Terroranschläge in Mumbai: "Vom Boomland zum Krisenherd"

Ein Interview mit Dr. Michael Köberlein, Leiter des Indienbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Außen- und Sicherheitspolitik.

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Dr. Michael Köberlein: Wer steckt Ihrer Meinung nach hinter den Anschlägen in Mumbai?

Heinrich-Böll-Stiftung: Es ist noch sehr spekulativ zu sagen, wer hinter den Anschlägen steckt. Es handelt sich auf jeden Fall um eine sehr gut organisierte und bestens ausgestattete Gruppe, die sich dem Dschihad verschrieben hat. Allein in Indien gibt es ein halbes Dutzend solcher Terrorgruppen, die für den Anschlag in Frage kämen. Am Donnerstag, dem 27. November, ging ein erstes Bekennerschreiben an einige indische Nachrichtenagenturen. Absender war eine weitestgehend unbekannte Gruppe namens Deccan Mudschahhedin, die bislang lediglich bei einem Bombenanschlag vor einer Moschee im südindischen Hyderabad aufgefallen ist. Dies ist aber wahrscheinlich nur ein Täuschungsmanöver. Die indische Regierung behauptet, es handele sich um eine „ausländische Terrorgruppe“ aus Pakistan. Die indischen Medien berichten, dass die Terroristen mit Booten aus Karachi nach Mumbai gelangt seien und dort von indischen Partnern unterstützt wurden. Die Handschrift der Terroristen spricht aber dafür, dass es sich um die in Südasien tätige Lakshar e Taiba Gruppe handelt, einer radikalen, militanten Muslimorganisation, die in der Vergangenheit von Pakistan aus Terroranschläge in der Region organisiert hat.

Welche Bedeutung hatten die ausgewählten Anschlagsziele in Mumbai und der Zeitpunkt der Angriffe?

Mumbai wurde sicherlich ausgewählt, weil es das Zentrum der indischen Wirtschaftsmacht und das Musterbeispiel der Erfolgsgeschichte Indiens darstellt. Es ist das finanzielle, industrielle und kulturelle Zentrum Indiens sowie Verkehrsknotenpunkt für den Tourismus. Der Terrorakt trifft Indien hart. Experten sprechen bereits davon, dass der 26. November für Mumbai gleichbedeutend mit dem 11. September für New York ist. Die Terroristen haben das “best mögliche” Ziel, nämlich die beiden Luxushotels, die zahlreiche ausländische Geschäftsleute und Touristen in der Finanzmetropole beherbergen, ausgewählt. In Mumbai werden die meisten Investitionen aus dem Ausland getätigt, hier sitzt die indische Börse und damit das Zentrum der Wirtschaft. Zum zweiten Mal nach den Unruhen 1993 musste die indische Börse ihren Handel einstellen. Dabei leidet die indische Wirtschaft wie andere Ökonomien auch unter der globalen Finanzkrise. Die Wirtschaftswachstumsprognosen für 2009 sind nach den Anschlägen rapide nach unten korrigiert worden. Die Kaufkraft lässt ohnehin schon nach, der Export geht zurück und die Touristenzahlen werden weiter fallen. Indien könnte sich nach diesen Terrorattacken schnell von einem Boomland zu einem kleinen Krisenherd entwickeln, wenn nicht schnellstens die richtigen politischen Maßnahmen getroffen werden.

Markieren die blutigen Anschläge eine neue Form des Terrorismus in Indien?

Die Anschläge stellen sicherlich eine neue Qualität des Terrorismus in Indien dar, der extrem menschenverachtend ist, sich neue, verwundbare Ziele ausgesucht hat und vor allem eine große Anzahl von unschuldigen Opfern forderte. Neu ist die Kombination verschiedener Methoden: Geiselnahme, Straßengefechte, Bombenexplosionen, zielgerichtete und zeitgleich stattfindende Anschläge verschiedener Gruppen, die logistisch gut aufeinander abgestimmt waren, die Bereitschaft, das eigene Leben für diese Aktionen zu opfern und das gezielte, rücksichtslose Töten.

Wie beurteilen Sie die bisherigen Ansätze der indischen Regierungen im Kampf gegen den Terrorismus?

Gewalt, Konflikte und Terroranschläge sind nichts Neues in Indien. Allerdings wurden die inneren Sicherheitsprobleme bislang nicht konsequent genug angegangen bzw. wurde keine gute Ursachenanalyse durchgeführt. Zudem fehlt es dem Land an einem fundierten und kritischen Diskurs, da man die Schuldigen immer woanders sucht – sei es bei den Nachbarn (Pakistan und Bangladesch) oder bei den Minderheiten (Muslimen oder ethnischen Minoritäten). Bislang gab es noch keine überzeugenden Konzepte, wie man die Muslime des Landes besser in den Entwicklungsprozess integrieren bzw. wie man mit den Nachbarn zusammen den grenzüberschreitenden Terrorismus bekämpfen kann.

Einerseits muss man die Geheimdienste und Sicherheitskräfte besser ausbilden, ihre Kapazitäten stärken und neue Strukturen schaffen, um der Komplexität des Terrorproblems zu begegnen. Andererseits muss ein regionales Sicherheitskonzept für Südasien unter Einbeziehung der Nachbarländer entwickelt werden, da das Terrorproblem langfristig nur regional gelöst werden kann. Die Zusammenarbeit der nationalen Sicherheitsorgane (Armee, Polizei, Geheimdienst) muss verbessert sowie regional eine Vertrauensbasis aufgebaut werden, damit die Geheimdienste der südasiatischen Länder künftig kollektiv und lösungsorientiert das Problem angehen können. Auf Ebene der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) gibt es schon sicherheitspolitische Abkommen, die leider nie umgesetzt wurden. Die am 28. November ausgesprochene Einladung des pakistanischen Geheimdienstchefs nach Indien ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Welche Auswirkungen könnten die Anschläge langfristig für Indien haben?

Leider werden die Anschläge in Mumbai schon wieder politisch für die anstehenden Wahlkämpfe ausgeschlachtet. Die Opposition (BJP) wirft der Regierung Unfähigkeit und Versagen vor und betreibt Wahlpropaganda in eigener Sache anstatt nach Lösungen zu suchen. Der Kommunalismus und der religiöse Fundamentalismus werden sicherlich durch die Ereignisse in Mumbai weiter gestärkt. Der Konflikt zwischen Hindus und Muslimen, der eine sehr lange Geschichte hat, wird neuen Nährboden erhalten, der zu neuen Aggressionen führen kann. Nur wenn sich die indische Politik und Gesellschaft konstruktiv und entschieden dieser Entwicklung in den Weg stellen, kann das Konfliktpotenzial in diesem Land abgebaut werden und die Anzahl der Terroranschläge zurück gehen. Die indische Demokratie und seine Institutionen sind jetzt besonders gefordert, damit der Terror und die innere Sicherheit nicht nur als Wahlkampfthema, sondern als Problem für den Rechtsstaat und die Zukunft des Landes angesehen werden. Zudem ist ein informierter, öffentlicher Diskurs notwendig, der ein Bewusstsein für ein friedliches Zusammenleben in der Region schafft und den Menschen den Glauben an die Politik und die innere Sicherheit zurückgibt.

Das Gespräch mit Dr. Michael Köberlein führte Karoline Hutter, Heinrich-Böll-Stiftung.