„Diesem Konflikt mangelt es nicht an Vermarktung und Aufmerksamkeit, doch das ist ein zweischneidiges Schwert: Die Welt hat genug von diesem Konflikt und kleine ‚Public Relations’ Erfolge bringen die Lösung nicht näher in einer Situation, in der die Zeit zum Nutzen von niemandem arbeitet.“ (Natasha Mozgovaya: A moment before stepping into the quicksand, in: Haaretz, December 29, 2008)
Die jüngste Eskalation des israelisch-palästinensischen Konfliktes ist nun eine Woche her. Die größte israelische Militäroffensive seit dem Krieg von 1967 in dem von eineinhalb Millionen Menschen bewohnten Gazastreifen hat dort bisher über 400 Tote und etwa 2000 Verletzte verursacht. Durch die aus dem Gazastreifen auf das israelische Kernland abgeschossenen Raketen sind inzwischen etwa eine Millionen Israelis potentiell betroffen. Durch den Beschuss wurden bisher vier Israelis getötet und zahlreiche weitere verletzt. Im Moment ist ein Ende der Eskalation nicht absehbar.
Sechs Wochen vor den Parlamentswahlen haben die israelischen Parteien wegen der Konfliktlage den Wahlkampf auf Eis gelegt. Dennoch haben die Entwicklungen aber Rückwirkungen auf die politische Landschaft vor den Wahlen.
Das zeigte eine am sechsten Tag der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen von der Tageszeitung Haaretz veröffentlichte Umfrage. Die drei „großen“ Parteien – Likud, Kadima und Arbeitspartei gewinnen hinzu. Am stärksten gewinnt die Arbeitspartei, deren Vorsitzender Verteidigungsminister Barak ist. Sie gewinnt Stimmen auf Kosten von Meretz, den Umweltparteien und der Rentnerpartei.
Ironischerweise haben sich damit die Gesamtgewichte zugunsten des Mitte-Links-Blocks verschoben, der jetzt in der Umfrage mit 60 Abgeordneten gleichauf mit dem Block aus rechten und ultraorthodoxen Parteien liegt. Die Kommentatoren verweisen aber darauf, dass sich das bis zu den Wahlen am 10.2.2009 erneut sehr verändern kann – nicht zuletzt abhängig vom weiteren Verlauf der Eskalation.
Die Zahlen reflektieren aber die allgemeine Stimmung hinsichtlich der israelischen Militäraktion. Die überwiegende Mehrheit der Israelis befürwortet das Vorgehen der israelischen Regierung: 52% der Befragten sind für eine Fortsetzung der Luftangriffe und 19% sind gar für eine Bodenoffensive. Demgegenüber sind 20% für einen Waffenstillstand so bald wie möglich, 9% machten keine Angaben.
Rückblick
Am 19.6.2008 trat ein von Ägypten zwischen Hamas und Israel vermitteltes Waffenstillstandsabkommen in Kraft. Davor sah es jedoch so aus, als sei eine militärische Konfrontation unvermeidbar. Yossi Beilin, damals noch Abgeordneter der Partei Meretz, schrieb in einem Artikel: „Der Oppositionsführer (gemeint ist Benyamin Netanyahu, J.B.) wird erneut seine Bereitschaft beweisen, für uns alle aufzustehen und uns seine wunderbaren rethorischen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Wie üblich wird er sich über jede politische Unstimmigkeit erheben und erklären, wie gerechtfertigt dieser Krieg ist. Es wird ihm gelingen, jüdische Aktivisten und die verschiedenen Neocons in den USA zu überzeugen. Und jeder – auch seine eingeschworenen Feinde - werden zugeben, dass niemand den Krieg in solch einem guten Englisch erklären kann, wie er.“
Doch zur Militärintervention kam es damals nicht. Der Waffenstillstand trat in Kraft. Von vereinzelten Beschüssen abgesehen, brachte er dem israelischen Süden eine Periode der Ruhe wie lange nicht mehr. Allerdings war der Waffenstillstand brüchig. Weder hörte der Raketenbeschuss völlig auf, noch konnte Einigkeit über die Öffnung der Grenzübergänge zum Gazastreifen zwischen Israel und Hamas erzielt werden. Seit Anfang November spitzte sich die Lage zu. Israelisches Militär drang in den Gazastreifen ein und zerstörte einen Tunnel. Dabei kamen sechs Palästinenser ums Leben. Seitdem verdichteten sich Vorgehensweisen, die von der jeweils anderen Seite als Bruch des Abkommens deklariert wurden. Im Blick auf eine mögliche Fortsetzung gab es widersprüchliche Äußerungen, vor allem von Seiten von Hamas.
