Im Archiv treffen sich Gesellschaft, Kultur und Kunst. Es wird gesagt, wir befänden uns heute in einem regelrechten „Archivfieber“, in einer Zeit, die sich auf die Vergangenheit ausrichtet. Archive sind jedoch nicht nur Orte der Aufbewahrung, sie sind auch Orte der Produktion.
Doch wie werden sie aktiv oder aktiviert? Wer sind die Akteure, die in und um Archive arbeiten? Wer entscheidet über deren Nutzung und Aneignung? Was erhoffen sich die Archiveigner von der Aneignung der Materialien durch Dritte? Welche Motivationen gibt es, andere dazu einzuladen, mit den Archivalien zu arbeiten, sie zu kommentieren und zu interpretieren oder die Archive gar vollständig zu öffnen? Welche Produktivitäten und Konflikte können dabei entstehen?
Im Spielstand #9 unter dem Motto „Dem Archiv verschrieben – zur Politik des Sammelns“ diskutierten Prof. Diethart Kerbs (Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte und Arbeitsgemeinschaft zur Bildquellenforschung), der Künstler Thomas Locher und Stefanie Schulte Strathaus (Arsenal – Institut für Film und Videokunst) das Selbstverständnis und die Aufgaben von Archiven und Archivbetreibern. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Künstlerin Ines Schaber.
Archive – was ist öffentlich und was privat?
Thomas Locher beschrieb zu Beginn exemplarisch die Probleme der Archivnutzung im Entstehungsprozess seiner Arbeit „Privat/Öffentlich“, die 1996 im Rahmen eines Seminars an der Universität Lüneburg entstand und während der Veranstaltung ausgestellt war. Wenn Künstler so arbeiten, dass sie nicht nur eigene Bilder herstellen, sondern sich mit dem Diskurs um die Bilder beschäftigen, müssten sie in Archiven beginnen, so Locher.
Diese seien jedoch in der Regel verschlossen. Also mussten für sein Projekt andere Formen der Sammlung und des Zugangs zu Bildern entwickelt werden. Der entstandene Text-Bild-Atlas zeigt nicht nur die Ergebnisse dieser Sammlung, sondern auch die Arbeit um die Bilder selbst: Die Gegenüberstellungen von Bildern und die zugefügten Texte fungieren als Kommentar- und Frageebene. Dabei repräsentieren die Fragen die Unmöglichkeit, ein adäquates Bild zu finden für die Frage, was öffentlich und was privat sei.
Ihre Aufgabe sehe sie darin, „etwas zugänglich zu machen, was sonst nicht zugänglich wäre“, betonte dagegen Stefanie Schulte Strathaus, Vorstandsmitglied des Arsenal – Institut für Film und Videokuns e.V.. Das Archiv des Arsenals sei entstanden aus der Notwendigkeit heraus, einen Ort für Filme zu schaffen, die man sonst nicht sehen könne. Die drei Bereiche des Archivs, die zusammen ca. 9000 Filme umfassen, sind Filme des Forums der Berlinale, Avantgarde- und Experimentalfilme, die von Künstlern gestiftet wurden, sowie 16mm-Filme.
Zweck des Filmarchivs sei es, alles zugänglich zu machen, soweit es möglich ist: „Unser Archiv besteht nur aus der Praxis heraus und in die Praxis herein“, so Schulte Strathaus. Um dieses Ziel zu erreichen, würden die Filme durch eine Vielzahl von permanent neu zu entwickelnden Formen gezeigt und verliehen. Der Zugang zu ihnen werde als Forschung und Auseinandersetzung um den Film und nicht als eine Frage der Zuordnung verstanden.
So wurde z.B. durch die immer dringlicher werdende Frage der Vermischung der Bereiche von Film und Kunst vor ein paar Jahren ein neuer Bereich für die Berlinale, das Forum Experimental entwickelt, das Filme im Ausstellungskontext zeigt und darüber hinaus einen Verleih für sie gründete.
Der Zugang – zwischen Öffnung und Kontrolle
Auch die Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte (ABZ) und die mit ihr verbundene Arbeitsgemeinschaft für Bildquellenforschung entstand aus der Situation, dass es für Bilder keinen Ort gab und sie Gefahr liefen, nicht mehr sichtbar und zugänglich zu sein. Das private Archiv der ABZ beherbergt das Lebenswerk des Berliner Fotografen Willy Römer. Die Agentur und die Arbeitsgemeinschaft verstünden sich als Ort der Forschung und für das Schreiben von Bildgeschichte so Diethart Kerbs, Gründer der ABZ. Seine „Produkte“ seien der Verleih und die Herstellung von Ausstellungen und Büchern.
