Die Entzauberung Asiens: Tibet und die Mongolei in der abendländischen Imagination

Die Verklärung des westlichen Tibetbildes hat tiefe Wurzeln und reicht bis ins Mittelalter zurück. Im Gegensatz zu den meisten gängigen Darstellungen über Tibet hat das Land sehr wohl eine säkulare Geschichte. An die Stelle der Kenntnis tibetischer Geschichte und Kultur jenseits seiner Religion ist jedoch selbst in der tibetischen Exilgesellschaft die unkritische Übernahme eines Tibetbildes gerückt, das ein Tibet jenseits realpolitischer Niederungen zeichnet. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Asien.

Auszug aus: "Verlorene Paradiese: Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Sommersemester 2002", hrsg. im Auftrag des Collegium generale von Peter Rusterholz... (et al.). - Bern: Haupt, 2004. Zitiert hier mit Genehmigung der Autorin. 

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Die Entzauberung Tibets

Während  über lange Jahre das Bild Tibets in den populärwissenschaftlichen Medien, aber auch in den fachwissenschaftlichen Publikationen von einer dekontextualisierten Wahrnehmung Tibets als spirituelles Paradies bestimmt war, begann dieses Bild in den letzten Jahren feine Risse zu bekommen. Die durch Edward Said im Jahre 1978 angestossene Orientalismusdebatte, die in den Orientwissenschaften (besonders in der Islamwissenschaft) eine Krise ihres Selbstverständnisses ausgelöst hatte, wurde lange Zeit in den Zentralwissenschaften und der Buddhologie ignoriert. Erst 1995 erschien die erste Buchpublikation zur Buddhismusrezeption im Kolonialismus, und 1998 folgte die längst überfällige Aufarbeitung der abendländischen Tibet-Rezeption durch den amerikanischen Tibetologen Donald Lopez Junior in seiner vielbeachteten Monographie Prisoners of Shangri-La. Buddhism and the West. Im Mai 1996 wurde in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland die erste grosse Konferenz zur Mythologisierung Tibets, die den bezeichnenden Titel Mythos Tibet trug, abgehalten, der im Jahr 2000 eine Ausstellung über die Traumwelt Tibet – Westliche Trugbilder im Völkerkundemuseum der Universität Zürich folgte.

Cover Perspectives Asien

Perspectives Asien ist eine Publikationsreihe, die einem deutschen und europäischen Publikum asiatische Perspektiven vorstellt, Analysen zu globalen Trends liefert sowie vertiefte Einblicke in die Entwicklungen und politischen Debatten in Asien gibt. 

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Des weiteren erschienen in den letzten Jahren zwei Publikationen im deutschsprachigen Raum, deren Autoren sich eine gründliche „Entzauberung“ Tibets vorgenommen hatten. Da es sich bei den Werken von Colin Goldner und dem Ehepaar Trimondi jedoch um persönliche „Abrechnungen“ mit dem tibetischen Buddhismus handelt, kann von einer Entmythisierung keine Rede sein, im Gegenteil: Ein neuer, diesmal negativer Mythos „Tibet“ wird aufgebaut. Die tíbetische Geistlichkeit unter ihrem „Anführer“, dem Dalai Lama, wird als eine finstere Macht dargestellt, die sich die Erlangung der Weltherrschaft zum Ziel gesetzt hat. Dieser Vorwurf des Strebens nach Weltherrschaft greift auf einen weiteren Rezeptionsstrang des „mythischen Asiens“ zurück und ist keineswegs neu: Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Buddhismus von NS-Ideologen als „Zerfallserscheinung nordischen Rassengeistes“ angesehen. Ihnen zufolge bedrohe der „Lamaismus“ zusammen mit den jüdischen Freimaurern und dem römischen Papsttum die Völker Europas. General Ludendorff verfasste zusammen mit seiner Frau 1941 ein diesen Thesen gewidmetes Werk mit dem bezeichnenden Titel Europa den Asiatenpriestern? Der Topos des tibetischen Buddhismus als „Zerfallserscheinung“ hat eine lange Geschichte. Das erste Mal taucht er in den Berichten der Kapuzinermönche aus Lhasa zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf. Sie betrachteten den tibetischen Buddhismus als ein Werk des Satans, da er dem Katholizismus, der „wahren Religion“, so täuschend ähnlich sei.

