Globalisierte Städte
Vielen erscheint die Weltwirtschaft als eine städtische Ökonomie: Ökonomische Abläufe finden scheinbar in Städten und urbanen Netzwerken statt. Trotz ihrer Abhängigkeit von Versorgungsströmen jenseits der Städte stellen sich alle weltweit vorherrschenden politischen Systeme in ihrem gemeinschaftlichen Raum und ihren öffentlichen Institutionen als Stadtgesellschaften dar. Dabei formen wiederum diese sie – im Sinne von Churchills berühmtem Einzeiler: „Wir formen unsere Gebäude, und dann formen unsere Gebäude uns.“
Weniger verbreitet ist die Tatsache, dass die Städte – ihre Form, Ökonomie und Wachstumsdynamik – stets durch das in ihrer Epoche vorherrschende Energiesystem geprägt wurden. In der Art und Weise, wie sich beide zueinander verhalten, liegt das große Risiko für unsere Zeit – für jede beliebige Stadt, Nation oder für das globale Gleichgewicht der Kräfte. Während diese Tatsache für die gesamte historische Stadtentwicklung gilt, sind die hohe Geschwindigkeit, das Ausmaß der gegenwärtigen Entwicklungswelle und die Bildung von Megastädten als gleichzeitiges und weltweites Phänomen ohne Beispiel. Die Explosion des Anteils der Städter an der Weltbevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde bereits durch die frühere Expansion einiger Weltstädte wie London vorweggenommen und begann sich ab den 50er-Jahren stark zu beschleunigen, wobei viele großstädtische Gebiete sprunghaft anwuchsen. Das höchste Bevölkerungswachstum findet in urbanisierten Gebieten statt, die Hälfte der Weltbevölkerung wohnt mittlerweile dort. Große dynamische Kräfte sind am Werk, die die Vorrangstellung der Städte untermauern. Diese Entwicklung schließt das Anwachsen des Welthandels und die begleitenden Strukturveränderungen in vielen Agrarstaaten ein.
Ein Großteil dieses neuen Wachstums findet in den Elendsvierteln statt, die sich um die Großstädte der Dritten Welt herum ausbreiten und durch die für autonome Entwicklungsaspirationen fatal konzipierten Strukturwechselprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in den Achtzigerjahren befördert wurden (Davis 2007). Doch neben all diesen einzelnen Mechanismen gibt es keine andere so allgemein bestimmende Kraft des städtischen Wachstums wie die fossile Brennstoffwirtschaft und das ihr zugrunde liegende Netzwerk von Produktion, Verteilung und Verbrauch (Scheer 1999).
Die regenerative Zukunft der Stadt ist unausweichlich
Die pathologische Abhängigkeit von Öl und scheinbar billiger Kohlekraft beförderte die Städte und transformierte dabei Regionen, spann globale Versorgungsnetze und trennte die Städte vom landwirtschaftlichen Hinterland ab. Die globale Herausbildung von Städten ist also auf den ersten Blick ein Phänomen fossiler Brennstoffe. Diese sehr wesentliche Tatsache fand aber weder in der Literatur über Städte noch über Energie irgendeine Erwähnung. Es ist aber auch klar erkennbar, dass die Hauptrisiken für die globale Sicherheit, den globalen Markt und den Wohlstand im 21. Jahrhundert nicht vom städtischen Wachstum und städtischer Vorrangstellung direkt ausgehen. Das Überleben der Städte gefährdet der Motor ihrer Entwicklung selbst: die allumfassende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen.
Während die fossile Energierevolution den Industrienationen ein nie da gewesenes Maß an Wohlstand eingebracht hat, stellt die geografisch bedingte Begrenztheit der fossilen Rohstoff- und Uranvorräte nun eine wesentliche Bedrohung für den Fortbestand der Märkte und die globale Sicherheit dar: das klassische Faust-Syndrom. Vierzig große Ölfelder liefern fast zwei Drittel des weltweiten Ölbedarfs, wobei drei Viertel von ihnen in risikoreichen, umkämpften und kriegsgebeutelten Regionen liegen. Über drei Viertel der nachgewiesenen Weltölreserven sind in der Hand von nationalen Ölfirmen, so dass sie als Werkzeuge oder Waffen in der Außenpolitik verwendet werden können. Der Rest befindet sich in der Hand von großen Energiekonglomeraten und transnationalen Ölmultis.