In der Diskussion wurden vor allem Fragen des Zugangs zu den Archiven gestellt und der damit verbundene Spagat zwischen Öffnung und Kontrolle. Das Archiv lebe nur weiter, so Thomas Locher, wenn es öffentlich bleibe und etwas zur Zeitgeschichte beitrage. Es müsse öffentlich bleiben, um lebendig zu sein. Als Künstler erwarte er von einem Archiv eine vorgeleistete Beobachterfunktion. Stefanie Schulte Strathaus unterstrich diese Forderung: Wenn ein Archiv sich nicht in der Praxis bewähre, verliere es seinen Sinn.
Thematisiert wurde auch die Unübersichtlichkeit der Archive, die ein großes Problem darstelle. Welche Kriterien und damit Sinnproduktion liegen der Verschlagwortung zugrunde? Wie können andere Formen von Sortierungen heute, neben der massiven Präsenz von Online-Suchmaschinen, überhaupt noch bestehen? Wie kann man Archive nutzen, wenn die Ordnungssysteme so unterschiedlich funktionieren? Welche Nutzer kommen in diese Archive? Und wo sind die Grenzen der Nutz- und Aneigenbarkeit; wo muss man sein eigenes Archiv schützen?
Alles eine Frage der Organisation
Locher stellte fest, dass gängige Suchbegriffe beim Finden von Bildern oft nicht hilfreich seien – das Wiederfinden bestimmter Bilder sei in der gängigen Ordnungspraxis nahezu unmöglich. Die für sein Projekt interessanten Begriffe wie „privat“ und „öffentlich“ zeigten in existierenden Suchmaschinen entweder gar keine oder unendlich viele Bilder an. Dass Archive auch anders organisiert sein können oder sogar müssen, als über den Zugriff durch Schlagwörter, zeigt das Beispiel des Arsenal-Archivs. Dort würden Genrebezeichnungen zum Beispiel das Finden von Filmen nicht ermöglichen, sondern zugleich auch viele Filme durch die Einordnung unauffindbar machen. Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf die veränderte Nutzerhaltung. Es herrsche heute häufig der Irrglaube, dass alles verfügbar, da ja digitalisiert sei. „Was nicht digitalisiert ist, dass gibt es nicht“, fasste Prof. Kerbs die häufig anzutreffende Grundhaltung zusammen. Ein Problem sei auch, dass bei der Digitalisierung fotografischer Bestände oft die Geschichte der Bilder verlorengehe, da diese nur auf der Rückseite der Abzüge lesbar sei, so Kerbs. Er wies in diesem Zusammenhang auf das große Verdienst staatlicher Archive, Museen und Bibliotheken hin, da sie Dinge aufbewahrten, die jahrzehntelang niemanden interessierten. Dies dürfe man nicht den Privatarchiven überlassen. Die Öffentlichkeit habe es allerdings versäumt, auch Bilder für alle zugänglich zu machen; alle bedeutenden Bildarchive seien privat. Dies sei seiner Meinung nach jedoch auch Aufgabe des Staates.
Alle drei Teilnehmer der Diskussionsrunde verstehen sich als Arbeiter um das Archiv. Ein Archiv jedoch, das sich nicht (nur) als Ort der Lagerung und Aufbewahrung, sondern als Teil einer Produktion versteht, in der das Schreiben von Geschichte so offen und lesbar wie veränderbar ist. Die gezeigten Praxen insistieren auf einen subjektiven und politischen Umgang mit Fotografie, Film und Video, das einem Versuch der Neutralität der Materialien oft widerspricht, und immer wieder nach anderen Formen der Lesart und des Zeigens sucht. Einen Umgang mit dem Archiv, der an ein Zitat aus Chris Markers Film Sans Solei erinnert: Ich werde mein ganzes Leben damit verbringen, die Funktion von Erinnerung zu verstehen, die nicht das Gegenteil des Vergessens ist. Eher seine Auskleidung, sein Futter. Wir erinnern uns nicht, wir schreiben Erinnerung genauso um, wie wir Geschichte umschreiben. Wie kann man sich an Durst erinnern?
Zu sehen gab es den Kurzfilm WVLNT (Wavelength For Those Who Don't Have The Time) (2003), eine Antwort von Michael Snow auf den zeitgenössischen Umgang mit seinem Filmklassiker WAVELENGTH (1967), Fragmente der Arbeit „Bilderatlas“ von Peter Zimmermann und Thomas Locher, die ursprünglich für die Projektausstellung „Öffentlich/Privat“ (1995/96) im Kunstraum der Universität Lüneburg entstand und Plakate von Ausstellungen, an denen Diethart Kerbs maßgeblich beteiligt war.