Das Phänomen Obama - Potenziale und Risiken für die deutsche Politik

4. August 2008
Von Leonard Novy

Von Leonard Novy

Energiepreise, Steuerpolitik, Mindestlöhne – schon heute zeichnen sich die Themen ab, um die es im kommenden Bundestagswahlkampf gehen wird. Und sowohl was Personen als auch was Strukturen angeht, werden bereits die Weichen gestellt. Der Wahlkampf, er hat so gut wie begonnen.

Vorher zieht es Vertreter aller Parteien über den großen Teich, um den US-Wahlkampf zu beobachten. Das ist seit Jahrzehnten gängige Praxis und nicht etwa erst seit bei uns von der vermeintlichen „Amerikanisierung“ der deutschen Politik, einer kampagnenpolitischen Aufrüstung nach dem Vorbild der USA, geredet wird. Doch diesmal ist irgendwie alles anders, was vor allem mit jenem Mann zu tun hat, dem es scheinbar spielerisch gelingt, die Massen für den „Wandel“ zu mobilisieren: Barack Obama.

Das Beispiel Obama: Potenziale für den deutschen Wahlkampf

Doch was bedeutet das Phänomen Obama wirklich für die deutsche Politik? Was ist übertragbar, was nicht? Und welche Trends werden den deutschen Bundestagswahlkampf 2009 prägen?

Der Erfolg Obamas hat viele Facetten. Er sagt nicht nur etwas über das vielleicht größte Polittalent der letzten Jahrzehnte aus, sondern auch über den Zustand der US-Politik und die Bedürfnisse der Massen, die ihm – nicht nur in den USA – folgen. Schon hier wird deutlich, dass wir es mit einem singulären Phänomen zu tun haben, das sich weder als Ganzes noch in Teilen wiederholen oder kopieren lässt. Hubertus -„yes we can“- Heil hat das auf dem Nürnberger Zukunftskonvent der SPD leidvoll erfahren müssen.

Allen Unterschieden zum Trotz birgt der Wahlkampf Obamas schon jetzt ein gewisses Lernpotenzial für die deutsche Politik. Man erinnere sich: Bis vor kurzem galt der US-Präsidentschaftswahlkampf in erster Linie als Werbeschlacht, die Heerscharen von Managern, Meinungsforschern und Marketingexperten Arbeit gab, vor allem aber die in Europa verbreitete Kritik zu bestätigen schien, dass die Entwicklung der US-Demokratie seit Tocqueville im Wesentlichen eine Verfallsgeschichte sei. Die Politik habe sich gänzlich dem Diktat der Medien und des Marketings unterworfen, so die Kritik.

Obama und die neue Rücksicht auf die Wählerschaft

Barack Obama hat dies geändert. Er und (wie auch Ségolène Royal im Jahr 2007) hat gezeigt, wie wichtig es ist, potenzielle Anhänger frühzeitig und nachhaltig zu aktivieren, wie sich Gefühlen der Entfremdung begegnen lassen und wie aus Apathie Teilhabe werden kann. Er steht für eine soziale Bewegung, ein Projekt, das die Chance der Identifikation und Teilhabe bietet und jedem Einzelnen mittels eigens auf ihn zugeschnittener Botschaften Motive dafür gibt, genau dies zu tun: Teil des Projekts zu werden.

Obamas Erfolg, er ist auch Chiffre für die veränderten Partizipationsansprüche und -muster der Bevölkerung, denen die Politik auf breiter Front Rechnung tragen muss. Obwohl – man könnte aber auch sagen: gerade weil – sie es als Mitglieder- und Programmparteien wesentlich schwerer haben als ihre US-Pendants, gilt dies auch für die deutschen Parteien.

Angesichts ihrer nachlassenden gesellschaftlichen Bindungskraft, wie sie sich in schwindenden Mitgliederzahlen und volatilen Wahlergebnissen ausdrückt, sind für sie belastbare Verbindungen, wie sie aus dialogorientierter Kommunikation und Teilhabe entstehen, essenziell.