Das vorherrschende System erfährt gerade einen großen und gefährlichen, aber auch potenziell gesunden Dämpfer: Regionale Bestrebungen zur Neuentwicklung erneuerbarer Energiequellen mit dem Ziel, in den nächsten zwei Jahrzehnten vorrangig „grünen“ Strom zur Verfügung zu stellen, werden bald zu einer absoluten Priorität der Städte werden. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts könnten wir ein völlig emissions- und nuklearenergiefreies Energiesystem haben: ein geradezu vollständiges Zugreifen auf die im Überfluss vorhandenen Ressourcen der Welt an Sonnen-, Wind-, Wasser-, Meereswellen- und Bioenergie sowie geothermischer Energie. Dies erfordert die Einrichtung von intelligenten Netzen mit sowohl realen als auch virtuellen Speichereinheiten; von dezentralen sowohl freistehenden als auch netzgebundenen Energieerzeugungssystemen; von intelligenten elektrischen Transportmitteln, die als mobile Speicher dienen; sowie von starken nationalen, marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, welche die weltweiten Kapazitäten der urbanen Nutzung erneuerbarer Energie von ihren gegenwärtigen Zwängen befreien.
Diese Zukunft bedarf keines Emissionshandels: Einspeisungstarife, Regelungen des öffentlichen und privaten Sektors und der Finanzierung sowie ein stetes Senken von Subventionen für fossile Brennstoffe werden nicht nur den Anforderungen genügen, sondern sogar effektiver sein: schneller, fairer und günstiger. Trotz des allgemein vorherrschenden Zwangs, wie bisher weiterzumachen, liegt die Zukunft im Bau von klimagerechten, energiepolitisch unanfälligen Städten – eine Zukunft, zu der eine wachsende Anzahl von hoffnungsvollen Vorreitern bereits aufgebrochen ist. Eine regenerative Zukunft der Stadt ist nicht nur ökonomisch und sozial möglich – sie ist die unausweichliche Konsequenz jeder sorgfältigen Analyse der Verhältnisse.
Der letzte Atemzug fossil befeuerter ökonomischer Vitalität, die nun den Scheitelpunkt ihrer überzogenen Flugbahn erreicht, sollte für eine weiche Landung genutzt werden, indem der Mehrwert des gegenwärtigen Booms dazu verwendet wird, der Wirtschaft einen nachhaltigen und überlebensfähigen Rahmen und eine günstige, hoch entwickelte Infrastruktur zu geben.
Wenn man die gegenwärtigen Trends auf die Zukunft projiziert, so würde dies eine Verdoppelung der jährlichen Treibhausgasemissionen bis 2030 bedeuten. Dieses Horrorszenario lässt die Alarmglocken läuten, wenn man bedenkt, dass die atmosphärischen CO2-Konzentrationen bereits jetzt nachhaltige Werte überschreiten (Hansen u. a. 2008). Von gegenwärtig 390 parts per million müssen die Konzentrationen auf mindestens 320-350 ppm gesenkt werden, um eine unumkehrbare Entwicklung zu vermeiden und nicht in ein haltloses Klimachaos zu geraten, das in der Lage ist, das Holozän und die hochentwickelte, in wachsender Weise urban artikulierte Zivilisation, wie sie sich seit 10.000 v. Chr. entwickelt hat, zu beenden. Hansens Arbeit wird vom gesunden Menschenverstand bestätigt: Werte von 450 ppm, oder gar 550, die heute in zahlreichen Verträgen und politischen Absichtserklärungen erwähnt werden, basieren auf der Illusion, dass eine Erderwärmung von 2°C sicher wäre – wobei übersehen wird, dass dies ein stetiges Risiko des Überschreitens dieses Wertes birgt. Aber selbst wenn der Temperaturanstieg mit Sicherheit bei 2°C gehalten werden könnte, würde dies die Lage zum Kippen bringen, wenn man sich die unvorhergesehene, katastrophale Abnahme der arktischen Eisdecke im Sommer ansieht.
Kann der Trend noch gestoppt werden – anders als durch den gnädigen, aber auch zerstörerischen Zusammenbruch der großen thermohalinen Zirkulation, auch bekannt als Golfstrom, was der Biosphäre in ihrer gegenwärtigen Entwicklung helfen, aber unsere CO2-ausstoßende Zivilisation lähmen würde? Während dieser Horror täglich mehr Gestalt annimmt, steht der Zenit der Förderung fossiler Rohstoffressourcen bevor (Campbell 2005), oder – so zeigen kürzliche Forschungs- und Marktanalysen – er ist bereits überschritten. Der Energy Watch Group zufolge ist der Gipfel bereits 2006 erreicht worden. Von diesem Punkt sei pro Jahr ein zumindest dreiprozentiger Abfall der Produktion zu erwarten, gleichzeitig steigt die Nachfrage weiterhin steil an (IEA 2007).
