Bildung für eine nachhaltige Entwicklung als Lernkultur
Von Gerhard de Haan
Bei allem Konsens über das Leitbild Nachhaltigkeit ist hinsichtlich der Konkretisierung von Zielsetzungen, der Formulierung von Handlungsprioritäten und der Entwicklung von Strategien eine außerordentlich kontroverse Diskussion zu registrieren. Soll in erster Linie die Biodiversität erhalten, der Klimawandel gestoppt und der Ressourcenverbrauch reduziert werden? Soll in erster Linie auf den Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern geachtet werden, oder kommt es primär auf die ökonomische Entwicklung an, weil mit ihr die Bedingungen der Möglichkeit von Wohlfahrt geschaffen werden? Sollte man den Schwerpunkt der Aktivitäten auf die Veränderung des Konsumverhaltens legen oder eher auf die Förderung neuer Technologien zielen? Darf man die Fragen überhaupt so stellen, oder muss man sogleich auf eine Balance insistieren oder gar verlangen, dass Prioritäten nicht zu setzen sind, weil es zwischen den einzelnen Aspekten zu viele Interdependenzen gibt? Die wissenschaftlichen wie politischen Differenzen sind in diesen Fragen beachtlich und substanzielle integrative Konzepte nur selten zu registrieren (zwei wenig beachtete Ausnahmen seien hier genannt: Kopfmüller u. a. 2001; Coenen/Grunwald 2003).
Bei aller Divergenz hinsichtlich der Formulierung von substanziellen Nachhaltigkeitspostulaten und -regeln ist allerdings eines auffällig: Generell beurteilt man in der Diskussion um Strategien nachhaltiger Entwicklung seit einem Jahrzehnt schon die Frage als entscheidend, „inwieweit Gesellschaften überhaupt in der Lage sind, eine solche umfassende und weitreichende Transformation zu bewältigen, wie sie das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung impliziert. Dass sich dies nicht anders als über eine weitreichende Modifikation in den Lebensweisen der Menschen, nicht ohne tiefgreifenden Wandel der dominanten Produktions- und Konsumptionsmuster und nicht ohne eine Neuorientierung von Planungs- und Entscheidungsprozessen erreichen lässt – und zwar weltweit – gehört zu den weitgehend geteilten Grundeinsichten der Sustainability-Debatte“ (Kopfmüller u.a. 2001, S. 33).
Bildung für nachhaltige Entwicklung: Kontroversen um Prioritäten
Wenn es um einen weitreichenden mentalen Wandel – also um eine in ihrer ganzen Komplexität veränderte Kultur des Wirtschaftens, des Alltagslebens, der Gerechtigkeit und der Politik – geht, werden Prozesse veränderter Bewusstseinsbildung jedes Einzelnen notwendig. Diese sind nur über das Lernen – und zwar in einer veränderten Lernkultur – zu verwirklichen: ein Lernen, dass kaum noch dem Duktus von Belehrung und dem Verfahren folgen kann, dass sich die Schüler an Antworten auf Fragen herantasten müssen, über deren Richtigkeit in beiden Fällen die Lehrkraft entscheidet. Vielmehr, über selbsttätiges, entdeckendes, der Komplexität der Sachverhaltes angemessenes Lernen – so ist international in der pädagogischen Fachwelt zu registrieren – soll dieser tiefgreifende Wandel in den Denk- und Handlungsmustern, generell in den Planungs- und Entscheidungsprozessen erfolgen. Nicht ohne Grund, denn den Einzelnen werden in diesem Zusammenhang in erheblichem Maß neue Kompetenzen abverlangt. Sie benötigen Kompetenzen bei der Beteiligung und Selbstorganisation von Verständigungs- und Entscheidungsprozessen, zum Beispiel bei der eigenständigen Aneignung und Bewertung von Informationen, bei der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, der Perspektivübernahme in Hinsicht auf die differenten Lebenslagen und Zielsetzungen in unterschiedlichen Kulturen sowie beim vorausschauenden Planen in vernetzten Systemen.