Dies setzt die Fähigkeit voraus, potenzielle Wählergruppen mit eigens auf sie zugeschnittenen Informationen und „Mitmach-Angeboten“ ansprechen zu können. Was das „Targeting“, die Segmentierung der Wählerschaft in verschiedene Zielgruppen und ihre direkte Ansprache durch die Parteien, angeht, sind uns die USA weit voraus. Es wird auch dieses Jahr entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen sein.

Zwar bemühen sich auch deutsche Parteien verstärkt, Informationen über ihre Anhänger zu sammeln. Doch sind dem Aufbau der dafür erforderlichen Datenbanken hierzulande enge datenschutzrechtliche Grenzen gesetzt. Vom „gläsernen Wähler“ sind wir zum Glück weit entfernt. Das ändert nichts daran, dass die Parteien differenzierter und dialogorientierter kommunizieren müssen. Die Erosion der politisch-weltanschaulichen Bindungskraft der Parteien auf der einen und die Zunahme von Mitsprache- und Beteiligungsansprüchen auf der anderen Seite haben die Kommunikations¬bedingungen grundlegend verändert.

Das Internet: Einleitung zum Zuhören

Hier bietet das Internet mit vielen neuen Kommunikationsräumen nach wie vor Potenzial: Als Kanal für flexibilisierte Beteiligungsformen kommt es den veränderten Wertorientierungen einer Gesellschaft entgegen, die sich zunehmend außerhalb traditioneller politischer Strukturen organisiert und statt der Gemeinschaftserfahrung „Ortsverein“ flexible und themenorientierte Gestaltungsmöglichkeiten sucht. Mit Blogs, speziellen Themenseiten und innovativen Werbeformen hat es sich zwar auch hierzulande zum selbstverständlichen Bestandteil der Kampagnenführung entwickelt.

Doch wird im Internet weitaus horizontaler kommuniziert, als es den Parteistrategen bislang recht ist. Nach wie vor konzentrieren sich die Aktivitäten der Parteien auf zentral geführte Portale, Kandidaten- oder Themen-Websites. Die Unmengen von Internet-Inhalten, die zwar jeder für sich genommen kaum Quote erzielen, in ihrer Masse aber den Löwenanteil der Internetaufmerksamkeit auf sich ziehen (der Wired-Autor Chris Anderson prägte dafür den Begriff „Long Tail“), bleiben unerreicht.

Das hat auch mit der Angst vor Kontrollverlust zu tun. Wer nicht fest gebunden ist, kann seine Meinung auch kurzfristig ändern. Schon hier wird deutlich, dass das Netz sowohl eine Ressource als auch ein Risiko für politische Organisationen darstellt. Die alten Top-Down-Konzepte der politischen Kommunikation verlieren an Wirksamkeit, und die Politik ist aufgerufen, die Vermittlung von Politik tatsächlich um den Aspekt des Zuhörens zu erweitern.

Auf die Sprache kommt es an

Essenziell in diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt die gewählte Sprache: „It’s not what you say, it is what people hear!” Damit formulierte Frank Luntz, der erfolgreiche Wortschmied der Republikaner, eine Grundregel politischer Kommunikation, die gerade von Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums lange vernachlässigt wurde. Denn so wie Politik nicht als Vollzug sachlogischer Gegebenheiten denkbar ist, lässt sie sich auch nicht abstrakt oder mit dem Verweis auf vermeintlich rationale oder moralische Notwendigkeiten kommunizieren. Wirksame Kommunikation muss die kognitive, normative und emotionale Dimension von Sprache mitberücksichtigen, muss ansprechend und attraktiv sein. Gelungenes „Framing“ zeichnet sich dadurch aus, dass die eigenen politischen Anliegen sprachlich mit gesellschaftlichen Sinn- und Wertezusammenhängen verknüpft werden und ein konkretes Nutzenversprechen für die Adressaten mitbringen. Als Willy Brandt von „Mehr Demokratie wagen“ sprach, konnten seine Zuhörer damit viele persönliche Errungenschaften assoziieren, etwa bessere Mitbestimmung in den Ortsverbänden der Partei oder mehr Mitreden am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz.

