Ausgewogenheit und Hermeneutik im Nahen Osten

30. Januar 2009
Von Marcia Pally

Von Marcia Pally

Ausgewogenheit und Hermeneutik - Obama hat seinen Wahlkampf in weiten Teilen auf diesen beiden Prinzipien aufgebaut und scheint sich auch jetzt, zu Beginn seiner Präsidentschaft, danach zu richten. Ausgewogenheit - in seiner Aufmerksamkeit gegenüber allen Seiten: Obama hört allen zu, er gibt allen, und er fordert etwas von allen. Hermeneutik - eine Art, die Dinge zu verstehen, die die Leute dazu bringt, alte Standpunkte hinter sich zu lassen und sich auf etwas Neues hinzubewegen.

So lud Obama zum Beispiel den evangelikalen Pastor Rick Warren ein, das Eingangsgebet zu seiner Vereidigung  zu halten, was in der Gay-Community und bei vielen Progressiven angesichts von Warrens lautstarker Opposition gegen die Homo-Ehe auf heftige Proteste stieß. Dann aber entschied er, das Bittgebet bei dem Open-Air-Konzert in Washington zwei Tage vor der Vereidigung von dem schwulen anglikanischen Bischof Gene Roberts halten zu lassen. Und für die Predigt beim Nationalen Gebetsgottesdienst am Tag nach der Amtseinführung wählte er eine Frau aus, Sharon Watkins. Watkins ist Präsidentin und Pastorin der als liberal geltenden Christian Church (Disciples of Christ) - und die erste Frau, die jemals für diese höchst publikumswirksame Predigt ausgewählt wurde. Alles war sehr ausgewogen.

Obama denkt Richtung Zukunft

Hermeneutik, das sind zum Beispiel Obamas Wahlkampfslogans „Change“ und „Yes, we can“. Wäre er auf der Vergangenheit herumgeritten, und hätte er sich auf ein Bush-war-schuld-Spiel eingelassen, er hätte die Nation in ihrer alten Polarisierung belassen, den Republikanern Auftrieb verschafft und unentschlossene Wechselwähler abgeschreckt. Stattdessen präsentierte Obama den Menschen ein Image, das sie über die Bush-Ära hinaus blicken ließ und ihre Gedanken auf die Zukunft richtete.

Obama ist ein Meister darin, die passende Hermeneutik zu finden - Bilder, die einander gegenüberstehende Lager zu überzeugen vermögen und von ihnen möglicherweise sogar übernommen werden.

Diesen Dienstag, kaum eine Woche nach seiner Amtseinführung, hat Obama dem arabischsprachigen Fernsehsender Al-Arabija ein Interview geben. Was für ein Image-Coup! Die Menschen der arabischen Welt sind es nicht gerade gewöhnt, dass sich US-Präsidenten die Zeit nehmen, mit ihnen zu sprechen. Allerdings hätte die Sache auch leicht ins Auge gehen, den Antiamerikanismus in der arabischen Welt weiter schüren, das Misstrauen verstärken können. Nimmt man die Berichterstattung von Al-Arabija als Maßstab, dann scheint das nicht geschehen zu sein. Wie nicht anders zu erwarten, hätte man bei Al-Arabija von Obama gerne mehr über das Leiden der Palästinenser und die Brutalität der Israelis gehört, aber insgesamt schien man beeindruckt. Obama fand eine Hermeneutik, eine Art, über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu sprechen, die dazu beitrug, die Gedanken der Zuhörer auf die Zukunft zu richten.

Zuhören statt diktieren

Gleich zu Beginn beruhigte Obama. Die USA würden das Problem angehen, indem sie zuhörten, denn „viel zu häufig diktieren die USA von Anfang an die Bedingungen“. Obama sprach davon, dass er in Indonesien, der weltweit größten muslimischen Nation, gelebt habe, er Muslime in seiner Familie habe und wisse, dass die USA „einen Glauben nicht in Bausch und Bogen für die Folgen der Gewalt verdammen können, die im Namen dieses Glaubens verübt wird“. Aus seinen Erfahrungen in muslimischen Ländern wisse er auch, dass die Menschen aller Glaubensrichtungen „bestimmte gemeinsame Hoffnungen und Träume teilen“.