Bilder haben eine ihnen innewohnende Wirklichkeit, ja sie erschaffen Wirklichkeit. Inzwischen haben sich die Exiltibeter den Mythos ihrer selbst grösstenteils zu eigen gemacht. Wie sehr das Konzept eines friedlichen und spirituellen Tibet inzwischen auch von tibetischer Seite verinnerlicht worden ist, zeigt folgende Passage des 14. Dalai Lama, die in seiner Autobiographie zu finden ist:
„Die Tibeter sind ihrer Veranlagung nach ziemlich aggressiv und kriegerisch, ihr wachsendes religiöses Interesse änderte dies aber... Früher war Tibet einmal ein großes Reich gewesen, das sich über ganz Zentralasien erstreckte... Im Jahre 763 eroberten tibetische Krieger sogar die Hauptstadt Chinas... Mit dem Erstarken des Interesses am Buddhismus änderten sich aber die Beziehungen zu den Nachbarländern und nahmen einen spirituellen Charakter an.“

Jetzt denken die Leserin und der Leser sicherlich, dass dies den historischen Tatsachen entspräche, da das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter solch eine Aussage zur eigenen Geschichte macht und ihr damit eine hohe Authentizität verleiht. Darüber hinaus werden sie wenig Gegenteiliges in der fachwissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen Sekundärliteratur finden. In tibetischen historischen Abhandlungen finden sich jedoch eine Vielzahl von ausführlichen Schilderungen kriegerischer Handlungen, die von Tibetern, u.a. sogar von Mönchen, vorgenommen wurden. Militärische Gewalt war den Tibetern im Laufe ihrer Geschichte durchaus nichts Fremdes. Noch im Jahre 1679 überzog Tibet mit Unterstützung mongolischer Truppen das ebenfalls buddhistische Nachbarland Ladakh mit einem Krieg, der erst 1684 durch einen Friedensvertrag beendet wurde, in dem die Gebiete von Ru-thog und Gu-ge an Tibet abgetreten und die Grenze zwischen beiden Ländern neu festgelegt wurde. Der berühmteste Vorgänger des jetzigen Dalai Lama, der „grosse“ fünfte Dalai Lama Ngag dbang blo bzang chos kyi rgya mtsho (1617-1682), empfahl gar für den Umgang mit politischen Gegnern das folgende:

„Man mache die männlichen Linien wie Bäume, deren Wurzeln abgeschnitten wurden;
man mache die weiblichen Linien wie Bäche, die im Winter ausgetrocknet sind;
man mache die Kinder und Enkelkinder wie Eier, die gegen Felsen geschmettert wurden;
man mache die Diener und Anhänger wie Haufen von Gras, die vom Feuer verzehrt werden;
man mache ihre Macht wie eine Lampe, deren Öl aufgebraucht ist;
kurz, man vernichte jede Spur von ihnen, selbst ihre Namen.“

Da Tibet im Gegensatz zu anderen Regionen Asiens auch in der postmodernen Welt noch nicht seine Entzauberung erfahren hat, will ich zum Abschluss meiner Ausführungen einige Stichworte liefern, die zu solch einer dringend notwendigen Entzauberung beitragen können:
Im Gegensatz zu den meisten gängigen Darstellungen über Tibet hat das Land sehr wohl eine säkulare Geschichte. Im 7. bis 9. Jahrhundert war Tibet die bedeutendste Grossmacht Zentralasiens, und seine Armeen standen in Ostturkestan und in China. Das Land wurde innenpolitisch seit dem 11. Jahrhundert immer wieder von bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschüttert, die in den unterschiedlichen machtpolitischen Interessen der grossen Klöster und lokaler Fürsten begründet waren. Die Institution der Dalai Lamas als politische Institution wurde erst im 17. Jahrhundert begründet. Die Abschliessung des Landes wurde von den mandschurischen Herrschern der Ch'ing-Dynastie seit dem 18. Jahrhundert aus politischen Erwägungen heraus forciert. Während des gesamten europäischen Mittelalters war Tibet keine abgeschottete Enklave jenseits des Himalaya, sondern hatte vielfältige kulturelle und wirtschaftliche Kontakte zu den angrenzenden Ländern. In Lhasa und anderen grösseren Städten wie z.B. Shigatse siedelten Ausländer unterschiedlichster Herkunft, u.a. armenische Kaufleute, und ab dem 17. Jahrhundert gab es eine grosse muslimische Gemeinde in Lhasa. Das Land hat die wahrscheinlich quantitativ grösste Schriftkultur der Welt hervorgebracht. Neben einer ausgeprägten Geschichtsschreibung haben sich eine Vielzahl unterschiedlicher religiöser wie auch säkularer Literaturgattungen entwickelt. Die tibetische Kultur besass und besitzt einen ausdifferenzierten säkularen Wissenskanon. In den Klosteruniversitäten des Landes wurden auch säkulare Wissenschaften gelehrt, u.a. Mathematik, Astronomie und Medizin. Es gab zwei grosse medizinische Fakultäten, die heute im Exil weiterbestehen. 

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Dossier

Hintergrund Tibet

Die Proteste im Vorfeld der Olympischen Spiele haben die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erneut auf die Konflikte um dieses Tibet gelenkt. Mit dem Ziel der Förderung einer öffentlich-politischen Meinungsbildung bietet die Heinrich-Böll-Stiftung jetzt ein überarbeitetes, aktualisiertes Tibet Dossier, das die Komplexität des Themas aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.