1972 riefen die Architekten Robert Venturi, Denis Scott Brown und Steven Izenour mit ihrem Buch „Learning from Las Vegas“ ihre Kollegen dazu auf, statt über die ubiquitäre Freizeit- und Stimmungsarchitektur die Nase zu rümpfen, die Mechanismen hinter dem Erfolg einer Architektur zu verstehen, die die Bedürfnisse der Menschen aufgreift. Das Buch entwickelte sich rasch zum Manifest der architektonischen Postmoderne, enthält aber auch Lernpotenzial für die sich gesellschaftlichen Realitäten zusehends entfremdenden  politischen Eliten. Denn um wahrnehmbar (und wählbar) zu bleiben, sind auch politische Organisationen aufgerufen, in ihrer Sprache aber auch in ihrer politischen Ästhetik den Sehnsüchten, den Wünschen und Träumen der Menschen wieder Raum zu geben.

Darauf verweist Stephen Duncombe in seinem Buch „Dreampolitik. Re-Imagining Progressive Politics in an Age of Fantasy“ und zitiert den kreativen Protest von sozialen Bewegungen wie den „Rebel Clowns“ auf den letzten G8-Gipfeln oder der regierungskritischen „Billionairs for Bush“ in den USA. Vieles ist nicht übertragbar, doch von Las Vegas Lernen bedeutet auch nicht, dass man jedem Trend hinterher rennen oder die damit verbundenen Werte kritiklos übernehmen müsste. Doch kennen sollte man sie, um gesellschaftlich anschlussfähig zu sein. Wer Negation oder Stillstand zu Alternativen erklärt, macht sich überflüssig.

Professionalisierung der Politikvermittlung

So wie Obama– allem Charisma und Anschein von Authentizität zum Trotz – ein Lehrstück perfekter Politikinszenierung ist, so wäre es eine Illusion zu glauben, dies funktioniere ohne professionelles Kommunikationsmanagement. Das mediale Interesse an „Spin Doktoren“ mag erlahmt sein, doch um heute kommunikations- und gestaltungsfähig zu bleiben, ist für politische Organisationen der Rekurs auf moderne Kommunikationsmethoden unerlässlich.

Die Professionalisierung politischer Vermittlungsarbeit und die verstärkte Einbindung externer Berater haben zuletzt gerade bei den als soziale Bewegung gestarteten Grünen innerparteiliche Widerstände ausgelöst und zu einer gefühlten Kluft zwischen den „Politprofis“ an der Spitze und der (ehrenamtlichen) Basis geführt. „Backstage“-Politik und „Front Stage“-Politik scheinen immer weiter auseinander zu klaffen. Frustrationen entstehen.

Doch ein zeitgemäßes, der gesellschaftlichen Differenzierung und Mediatisierung der Politik angemessenes Kommunikationsmanagement muss die Glaubwürdigkeit der Politik nicht kompromittieren. Es geht nicht um Spin, rhetorische Effekthascherei und mediale Inszenierung sondern darum, durch konsistente und nachvollziehbare Kommunikation und Dialog öffentliche Unterstützung für politische Ziele zu generieren und kommunikationsfähig zu bleiben.  Die Herausforderung im Wahlkampf und darüber hinaus besteht darin, die Authentizität des politischen Personals und des politischen Prozesses zu wahren und mit medientauglichen und dialogorientierten Kommunikationsstrategien in Einklang zu bringen.

In einem Politikverständnis, in dem Kommunikation nicht auf Kosten der Inhalte geht, besteht das – freilich erst im Fall seiner Wahl – einlösbare Versprechen Barack Obamas.

Dr. Leonard Novy, Projektleiter im Bereich Governance / politischer Steuerung der Bertelsmann Stiftung; Studium der Geschichte, Politik, Publizistik in Berlin, Masters in Philosophy und Promotion zur europäischen Verfassungsdebatte an der University of Cambridge; 2004-05 Fellow am Government Department der Harvard University; freier Autor u.a. für WDR, Deutschlandfunk und Tagesspiegel.

Außerdem:

Lesen Sie den Beitrag Leonard Novys zur Rolle der Politikberatung im Wahljahr 2009 unter der besonderen Berücksichtigung von Genderaspekten.