Der damit formulierte doppelte Aufforderungscharakter, Lernkonzepte für die Möglichkeit des Handelns im Sinne der Nachhaltigkeit zu entwickeln und in die offerierten Handlungsstrategien Elemente der Partizipation zu integrieren, führt direkt in die Konzeptionen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (im Folgenden: BNE). Ihr wird seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland sowie international von politischer Seite größere Aufmerksamkeit gewidmet. Auffällig sind in diesem Zusammenhang sogleich die Schwierigkeiten in der Konturierung der BNE. Ein exorbitantes Problem erwächst insbesondere aus dem sehr weiten Verständnis von Nachhaltigkeit und den Aufgaben der BNE, wie sie in internationalen Dokumenten der Vereinten Nationen und der UNESCO formuliert werden. Für die Vereinten Nationen – wie für die UNESCO – gehört „Education for All“, die United Nations Literacy Decade (2003 bis 2012), die Armutsbekämpfung sowohl die Bekämpfung von HIV/AIDS und die Gleichstellung der Geschlechter zu den Aufgabenfeldern der BNE (vgl. UNESCO 2005). Freilich werden auch die Entwicklung nachhaltiger Lebensstile, der demografische Wandel, innovative Technologien, Probleme des Konsums, die Umweltverschmutzung, der Klimawandel etc. als Themen von BNE genannt. Nachhaltige Entwicklung wird damit einerseits zu einem Lernfeld deklariert, andererseits aber wird alles, was einer Entwicklung im positiven Sinne entgegengeht oder für die Zukunft als sinnvoll erscheint, unter der BNE subsumiert. Es scheint – und wird manchmal sogar formuliert – als solle man aus der BNE heraus generell die Qualität der Bildungssysteme beurteilen, über BNE die Armut bekämpfen, die Alphabetisierung vorantreiben und die Gleichheit der Geschlechter durchsetzen.
So sinnvoll all diese Initiativen sind, so sehr überfrachtet man die BNE mit solchen Ansprüchen. Zudem gerät das Verständnis von BNE diffus, und man macht sich unglaubwürdig, wenn ein so schmales Lern- und Handlungsfeld, wie es BNE im formellen wie nonformellen Bildungsbereich darstellt, all diese Themen behandeln soll. Wie kann man mit dieser Diffusion und Überfrachtung von BNE umgehen?
Mein Vorschlag ist, der BNE aus mehrfachen Gründen eine nationale Ausprägung zu geben. Das hat weniger mit der Souveränität der Staaten dieser Welt zu tun als mit den spezifischen Problemlagen und jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen sowie vorhandener Expertise und Professionalität. So ist es unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit sicherlich richtig, in etlichen Ländern „education for all“ einzufordern. Wo nicht einmal eine Grundbildung für acht bis zehn Schuljahre verwirklicht ist und zudem Mädchen und Frauen kaum ein Zugang zur Bildung gewährt wird, muss man dieses Problem aus der Perspektive der BNE auf die Agenda setzen. Wo aber, wie hierzulande, ein Deckeneffekt erreicht ist, d.h. für alle eine Schulpflicht bis zum Ende der Sekundarstufe I besteht, ist es wenig sinnvoll, diese Aufgabe der BNE noch zuzuschreiben. Das gilt auch dann, wenn man auf die hohe Quote der Analphabeten in Deutschland verweist, die trotz der Schulpflicht existiert. Denn mit der Aufgabe, diese Quote zu reduzieren, wären die Expertinnen und Experten für BNE überfordert. Es wäre ein Zeichen von Unprofessionalität, würde man dieses Feld mitbedienen wollen. Schließlich gibt es dafür in Deutschland Expertinnen und Experten, die sich dieser Thematik viel besser annehmen können. Das gilt auch für andere Themen, die international der BNE zugedacht werden. Auch für die HIV-Prävention gibt es in Deutschland professionell arbeitende Organisationen und Expertinnen und Experten, die hier tätig sind, wie es sie im Kampf gegen Rassismus und in der Fürsorge sowie Armutsbekämpfung gibt. Damit sind diese (wie zahlreiche andere) Problemfelder dennoch nicht aus dem Horizont der BNE verschwunden. Sie werden, anders fokussiert, durchaus zum Thema, aber immer aus dem Blickwinkel eines engeren Verständnisses von Nachhaltigkeit.
Eine nationale Ausprägung ist auch aus anderen Gründen sinnvoll. Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land, dessen Prosperität von Hightech und intelligenten Dienstleistungen abhängt. Innovationen in diesem Feld sind von hohem Wissen abhängig. Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass Wissen der Wachstumsfaktor Nummer eins ist. Technologien und Dienstleistungen unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit zu entwickeln, heißt eben auch, in diesem Feld über intelligentes Wissen zu verfügen. Das erschließt einen Themenkanon, der tief in die Naturwissenschaften, technische Grundbildung und das Feld wirtschaftlicher Kenntnisse hineinreicht. Überhaupt bietet die Nachhaltigkeit ein Themenfeld, das als paradigmatisch für eine zukunftsweisende Bildung gelten kann. Denn sie ist interdisziplinär und problemorientiert ausgerichtet. Hier wird kein träges Wissen verbreitet, vielmehr lassen sich durch BNE anwendungs- und alltagsbezogen Fähigkeiten erwerben, deren Nutzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft außerordentlich hoch ist – und die Lernmotivation steigert.