Unvorbereitete Stadtbewohner, die nicht mit funktionsbereiten regenerativen Energiequellen gewappnet sind, werden sich auf scheinbar paradoxe Weise mit dem lähmenden Ende des fossilen Zeitalters konfrontiert sehen und dabei zugleich dem Spuk des galoppierenden Klimawandels gegenüber stehen. Solange wir uns den Fakten entziehen, steigt die Gefahr des Zusammenbruchs stündlich, während Expeditionen zu den allerletzten Ressourcen der Erde als letzter ernsthafter Ausweg in Angriff genommen werden: kanadischer Ölsand, sibirisches Gas und Öl und – als letzte Tragikomödie – das Rennen zur schmelzenden Arktis mit einem Strom von Supertankern in der Nordwestpassage.
Aber in zunehmendem Maße versuchen sich Menschen von diesen düsteren Konsequenzen ihres eigenen Handelns zu distanzieren. Während viele nationale und internationale Institutionen das Problem immer noch verdrängen oder durch Trägheit beziehungsweise Einzelinteressen gelähmt werden, sind Großstädte und Gemeinden eher bereit, die tiefe Sorge zu bekunden, die von vielen Bürgerinitiativen und den von Städten unterstützten Programmen und Aktionsbündnissen geteilt wird.
Städtische Autonomie mit Hilfe erneuerbarer Energie
Seit Langem versuchen in Österreich einige Dörfer und Städte, sich mit Hilfe regenerativer Quellen energiepolitisch unabhängig zu machen: Solar-, wind- und durch Biogas versorgte Regionen haben eine starke Tradition in den ländlichen Gebieten des Landes. Überall in der energiebewussten Schweiz gibt es seit einiger Zeit stadtweite Initiativen zur Erhöhung der Energieeffizienz, die auf hohem Niveau und mit erfolg durchgeführt werden. Davos, Sitz des Weltwirtschaftsforums und internationaler Luxusskiort, tat sich früh als eine der Städte hervor, die ihre CO2-Bilanz reduzieren wollen.
Mithilfe des erfolgreichen deutschen Gesetzes für den Vorrang erneuerbarer Energien und des Energieeinspeisungsgesetzes sowie durch die Anwendung von Solartechnologie über die bloße Gebäudeintegration hinaus, haben einige Kleinstädte in Bayern Genossenschaften gegründet, die einige der weltweit größten Solarfarmen betreiben. Jühnde, ebenfalls in Deutschland, ist als von fossiler Energie unabhängige Gemeinde bekannt geworden, die sich selbst mit lokal gewonnenem und hergestelltem Biogas für stationären und mobilen Gebrauch versorgt.
In Dänemark sind Bevölkerungsgruppen auf den Inseln und dem Festland von Samsø bis Thisted zu Wirtschaftsmodellen übergegangen, die völlig ohne fossile Brennstoffe auskommen. In Sacramento, Kalifornien, haben altgediente Führungspersönlichkeiten staatliche und private Energieversorger in städtischen Besitz überführt, um selbst über ihre Geschicke zu bestimmen. Hier führten in den 80er-Jahren auch Bemühungen der Kommune durch Investition in Blockheizkraftwerke, Biogas, Photovoltaik und Windkraft zur Schließung eines Kernkraftwerkes und zur Erlangung der Hoheit der Verbraucher über den städtischen Versorgungsbezirk – damit geriet der sechstgrößte Energieversorger der USA in Verbraucherhand.
Einige amerikanische Lokalregierungen von Kalifornien bis Massachusetts haben eine Reihe von Initiativen zur Energieeffizienz und Förderung regenerativer Energien entwickelt. Mitte des Jahres 2007 wurde die Delaware Sustainable Energy Utility als nachhaltiger Energieversorger gegründet. Die öffentliche Gesellschaft basiert auf Anleihen und steuert lokale Innovationsbemühungen in den Bereichen Energieeffizienz und regenerativer Energieerzeugung. Staatliche und lokale Energieversorger sowie dezentrale Energiegesellschaften werden rund um die Welt in Rekordtempo eingeführt.
In Dänemark, das eines der besten Modelle genossenschaftlichen Eigentums besitzt, hat die Stadt Kopenhagen dabei geholfen, Middelgrunden ins Leben zu rufen: eine Offshorewindfarm, die das Eigentum von Tausenden Genossenschaftern ist, die in ihre erfolgreiche Planung, den Entwurf und die Umsetzung involviert waren.