Auf israelischer Seite sind zwei Versionen über den Hintergrund der israelischen Angriffe im Umlauf. Die erste besagt, Ministerpräsident Olmert sei nach dem Beschuss von Ashkelon mit sechs Grad-Raketen Mitte November 2008 klar geworden, dass es zu einer militärischen Konfrontation werde kommen müssen. Entsprechend habe er das Militär instruiert. Barak sei erst ab dem 17.12. dieser Einschätzung gefolgt.
Nach der anderen Version hat Barak die Militäraktion bereits seit langer Zeit geplant. Er sei bereit gewesen, vielerlei Anschuldigungen über seine vermeintliche Untätigkeit in Kauf zu nehmen, um Hamas in Sicherheit zu wiegen. Hamas sei schließlich in diese Falle getappt.
Ministerpräsident Olmert, Verteidigungsminister Barak und Außenministerin Livni traten nach dem Beginn der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen gemeinsam vor die Presse. Doch das ändert nichts an der Konkurrenz zwischen Barak und Livni, die bei den bevorstehenden Wahlen um diegleichen Wähler kämpfen. Es ändert auch nichts an der durch die Krisen der derzeitigen Regierung entstandenen Feindschaft zwischen Olmert und Livni. All das kam etwa in dem Streit zum Tragen, wie mit der französischen Initiative zu einem 48-stündigen Waffenstillstand umgegangen werden sollte, den Livni im Gegensatz zu Barak grundsätzlich ablehnte.
Reaktionen in Israel
Die oben genannten Zahlen zeigen die breite Zustimmung zur Vorgehensweise der israelischen Regierung. Es gibt allerdings auch Dissens, wo man ihn zunächst nicht vermutet. So erklärte der langjährige Bürgermeister von Netivot bei einem Besuch einer Delegation von Knesset-Abgeordneten und Ministern zwei Tage nach dem Tod eines Bürgers der Stadt durch einen Raketenangriff, es sei ein Fehler, dass Israel bislang nicht mit Hamas gesprochen habe.
An verschiedenen Orten, vor allem an Universitäten kam es zu Protestaktionen gegen die israelische Militäraktion. Dabei kam es verschiedentlich zu Auseinandersetzungen mit Angehörigen rechter Gruppen. Auch in arabischen Ortschaften in Israel und in Ost-Jerusalem sowie in der Westbank kam es zu Demonstrationen.
Das israelische Parlament erlebte einen erneuten Schlagabtausch zwischen Avigdor Lieberman von der Partei Yisrael Beteinu und arabischen Abgeordneten. Lieberman bezeichnete die arabischen Abgeordneten als fünfte Kolonne und forderte ihre Exilierung. Achmed Tibi von der Partei Ra’am – Ta’al bezeichnete den aus Russland stammenden Lieberman daraufhin als Faschisten und forderte ihn auf, dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen sei.
Israelische Schriftsteller, die das militärische Vorgehen anfangs für gerechtfertigt hielten, forderten bald darauf einen Waffenstillstand. Amos Oz schrieb am Tag vor Beginn der Militäroffensive in der Tageszeitung Yedioth Aharonot, Israel habe das Recht seine Bürger zu verteidigen. In der gleichen Zeitung gab er am darauffolgenden Mittwoch (31.12.08) Hamas die Schuld am Ausbruch der Gewalt, forderte aber einen Waffenstillstand. Wenn Hamas seinen Beschuss Israels beende, müsse Israel die Blockade des Gazastreifens lockern. A.B. Yehoshua hielt sowohl die Militäroperation, wie ihr schnelles Ende für nötig. Als Teil des Waffenstillstandes sollten die Grenzübergänge geöffnet werden und Arbeiter aus Gaza sollten wieder in Israel arbeiten können. David Grossman forderte am 30.12.2008 eine 48-stündige einseitige Waffenpause und die Vermittlung einer Waffenruhe durch Außenstehende. Auch er verwies auf die Notwendigkeit der Suche nach gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Gaza.