Entwicklungen im schulischen Kontext
Genau an dieser Stelle setzte das 1999 bis 2004 laufende Modellprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BLK-Programm „21“) mit seinem Konzept an. An dem Reformprogramm beteiligten sich fast alle Bundesländer, und es nahmen rund 200 Schulen daran teil. Von 2004 bis 2008 schloss sich ein Transferprogramm („Transfer-21“) daran an. Es wurden mit diesem Programm mehr als 2.500 Schulen erreicht. Das heißt, in den am Programm beteiligten Ländern engagieren sich mehr als 10 Prozent der Schulen für BNE. Im Rahmen dieses Transferprogramms wurden Orientierungshilfen für den Erwerb von Kompetenzen im Rahmen von BNE entwickelt, Qualitätskriterien für BNE-Schulen formuliert, und es wurde unterstützendes Material präsentiert für die Erarbeitung eines Schulprogramms mit dem Schwerpunkt BNE und insofern für eine handlungswirksame Umsetzung von BNE im schulischen Kontext eine gute Basis gelegt (vgl. Transfer-21).
Herausforderungen für schulische Curricula
Betrachtet man die Fortschritte der BNE in Deutschland über die letzten zehn Jahre, so lässt sich einerseits von einer Erfolgsgeschichte sprechen, wenn man bedenkt, dass innerhalb von 15 Jahren eine konzeptionelle Entwicklung ebenso voran getrieben wurde wie eine – bei aller Trägheit des schulischen Bildungssystems in Hinblick auf Reformen – praktische Umsetzung der BNE im schulischen Kontext. Denn traditionell dauern durchgreifende Adaptionen von Innovationen im Bildungsbereich weitaus länger. „Man sollte in die Lehrpläne nur aufnehmen, was mindestens seit 20 Jahren als Erkenntnis in der Welt ist.“ Das war im Jahr 1900 noch die feste Auffassung des Pädagogen Friedrich Paulsen. Im Vergleich zu diesem Diktum hat die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung 100 Jahre später außerordentlich schnell in die Curricula Eingang gefunden. Die ersten konzeptionellen Beiträge erschienen 1996 (vgl. de Haan 1996; 1998). Seit den Anfängen dieses Jahrhunderts wird die Bedeutung von BNE durch Bundes- wie Landesministerien, durch den Bundestag und viele Landesparlamente mit einschlägigen Beschlüssen immer wieder herausgestellt (vgl. z.B. BUNDESTAG 2000, BUNDESTAG 2004, KMK/DUK 2007, BMBF 2009). Bekräftigt wird die Relevanz dieses Themen- und Handlungsfeldes nicht zuletzt durch die Vereinten Nationen, die für den Zeitraum 2004 bis 2015 eine Weltdekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" ausgerufen haben. BNE wurde konzeptionell inzwischen weiter ausformuliert und findet sich in zahlreichen Schulgesetzen und Lehrplänen verankert.
Allerdings ist andererseits auffällig, wie selten BNE – mit Ausnahme des Faches Geografie – in den Lehrplänen oder auch in den Bildungsstandards der Schulfächer näher konkretisiert wird. Das hat seine Gründe: Die Bezugsdisziplin von BNE ist die Nachhaltigkeitswissenschaft. Diese ist interdisziplinär und problemorientiert ausgerichtet. Entsprechend können Themen der BNE im schulischen Kontext im Grunde nur in Kooperation zwischen Fächern behandelt werden. BNE in nur einem Fach zu unterrichten, dieses scheint allein unter der Berücksichtigung von Multiperspektivität möglich. Von daher wird BNE auch als „Handlungsfeld“ bezeichnet. Das signalisiert, dass sich BNE nicht einem einzelnen Unterrichtsfach zuordnen lässt und selbst auch kein neues konstituiert.
