von ihm geleitete Untersuchungskommission werde „alles tun, um den Angehörigen der Opfer zu helfen“.

Auf Anweisung Putins wurden in der russischen Hauptstadt Trauerfeiern für polnische Angehörige organisiert. Die russischen Bürger/innen versammelten sich vor den polnischen Botschaften in Moskau, Petersburg und Kaliningrad, legten Blumen nieder und zündeten Kerzen an. In den Kirchen werden Messen für die Opfer abgehalten. Durch die Katastrophe rückte auch Katyn in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Der Katyn-Film des polnischen Regisseurs Wajda wurde im russischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Die Notwendigkeit, sich mit der eigenen Geschichte und mit den Verbrechen des Stalinregimes auseinander zu setzten, wurde öffentlich diskutiert und eingefordert.

Ausnahmezustand ohne Chaos
In Polen wurden in dieser Ausnahmesituation Schritte eingeleitet, die das Funktionieren des Staates gewährleisten sollen. Sejmmarschall Komorowski übernahm – wie es die polnische Verfassung beim Tod des Staatsoberhauptes vorschreibt – die Pflichten und Befugnisse des Präsidenten. In seiner ersten Ansprache ordnete er eine einwöchige Nationaltrauer an. Bereits am Sonntag wurde an Stelle des verstorbenen Wladyslaw Stasiak ein neuer Leiter der Präsidentenkanzlei benannt. Als erste Aufgabe im Amt wird er den Staatsakt für die Opfer der Flugzeugkatastrophe vorbereiten.

Gemäß der Verfassung wird der Termin für die vorgezogene Präsidentenwahl innerhalb von 14 Tagen festgelegt. Die Wahlen sollen spätestens nach weiteren 60 Tagen abgehalten werden. So führte der Sejmmarschall bereits wenige Tage nach dem Unglück die ersten Sondierungsgespräche mit den Fraktionen der einzelnen Parteien. Nach Angaben Komorowskis ist die nationale Sicherheit nicht gefährdet. Gemäß den Militärregelungen werden die Pflichten des verstorbenen Generalstabschefs sowie der Befehlshaber der Luft-, See-, Land-, und Spezialstreitkräfte von den Rangnächsten vorübergehend übernommen.

Auch der Tod des Präsidenten der Nationalbank wird keine Folgen für die Stabilität der Staatsfinanzen haben. Sein Stellvertreter hat vorübergehend dessen Aufgaben übernommen. Dennoch bezeichnete Sejmmarschall Komorowski die Neu-Besetzung dieser Posten als dringend. Demnächst wird er – den Vorschriften folgend – dem polnischen Parlament seine Kandidatenvorschläge unterbreiten. Für die verstorbenen Parlamentarier/innen rücken automatisch die nächsten Kandidat/innen auf den entsprechenden Wahllisten nach. Die Ämter der verstorbenen Senatoren/innen werden über eine Nachwahl besetzt, die der Sejmmarschall in Kürze anordnen wird. 

Die politische Landschaft wird sich ändern
Trotzdem wird die Katastrophe in der politischen Landschaft Polens tiefe Spuren hinterlassen. Einige Folgen zeichnen sich bereits jetzt ab. Der Tod führender Spitzenpolitiker/innen aus dem vorwiegend oppositionellen Lager hat die ohnehin starke Dominanz der rechtsliberalen, regierenden Bürgerplattform zusätzlich verstärkt. Die Bürgerplattform verfügt nun über eine fast absolute Macht. Umfragen zufolge wird ihr Kandidat Sejmmarschall Komorowski die vorgezogene Präsidentenwahl höchstwahrscheinlich gewinnen. Faktisch hat er die Machtbefugnisse des Amtes bereits inne.

Die oppositionellen Parteien - die Demokratische Linksallianz (SLD) und die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) – haben große Verluste erlitten und werden sich im Vorfeld der vorgezogener Präsidentenwahl neu formieren müssen. Die Partei der Zwillingsbrüder Kaczynski trifft die Katastrophe am härtesten. Mit dem Tod Lech Kaczynskis verlor die PiS eine wichtige Identifikationsfigur: den amtierenden Präsidenten inklusive seiner Handlungsbefugnisse und damit ihren Kandidaten für die anstehende Präsidentenwahl. Bei der Katastrophe starben aber auch führende Politiker/innen der rechtskonservativen PiS, wie etwa die beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden Natali Swiat und Gosiewski, die Fraktionsvorsitzende Gesicka, der Chef des Büros für Nationale Sicherheit Szczyglo, der Vize-Sejmmarschall Putra sowie der Chef der Präsidentenkanzlei Stasiak. Alle hatten in den vergangenen Jahren die Politik der Partei maßgeblich mit geprägt.

Schließlich verlor der Parteivorsitzende und -stratege Jaroslaw seinen Bruder und zugleich das „weichere“ Pendant des politischen Doppelgespanns. Unklar ist, wie er den Tod des Zwillingsbruders verkraften wird. Er könnte sowohl das politische Erbe Lech Kaczynskis antreten und bei der Präsidentenwahl kandidieren, als auch sich aus der Politik gänzlich zurückziehen. Spekuliert wurde über einen möglichen Generationswechsel in der Partei. Für die seit 2003 zunehmend schwach aufgestellte Linksallianz bedeutet der Verlust von erfahrenen Politiker/innen eine weitere Fragmentierung: Unter den Opfern sind der SLD-Präsidentenkandidat und Vize–Sejmmarschall Schmajdzinski sowie die ehemalige Regierungsbeauftragte für Chancengleichheit, Jaruga Nowacka, und die ehemalige Leiterin der Präsidentenkanzlei, Szymanek Deresz.

Ausblick
Die Tragödie gehört zu den Ereignissen, die die kollektive Wahrnehmung und Erinnerung einer ganzen Nation prägen. Polen hat einen schrecklichen Verlust erlitten, wird dennoch um einiges gestärkt daraus hervorgehen. Die Trauer hat die polnische Gesellschaft und die zerstrittenen politischen Eliten vereint. Es ist zu hoffen, dass sich durch diese kollektive Erfahrung die Qualität des öffentlichen Dialogs und der politischen Auseinandersetzung verbessern wird.

In der politischen Landschaft Polens hat der Verlust von zahlreichen Spitzenpolitiker/innen aus den Reihen der Opposition sichtbare Spuren hinterlassen. Momentan hat sich das  Machtgefüge stark zu Gunsten der regierenden Bürgerplattform verschoben. Wie sich die politische Landschaft Polens perspektivisch entwickeln wird, ist noch ungewiss. Es hängt davon ab, inwieweit die oppositionellen Parteien – insbesondere die PiS – die Verluste in den eigenen Parteireihen verkraften wird und sich neu formieren kann.

Der Tod der polnischen Delegation bei Smolensk, die sich auf dem Weg zur Gedenkfeier für die Opfer von Katyn befand, löste in Russland Mitgefühl und eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Zugleich rückte die Katyn–Problematik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Möglicherweise ist das Unglück die Chance für eine ehrliche polnisch-russische Annäherung und Aussöhnung.

Agnieszka Rochon ist die Büroleiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.