Die Haltung dieser Schriftsteller spiegelt auch die Entwicklungen in der Partei Meretz wider. Deren Vorsitzender Haim Oron forderte zwei Tage vor der Bombardierung Gazas, Israel müsse kompromisslos gegen Hamas vorgehen, was ihm sofort Kritik aus der kommunistischen Partei einbrachte. Ebenso wie Amos Oz fordert Meretz inzwischen einen Waffenstillstand. Dass es offenbar innerhalb von Meretz kontroverse Diskussionen zur Positionierung der Partei gibt, zeigt eine Mahnwache, die am 1.1.09 vor der Privatwohnung von Verteidigungsminister Barak von jungen israelischen Autoren und Autorinnen abgehalten wurde. Dort nahm auch Avtisam Marana teil, die bisherige Nr. 12 auf der Meretz-Liste. Sie kündigte dort ihren Austritt aus Meretz an, weil die Partei diesen Krieg unterstützt habe.
Radikale Friedensgruppen wie Gush Shalom, die für Verhandlungen mit Hamas eintreten und die arabischen Parteien im israelischen Parlament, haben die israelische Vorgehensweise von Anfang an abgelehnt. Inzwischen fordert auch die Friedensgruppe Peace Now unter anderem in Zeitungsanzeigen eine sofortige Waffenruhe. Die Fehler des zweiten Libanon-Krieges dürften nicht wiederholt werden.
Es gibt den kritischen Diskurs in der Presse – in der liberalen Haaretz naturgemäß stärker als anderswo. Gideon Levy stellt die Frage, ob die Piloten, die die Bombardierungen ausführen wirklich sicher auf ihre Basis zurückkehren, oder nicht vielmehr als abgestumpfte, grausame und blinde Menschen.
Amira Hass, die früher im Gazastreifen lebte und kürzlich mit einem der Boote des „Free Gaza Movement“ für kurze Zeit dorthin zurückkehrte, schildert dem israelischen Publikum, was im Gazastreifen geschieht und stellt kritische Fragen. So etwas die Frage, wieso der Beginn der Luftangriffe an einem Samstag um 11:30 genau zu dem Zeitpunkt stattfand, als sich die Schüler Gazas in den Straßen befanden, die eine Hälfte nach dem Ende des Morgenunterrichtes, die anderen auf dem Weg zum Nachmittagsunterricht.
Der Historiker und Journalist Tom Segev kritisiert, dass das israelische Verhalten mit den immer gleichen Grundannahmen gerechtfertigt wird, obgleich diese sich noch jedes Mal als falsch erwiesen haben: den Palästinensern müsse eine Lektion erteilt werden; den Palästinensern könne eine moderate Führung aufgezwungen werden, die die nationalen Sehnsüchte aufgibt; das Leiden der Zivilbevölkerung werde diese dazu bringen, gegen ihre nationale Führung zu rebellieren. Dazu komme die Vorstellung, dass Israel sich nur verteidige – als ob der Gazastreifen nicht einer langandauernden Belagerung ausgesetzt wäre, die die Möglichkeit eines lebenswerten Lebens für ganze Generationen zerstört habe.
Der erwähnte kritische Diskurs ist allerdings eine Randerscheinung und bleibt auch auf den gleichen Seiten der Tageszeitung Haaretz nicht unwidersprochen. Yoel Marcus etwa schreibt, dass er im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen seine Freude über den Rauch und die Flammen, die sich aus Gaza auf die israelischen Fernsehschirme ergießen, nicht verhehlen will. Endlich sei die Zeit gekommen, dass ihre Körper bebten und dass sie verstehen müssten, dass ihre blutigen Provokationen gegen Israel einen Preis hätten.
Ari Shavit spricht von den Israel hassenden Israelis, die das Vorgehen der Regierung und des Militärs als Kriegsverbrechen kritisieren. Während auch Ägypten und die internationale Gemeinschaft Verständnis für das Vorgehen Israels hätten, zeigten die Israel hassenden Israelis nicht nur keine Empathie für die Israelis, die durch die aus dem Gazastreifen kommenden Raketen bedroht seien, sondern auch nicht für die moderaten, freiheitsliebenden Palästinenser.
Diplomatische Bemühungen
Die diplomatische Uhr tickte bislang nicht sehr schnell. Das liegt unter anderem daran, dass sich der Westen in den Weihnachtsferien befindet. Unter anderem wurde im israelischen Außenministerium spekuliert, dass Israel bis zum 5.1.2009 Zeit für seine Operation habe, da an diesem Tag die USA und Europa aus den Weihnachtsferien zurückkehrten. Die Möglichkeiten Saudi Arabiens und Ägyptens als Vermittler zu agieren, sind nach den gescheiterten Versuchen dieser Staaten, Fatah und Hamas miteinander zu versöhnen, reduziert bis unmöglich gemacht.