Seine Aufgabe sei es also, erklärte er, „dem amerikanischen Volk deutlich zu machen, dass es in der muslimischen Welt viele außerordentliche Menschen gibt, die einfach ihr Leben leben wollen und sich ein besseres Leben für ihre Kinder wünschen. Meine Aufgabe gegenüber der muslimischen Welt besteht darin, ihr zu verstehen zu geben, dass die Amerikaner nicht ihre Feinde sind. Wir machen manchmal Fehler… Es gibt keinen Grund, warum wir den gegenseitigen Respekt und die Partnerschaft, die zwischen Amerika und der muslimischen Welt noch bis vor 20 oder 30 Jahren bestanden, nicht wiederherstellen können.“

Den gegenseitigen Respekt wiederherstellen

Obama gab auch einige der üblichen Versprechen ab: „Ich denke, wir können uns - ich werde hier keinen Zeitpunkt nennen - einen zusammenhängenden palästinensischen Staat vorstellen.“ Im nächsten Atemzug aber äußerte er sich auch eindeutig in Sachen Israel: „Israel ist ein starker Verbündeter der USA... Ich werde weiterhin daran glauben, dass Israels Sicherheit über alles geht. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass es Israelis gibt, die erkennen, wie wichtig es ist, Frieden zu schaffen. Sie werden bereit sein, Opfer zu bringen - wenn die Zeit dafür reif ist - und wenn auf der anderen Seite die Bereitschaft vorhanden ist, eine ernsthafte Partnerschaft anzustreben.“

So weit haben wir es hier mit einer Portion Ausgewogenheit und einer anfänglichen Portion guten Willens zu tun. Doch dann kam er zum Kern der Sache. Oder besser gesagt, er tat das nicht. Was er tat, war, den Blick darüber hinaus zu richten.

Das große Problem dabei, zu einem Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern zu gelangen, besteht darin, dass beide Seiten die lange zurückreichenden wechselseitigen Beschuldigungen wie Scheuklappen tragen. Beide Seiten führen eine lange Liste, auf der die Ungerechtigkeiten, Gewalttaten und gebrochenen Versprechen der jeweils anderen Seite verzeichnet sind. Beide Seiten stecken im Misstrauen und der daraus entstandenen Wut fest. Verhandlungen waren für beide Seiten bislang vor allem der Versuch, die Liste der Beschuldigungen abzuarbeiten. Der Bezugsrahmen, die Denkweise, waren in die Vergangenheit gerichtet. Das hat die Verhandlungen jedes Mal scheitern lassen.

Denkweisen ändern

So lange die Missstände der Vergangenheit abgearbeitet werden, so lange jede Seite für ihre Wunden entschädigt werden will, so lange wird kein Friedensabkommen zustande kommen. Man kann die Sünden der Vergangenheit nicht in der Gegenwart abbezahlen. Die Vergangenheit ist ein Abgrund von Verletzungen für die es weder Erlösung noch „Lösung“ gibt. Abgesehen davon ist keine der beiden Seiten willens, den Preis zu bezahlen, den die jeweils andere für gerechtfertigt hält.

Ein Abkommen ist nur möglich, wenn man sich einer Zukunft zuwendet, die einen Ausweg aus der unlösbaren Vergangenheit und der verfahrenen Gegenwart weist. Damit will ich nicht sagen, Reparationen für verlorenes palästinensisches Eigentum seien nutzlos. Sie müssten aber das Grundkapital für die Zukunft sein, nicht Dollar- oder Euroscheine, die als Trostpflaster für in der Vergangenheit geschlagene Wunden dienen.

Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Viele der intelligenteren Teilnehmer an den bisherigen Friedensverhandlungen wissen das schon lange. Allein, das Problem ist, dass man den Israelis oder Palästinensern nicht einfach vorschreiben kann, sie sollten den Blick von der Vergangenheit abwenden. Es ist ihre Geschichte und der Ursprung ihrer Identität und ihrer Emotionen. Und auf Basis ihrer politischen Erfahrungen müssen die Strategien für zukünftige Verhandlungen entwickelt werden. Wenn wir sagen: „Versucht es doch damit“ … und sie antworten: „Aber das letzte Mal, als wir das versucht haben, haben die anderen…“, dann sind wir zurück in der Vergangenheit.

Geschichte, Identität, Emotionen

Was wir brauchen, ist eine Hermeneutik, einen Weg, Friedensgespräche so zu nutzen, dass beide Seiten ihre Interessen gewahrt sehen und den Blick in die Zukunft richten. Wir brauchen ein anderes Bild von dem, was die anderen, die mit am Tisch sitzen, tun. Eben ein solches Bild hat Obama in seinem Interview mit Al-Arabija entworfen. Er sagte:
 
„Unter dem Strich geht es in all diesen Verhandlungen und Gesprächen doch nur darum, ob es den Kindern in den palästinensischen Gebieten besser gehen wird. Werden sie eine Zukunft haben? Und werden die Kinder in Israel sich sicher und geschützt fühlen? Wenn wir uns darauf konzentrieren, ihr Leben besser zu machen und nach vorn zu schauen, statt immer wieder über die Konflikte und Tragödien der Vergangenheit nachzudenken, dann haben wir, glaube ich, eine Chance, wirkliche Fortschritte zu erzielen.“

Israelis wie Palästinenser wünschen sich sicherlich eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Und es ist auch nicht allzu schwer, den Wunsch der anderen Seite nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder zu verstehen. Werden in künftigen Verhandlungen Vorschläge an diesem Maßstab gemessen und nicht an den Verfehlungen der Vergangenheit oder den bei lange zurückliegenden Gesprächen angewendeten Verhandlungstricks, dann könnte vielleicht allmählich ein Weg gebahnt werden, der nach vorne führt.

Eine Zukunft, besser als Gegenwart oder Vergangenheit

Ich will nicht behaupten, das sei einfach. Aber es ist möglich. Die von Obama angebotene Hermeneutik - ob nun Bild oder Maßstab - ist eine Möglichkeit, die Unterhändler, salopp gesagt, auf dieselbe Wellenlänge zu bringen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, etwas in Gang zu setzen, was - für beide Seiten - besser ist als das, was sie aktuell haben. Für sich genommen ist das keine Lösung. Aber es ist ein Weg, der vielleicht zu einer Lösung führen kann.

Und genau das ist es, worauf sich Obama bestens versteht. Das heißt nicht, dass er ein Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern zustande bringen wird. Es heißt nur, dass er ein gutes Angebot gemacht hat - nicht im Sinne von Vorschlägen, sondern im Sinne eines Wegs, zu Vorschlägen zu gelangen. Ein Friedensabkommen hängt davon ab, ob die verfeindeten Seiten dieses Angebot annehmen.

Jimmy Carter hatte Glück: Sadat und Begin stimmten zu, und Ägypten und Israel schlossen, wenn nicht Freundschaft, so doch Frieden. Heute ist das alles nicht so simpel. Sollten aber die Israelis und Palästinenser Obamas Angebot ausschlagen, dann wird sich die Politik der USA allein an ihren Interessen, an ihrer Sicht der Welt ausrichten (Öl - gut für die Araber; Möglichkeiten zu investieren - gut für die Araber; Terrorismus - gut für Israel; langfristige Bündnistreue - gut für Israel). Eine Hermeneutik kann Obama verändern, die Interessen der USA nicht.


Marcia Pally, Professorin an der New York University, veröffentlichte zuletzt das Buch „Die hintergründige Religion“ über den Einfluss der evangelikalen Bewegung auf die US-Politik (Berlin University Press, 2008).

Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Pfeiffer.