Auch auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts vollziehen sich auf regionaler und lokaler ebene dramatische Umwälzungen. Die Stadt Barcelona hat in den 90er-Jahren die Solarverordnung verfügt, die besagt, dass alle neuen und umgebauten Wohnungen und Eigenheime 60 Prozent ihres Warmwassers (und einige weitere Energieanteile) aus Sonnenenergie beziehen. Das Modell, das ursprünglich für die Stadt Berlin entwickelt wurde, war so erfolgreich, dass es zuerst von Dutzenden Städten in ganz Spanien eingeführt wurde und nun ein weitverbreitetes System ist. Berlin will jetzt nachziehen und hat 2008 einen solaren Rahmenplan für all seine Bezirke und Quartiere herausgegeben (Senat von Berlin 2008). Und die deutsche Bundesregierung hat eine Studie herausgegeben, deren Prinzipien es erlaubt, alle deutsche Städte auf ihre Fähigkeit hin zu untersuchen, sich „intramuros“ mit erneuerbaren Energien selbst in Hinsicht auf Wärme und Strom zu versorgen (Genske et al. 2009)
Auch in der Dritten Welt gibt es in steigendem Maße Versuche, sowohl Städte als auch informelle Armensiedlungen mit erneuerbaren Energiequellen auszustatten. Dies geschieht mit Unterstützung von bilateralen Hilfsprogrammen oder multilateralen Initiativen, von gemeinnützigen und quasi nichtstaatlichen Netzwerken wie der Global Village Energy Partnership (GVEP), der Renewable Energy and Efficiency Partnership (REEP), der Entwicklungs- und Umweltprogramme der Vereinten Nationen und sogar der Weltbank.
Aber die vielversprechendsten Maßnahmen sind doch die, welche auf lokaler und regionaler Ebene erdacht und umgesetzt werden – wenn sie auch immer noch, wie die internationalen Programme, recht dünn gesät und sporadisch sind. Der ländliche Sektor, dem vergangene Elektrifizierungsprogramme löblicherweise versagt blieben, profitiert im Vergleich mit den städtischen Gemeinden etwas mehr von den Errungenschaften im Bereich der erneuerbaren Energien.
Bangladesch ist Sitz der weltgrößten Bank zur Vergabe von Kleinstkrediten (micro-lending), der Grameen Bank, dessen Gründer Muhamad Yunis kürzlich den Friedensnobelpreis erhielt. Grameen Shakti ist ihr Ableger im Bereich Finanzierung und Erzeugung von Solarenergie, der Zehntausende von Landbewohnern in Dutzenden von Dritte-Welt-Ländern mit Strom versorgt. Grameen Shakti ist von Dipal Barua geleitet, der nach dem alternativen Nobelpreis 2009 auch den mit einer Million Dollar dotierten ersten Zayed Future Energy Prize aus Abu Dhabi erhielt.
Der gegenwärtige Übergang bringt ein schnell wachsendes, gemischtes Feld von Erhebungen und praktischen Versuchen hervor. Geprägt von der Dynamik der globalen städtischen Wandlungen im Energiesektor, nimmt es im Zuge eines losen öffentlichen Diskurses, einer sich herauskristallisierenden politischen Linie, durch technologische Innovationen in verwandten Bereichen sowie aufgrund von soziologischer Forschung und kritischem Journalismus Gestalt an. Viele verschiedene Disziplinen sind dabei miteinander verbunden – wie zum Beispiel Wirtschaft, Gemeindeentwicklung, Architektur und Städtebau, Verkehrsplanung, Energiepolitik, erneuerbare und effizientere Energietechnologien. Die Energieinfrastruktur selbst wird dabei zur treibenden Kraft einer neuen, hoffnungsvollen, jedoch auch immer dringender bereits überfälligen Revolution.
Literatur:
- Campbell, Colin J. (2005): „Revision of the Depletion Model“. In: The Association for the Study of Peak Oil and Gas (ASPO). Article 624, Newsletter No 58.
- Davis, M. (2007): Planet of Slums. New York/London.
- Droege, Peter (2006): The renewable city – comprehensive guide to an urban revolution. London.
- Droege, Peter (2008): Urban energy transition – from fossil fuel to renewable power. New York.
- Hansen, James et al. (2008): Target CO2-emissions: Where Should Humanity Aim? NASA/Goddard Institute for Space Studies. New York.
- International Energy Agency (Hg.) (2007): World Energy Outlook. Paris.
- Senat von Berlin (Hg.) (2008): Solarer Rahmenplan Berlin. Berlin.
- Scheer, Hermann (1999): Solare Weltwirtschaft. München.
Dieser Text erschein zuerst in Band 2 der Schriftenreihe der IBA Hamburg: METROPOLE: RESSOURCEN, 2008. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der IBA Hamburg GmbH.