BNE möchte den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, aktiv an der Analyse und Bewertung von nicht nachhaltigen Entwicklungsprozessen teilzuhaben, sich an Kriterien der Nachhaltigkeit im eigenen Leben zu orientieren und nachhaltige Entwicklungsprozesse gemeinsam mit anderen lokal wie global in Gang zu setzen. Das Bildungsziel von BNE bleibt allerdings so lange schillernd und vage, wie es nicht mit Aussagen zu den Fähigkeiten verbunden wird, die im Kontext des Lernens erworben werden können oder sollen. Einen entscheidenden Schritt hat die Entwicklung der BNE in den letzten Jahren mit der Ausformulierung eines Kompetenzkonzeptes getan (vgl. de Haan 2008a).
Letztlich steht mit der Orientierung an Kompetenzen auch das Konzept der Fachlichkeit des Unterrichts zur Disposition. Kompetenzen und Fächer müssen nicht in einer unmittelbaren Beziehung zueinander stehen, es ist sogar ein unwahrscheinlicher Fall. Denn die heutigen Schulfächer wurden schließlich nicht auf der Basis von kognitions- oder lernpsychologischen Erkenntnissen oder auf der Basis der Analyse der Komplexität der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler gewonnen, sondern im Rückgriff auf fachwissenschaftliche Relevanzen bzw. einem Fachverständnis der Scientific Community. Damit ist der Unterrichtsgegenstand aber immer schon geprägt von den fachlichen Erkenntnissen und Relevanzen und – wenn es anspruchsvoll sein soll – auch vom fachwissenschaftlichen Vokabular und von fachwissenschaftlichen Methoden.
Man kann die Veränderungen recht deutlich machen, wenn es um Kompetenzen für eine veränderte Konsumkultur geht. Nachhaltiger Konsum wird implizit in vielen außerschulischen und schulischen Projekten zum Thema gemacht: Der Kindergarten Villa Kunterbunt thematisiert den Zusammenhang zwischen Ernährung, Konsum und Produktion von Nahrungsmitteln. Ähnliches wird auch von den Kindergruppen des Landesbundes für Vogelschutz Bayern beabsichtigt: Kinder haben hier in Gruppen die Möglichkeit, kochen zu lernen – und das natürlich mit Bioprodukten aus der Region. Der Schulbauernhof Domäne Hochburg wendet sich der Grundschule zu und zeigt den Kindern nicht nur, wie ökologischer Landbau funktioniert, sondern auch, warum man fair gehandelt Produkte kaufen soll und wie sich der Preis von Lebensmitteln zusammensetzt. Die Berufsbildende Schule Handel in Hannover fördert den fairen Handel und will eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen. Um eine spezielle Berufsgruppe geht es im Projekt „come closer – verantwortliches Design im Fokus“. Hier geht es um nachhaltiges Design auf der Basis fair hergestellter, ökologischer Produkte. Viele Berufsgruppen, die sich mit Design beschäftigen (von der Architektur bis zur Textilbranche) werden dabei angesprochen.
Die hier erwähnten Initiativen sind allesamt Projekte, die als vorbildlich und innovativ sowie nachahmenswert im Rahmen der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ in Deutschland als innovativ ausgezeichnet wurden.
Es sind Projekte, die zwei Jahre lang den Titel „Offizielles Projekt der Weltdekade“ tragen dürfen. Es handelt sich in jedem Fall um Ansätze, die lebensweltlich und handlungsorientiert ausgerichtet sind und sich nicht in eine singuläre Fachdisziplin wie etwa Biologie, Geografie oder Politik einordnen lassen.
Neue Themenkomplexe wie z. B. eine Kultur der Nachhaltigkeit, aber auch der Umgang mit den Gefahren des Klimawandels und expansive Anwendungsbereiche von Wissenschaft und Technik (etwa Mobilität oder Grüne Gentechnik) sowie veränderte Ansprüche an das Individuum (z. B. gesunde Ernährung oder zivilgesellschaftliches Engagement oder eine neue Konsumkultur) werden in ihrer Bedeutung für eine Kompetenzentwicklung, die nicht nur die reaktive Bewältigung, sondern vor allem die Fähigkeit zur aktiven Gestaltung der eigenen wie der gesellschaftlichen Zukunft zum Ziel hat, immer noch vernachlässigt. In der Wissensgesellschaft sind es freilich gerade die wissensbasierten Innovationen, die einerseits die technologische, ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung und Prosperität sichern, andererseits Lebenschancen und Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens in Selbstbestimmung ebenso beschränken wie erweitern. Entsprechend muss sich die Schule stärker jenen Themen und Lernfeldern sowie den interdisziplinär zu bewältigenden Problemkonstellationen öffnen, die sich durch Zukunftsrelevanz auszeichnen.
Gerhard de Haan ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Vorsitzender des Nationalkomitees der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005-2014“.