Das macht die Rolle der Türkei und Qatar umso wichtiger. Qatar hat gute Kontakte zu allen Seiten, inklusive dem Iran und die Türkei kann zwischen den Achsen Syrien-Hamas-Iran und Ägypten-Saudi Arabien- Palästinensische Autorität vermitteln.
Von einigen, die Hoffnungen auf die neue US-amerikanische Präsidentschaft gesetzt hatten, wird das bisherige Schweigen des gewählten Präsidenten Obama als kein gutes Zeichen für die künftige Rolle der USA gewertet.
Wieweit die EU mit ihren Vermittlungsbemühungen erfolgreich sein kann, wird sich zeigen müssen. Zunächst wurden die Erklärungen in Israel nicht sonderlich ernst genommen, da es nur Erklärungen waren, die nicht von der Entsendung hochrangiger Persönlichkeiten begleitet wurden.
Perspektiven
Politiker unterschiedlicher Parteien haben eine Verschiebung der Parlamentswahlen gefordert. Dem widersprach vehement die Tageszeitung Haaretz in einem Editorial. Die Wahlen seien schließlich nicht in der kommenden Woche. Diejenigen, die das forderten, hofften offensichtlich nur, dass zwischen Explosionen, Angst und Blut all die anderen Dinge vergessen würden: von der vermeidbaren Wasserkrise über die Probleme im Erziehungs- und Gesundheitssystem bis hin zu den Problemen der Flugsicherheit und der Korruption, die die vorgezogenen Neuwahlen überhaupt erst notwendig gemacht hätten.
Das negative Szenario sieht eine weitere militärische Verstrickung Israels, eine mögliche Beschießung des israelischen Nordens durch Hizbollah, zunehmend gewalttätige Proteste der arabischen Bevölkerung Israels und neue Selbstmordanschläge in Israel.
Das zuversichtlichere Szenario sieht eine vermittelte Einigung zwischen Israel und Hamas und damit mehr oder weniger eine Rückkehr zum Status Quo Ante.
Der Journalist Yossi Melman beschreibt sieben Szenarios für die weitere Entwicklung:
- Die Fortsetzung der gegenwärtigen Situation.
- Ein zeitlich begrenztes und gezieltes Eindringen von Bodentruppen in den Gazastreifen.
- Eine umfassende Bodenoffensive mit einer Wiederbesetzung des gesamten Gazastreifens.
- Die einseitige Erklärung eines begrenzten oder eines dauerhaften Waffenstillstandes.
- Ein durch internationale Vermittlung erzieltes Waffenstillstandsabkommen.
- Ein Ende der Militäraktionen verbunden mit einer Wiederbesetzung der Philadelphi Straße im Süden des Gazastreifens.
- Verhandlungen mit Hamas über Sicherheitsarrangements, die Freilassung des entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit und andere Themen.
Doch auch unter den besten Umständen wird nichts davon unser Hamas Problem lösen, so Yossi Alpher in dem israelisch-palästinensischen Internet-Rundbrief „bitterlemons“. Nach Alpher haben weder Israel noch irgendjemand anderes eine langfristige funktionierende Strategie für den Umgang mit Hamas im Gazastreifen. Gespräche mit Hamas müssen deshalb laut Alpher einen Platz in der strategischen Agenda Israels finden, wenn es auch nur in der Form von informellen, nicht-offiziellen Kontakten sei.
Die mögliche Hoffnung, dies werde seinen Weg in die Programmatik führender Parteien in den letzten Wochen vor der Wahl finden, so dass die israelische Bevölkerung über wirkliche Alternativen abstimmen könnte, wird wohl enttäuscht werden. Eine ernsthafte Bereitschaft in der israelischen Bevölkerung, sich mit diesen Alternativen auseinanderzusetzen, ist zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls nicht gegeben. Zudem steht angesichts unterschiedlicher Positionen innerhalb von Hamas zu dieser Frage auch keineswegs fest, ob und wie schnell eine veränderte Politik Israels zu Fortschritten führen könnte.
Jörn Böhme ist Büroleiter des Büros Israel der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
Übersicht der Beiträge von Jörn Böhme zur Situation in Israel und Gaza
- 2. Januar 2009: Notizen zur Situation in Israel und Gaza I, Jörn Böhme, Tel Aviv
- 4. Januar 2009: Notizen zur Lage in Israel und im Gazastreifen II, Jörn Böhme, Tel Aviv
- 6. Januar 2009: Notizen zur Situation in Israel und Gaza III, Jörn Böhme, Tel Aviv